Kleiner Bruder

Optisch sind der Mercedes EQS und EQE ­durchaus vergleichbar. Und auch bei den Problemzonen zeigen sich – wenig überraschend – gewisse Gemeinsamkeiten.

Die E-Klasse gehört traditionell zu den Erfolgsmodellen im Hause Mercedes. Die Oberklasselimousine bietet viel Platz und Luxus ohne den Pomp der S-Klasse. Noch in diesem Jahr soll die sechste Generation auf den Markt kommen, die Verkaufszahlen der in die Jahre gekommenen Baureihe 213 gingen deshalb zuletzt deutlich zurück. Und mit dem EQE steht jetzt auch noch das elektrische Pendant bereit. Anders als die E-Klasse mit ihren zahlreichen Karosserieformen gibt es den EQE aber ausschliesslich als Limousine. Und die ist dem grösseren EQS fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Front mit Scheinwerfern und angedeutetem Kühlergrill ist fast eins zu eins vom grossen Bruder übernommen, die geschwungene Dachlinie ebenfalls. Erst am Hinterteil zeigt sich augenscheinlich der Unterschied. Da gibt es beim EQE ein Stummelheck. Und anders als beim EQS öffnet sich der Heckdeckel nicht zusammen mit der Heckscheibe. Die Öffnung ist somit nicht riesig, genauso wie auch der dahinter liegende Kofferraum nicht. Dessen Volumen von 430 Litern ist knapp unterdurchschnittlich in seinem Segment, zumal die Limousine in der Länge doch nur knapp unter fünf Metern misst. Immerhin lässt sich die Rückbank geteilt abklappen. Das Platzangebot für die Passagiere ist aber ausreichend, auch wenn in der zweiten Reihe die Kopffreiheit nicht mehr so grosszügig ist.

Aerodynamischer Vorteil

Es ist eine eigenwillige Form, die Mercedes den EQS und EQE verpasst hat. Aber sie hat einen grossen Nutzen, nämlich die Aerodynamik. So beträgt der Luftwiderstandsbeiwert des EQE bloss 0.22 – für ein Elektroauto natürlich entscheidend für einen tiefen Verbrauch und eine grosse Reichweite. Gegenüber dem EQS ist der Radstand des EQE um 90 Millimeter kürzer, entsprechend mussten auch bei der Batterie zwei Modulreihen eingespart werden, damit sie weiterhin zwischen die Achsen passt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Batteriekapazität deswegen gering ausfällt, im Gegenteil. 90.6 kWh fasst der Elektronenspeicher des EQE, was im Idealfall für knapp 600 Kilometer WLTP-Reichweite gut ist. Bei den Varianten von AMG fällt der Verbrauch höher und die Reichweite damit kleiner aus, da sind es bloss 534 Kilometer nach WLTP. In der Realität und bei winterkalten Temperaturen erreichte der Testwagen rund 350 Kilometer.

Unser Testwagen ist der AMG EQE 43 4matic, gewissermassen die Einstiegsvariante von AMG. Mit einer Leistung von 350 kW (476 PS) und einem Drehmoment von 858 Nm ist auch das Basismodell schon ganz ordentlich motorisiert. Dafür sorgen jeweils ein permanenterregter Synchronmotor an Vorder- und Hinterachse. Bis an den Modellen die Axialfluxmotoren vom kürzlich einverleibten Zulieferer Yasa zum Einsatz kommen, dauert es noch eine Weile. 2025 soll die komplett neue Elektroarchitektur AMG-EA bereit sein. Die beiden Motoren sorgen für hervorragenden Anzug, sodass die Limousine trotz 2.5 Tonnen Leergewicht in 4.2 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 beschleunigt. Die vier 21-Zoll-Räder krallen sich trotz Winterreifen mit beeindruckender Kraft in den Asphalt, und der Antritt aus dem Stand ist beeindruckend. Im Sport-Modus wird die Beschleunigung begleitet von einem Brummen aus den Lautsprechern, das zwar nicht mit dem Brüllen eines V8 mithalten kann, wie man es von AMG gewohnt ist – oder war –, das aber deutlich attraktiver und sportlicher klingt als die synthetischen Klänge der Mitbewerber.

Und dann ist da noch der übliche Kritikpunkt bei allen Elektroautos, auch bei den sportlichen: das Gewicht. Auch im EQE lassen sich die 2.5 Tonnen nicht komplett wegdiskutieren, aber sie fallen eben auch kaum mehr störend auf. Was AMG am Fahrwerk geschraubt und an der Antriebssoftware umprogrammiert hat, ist ganz einfach beeindruckend. Karosseriebewegungen sind dem EQE 43 so gut wie fremd, auch bei zügiger Gangart. Das Luftfahrwerk hält jegliches Wanken in sehr engen Grenzen. Die Elektromotoren rekuperieren bereits mit bis zu 260 kW Bremsleistung, und falls das noch nicht ausreicht, verzögern die optionalen Keramikbremsen mit absurder Wucht. Die Drehmomentregelung des Allradantriebs drückt das Auto unterstützt von der im AMG serienmässigen Hinterachslenkung förmlich in den Bogen hinein. Und falls der Fahrer einmal nicht mehr hinterherkommen sollte mit der Koordination von Füssen und Händen, regelt das ESP den AMG zielgenau durch die Kurve. Es sind Ausnahmesituationen, in denen der EQE so durch die Kurven gejagt wird, in aller Regel wird er wohl – auch in der Version von AMG – als angenehme Reiselimousine zum Einsatz kommen.

Denn auch das kann er dank des sehr ausgefeilten, adaptiven Dämpfersystems problemlos. Im Komfort-Modus ist das Fahrwerk: komfortabel, sehr komfortabel. Auch die Lärmdämmung ist vorbildlich, es dringen kaum Windgeräusche in den Innenraum, bloss leichte Abrollgeräusche der (Winter-)Reifen sind wahrnehmbar. Dazu kommt die umfangreiche Ausstattung an Assistenzsystemen mit automatisiertem Spurwechsel auf der Autobahn und adaptiver Geschwindigkeitsanpassung an den Strassenverlauf und an die programmierte Route. Hier beweisen die Ingenieure, dass Mercedes alles beherrscht, was Software ist. Und auch alles herausholt – selbst wenn es den Fahrer bisweilen überfordert.

Komplizierte Bedienung

Mit den unzähligen Touchknöpfen am Lenkrad, mit denen das Kombiinstrument und das Infotainment bedient werden, und zwei zusätzlichen Satellitenknöpfen, auf die sich noch einmal verschiedene Funktionen programmieren lassen, wird das alles eigentlich zu viel. Auch wenn das MBUX-System zweifelsfrei zum Besten gehört, was derzeit auf dem Markt ist, wäre es nicht überraschend, wenn der eine oder andere damit überfordert ist. Mercedes hat aber mit der Sprachbedienung eine Abhilfe gegen zu komplizierte Menüs gefunden. Diese versteht Anweisungen mit hoher Treffsicherheit. Und wenn die virtuelle Assistentin gelegentlich antwortet: «Tut mir leid, Sie haben dieses Feature nicht abonniert», dann weiss man, dass man in der schönen neuen Mercedes-­Welt angekommen ist. Nicht ganz neu, aber trotzdem schön und vor allem praktisch sind die Augmented-Reality-Darstellung der Navigationsanweisungen, die mit dem Kamerabild überlagert werden, und die Kameraeinblendung auf dem Display, wenn man an einer roten Ampel steht, dank der sich das Nach-oben-Schielen erübrigt.

Dass das plastiklastige Interieur der Elektromodelle von Mercedes nicht ganz auf dem Niveau ist, das man sich sonst aus Stuttgart gewohnt ist, ist nichts Neues. Mit dem Sonderprogramm aus Affalterbach wird es aber punktuell deutlich besser. Die Sportsitze, die schönen Ziernähte und die geprägten Logos lassen nichts zu wünschen übrig. In unserem Testwagen ist zudem der optionale Hyperscreen verbaut, der zwar immer wieder imposant aussieht, dessen Nutzwert aber doch beschränkt ist. Er ist eine Option, die man sich leisten wollen muss, zwingend aber ist sie nicht. Zumal der serienmässige Infotainmentbildschirm auch schon gross genug ist, damit alle relevanten Funktionen, auch die Bedienung der Klimaanlage, auf der ersten Ebene Platz finden. Ein Plus für alle, die die Sprachbedienung nicht mögen.

Ohnehin muss man sich am EQE noch einiges leisten wollen, denn die Ausstattungsliste ist lang. Kostet der Basis-EQE mit 180 kW (245 PS) und Hinterradantrieb noch sozialverträgliche 83 200 Franken, sind es für den günstigsten AMG bereits 121 100 Franken. Weitere 11 300 Franken kostet das Premium-Plus-Paket, das von den Assistenzsystemen bis zum Head-up-Display alles Notwendige enthält. Den Hyperscreen lässt sich Mercedes mit 8971 Franken bezahlen, die Keramikbremse ist mit 5233 Franken schon fast ein Schnäppchen im Vergleich dazu. So bringt es unser Testwagen am Ende auf 156 926 Franken. Serienmässig dabei ist das hervorragende Matrix-Laserlicht. So können die Scheinwerfer des EQE nicht nur den Lichtkegel passgenau um die übrigen Verkehrsteilnehmer legen, sondern auch Warnhinweise vor dem Auto auf den Boden projizieren. Wenn die Unterschiede bei den Antrieben immer geringer werden, brauchen die Hersteller eben eine anderes Feld, um sich von der Konkurrenz abzuheben. 

Testergebnis

Gesamtnote 77.5/100

Antrieb

Mit 350 kW (476 PS) ist der AMG EQE 43 die schwächste Variante aus Affalterbach. Und trotzdem sind die Fahrleistungen beeindruckend: Der Spurt von 0 bis 100 km/h ist in 4.2 Sekunden erledigt.

Fahrwerk

Die adaptiven Dämpfer sorgen nicht nur für Kurvendynamik, sondern auch für hohen Komfort, sodass sich auch die AMG-Variante des EQE als Reiselimousine eignet.

Innenraum

Stellenweise ist Plastik etwas zu grosszügig eingesetzt, gerade im Bereich der Mittelkonsole. Aber die Kur bei AMG beschert dem EQE ein äusserst hübsches Interieur.

Sicherheit

Mehr geht nicht! Im EQE gibt es alles, was an Sicherheitssystemen heute zu haben ist, inklusive Kollisionswarnung, die vor dem Fahrzeug auf die Fahrbahn projiziert wird.

Budget

Ein AMG ist nie ein Auto fürs schmale Budget, da bildet auch der EQE 43 keine Ausnahme. Störend ist auch weniger der Preis des Fahrzeuges, sondern die Aufpreispolitik.

Fazit 

Viel auszusetzen gibt es am AMG EQE 43 nicht ausser dem Platzangebot und dem Kofferraumvolumen. Und natürlich dem stolzen Preis. Aber ­dagegen gibt es eine einfache Abhilfe: nicht die Version von AMG kaufen, sondern einen günstigeren und etwas schwächeren Mercedes EQE.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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