Wer die Strassen-Verkehrsdurchsagen am Radio hört, erfährt es jeden Tag aufs Neue. Stau, Stau und nochmals Stau auf den grossen Autobahnabschnitten, entweder wegen Überlastung, Unfällen oder Baustellen. Aber auch in den Städten sieht es nicht viel besser aus. «Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu!», hat schon Heinrich Heine gedichtet, freilich in einem anderen Zusammenhang. Mit anderen Worten: Der Verkehr wächst und wächst. Nach Angaben des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) nimmt der Personenverkehr bis 2040 im Vergleich zu 2010 um 25 Prozent und der Güterverkehr um 37 Prozent zu. Im Jahr 2021 wurden insgesamt rund 25 000 Staustunden auf Autobahnen registriert. Das bedeutet logischerweise, dass die Strasseninfrastruktur immer stärker belastet wird. Ganz abgesehen von den Kosten für die Volkswirtschaft, die für das Jahr 2019 über drei Milliarden Franken betrugen.
Auch auf der Schiene nimmt der Verkehr zu. 2021 wurden im Güterverkehr auf dem Schweizer Schienennetz Transportleistungen von insgesamt 10.4 Milliarden Netto-Tonnenkilometern erbracht. Dies entspricht dem höchsten Stand seit 2016. Im Vergleich zu 2020 beträgt die Zunahme 6.2 Prozent, und verglichen mit 2019, dem Jahr vor der Pandemie, sind es drei Prozent. Abhilfe kann ein punktueller Ausbau der Strasse und des öffentlichen Verkehrs schaffen. Finanziert wird dieser über den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) sowie den Bahninfrastrukturfonds (BIF).
Studieren, was machbar ist
Neben dem punktuellen Ausbau der Infrastruktur sieht der Bund Mobility-Pricing als Chance für ein effizientes Verkehrssystem. Doch zuerst sollen Machbarkeitsstudien Mobility-Pricing-Projekte konkretisieren. Zwar kann Mobility-Pricing nach Angaben des Bundesamts für Strassen (Astra) dazu beitragen, die Strassen und den öffentlichen Verkehr zu entlasten, wie eine Wirkungsanalyse in der Region Zug gezeigt hat. Aber ob das in der Praxis dann auch funktioniert, wird sich weisen.
Vorerst geht es jetzt um sogenannte Machbarkeitsstudien. In den Städten Biel BE, Frauenfeld und Genf ist man nun daran, solche Studien vorzubereiten. Städte wie Zürich oder Bern beteiligen sich nicht an solchen Untersuchungen. Denkbar wäre, dass sie möglicherweise nicht bereit waren, in den Studien auch den öffentlichen Verkehr einzubeziehen. Das war nämlich eine Bedingung des Bundesrats. Von Basel ist bekannt, dass sich deren Regierung einzig für ein Road-Pricing ausgesprochen hat.
Noch ein langer Weg
Raffaele Landi, Abteilungsleiter Planung und Verkehr beim Tiefbauamt des Kantons Thurgau, ortet noch einen weiten Weg bis zum Ziel. Es brauche anhand einer Detailstudie eine vertiefte Abklärung sowie eine gesetzliche Grundlage. Bis Ende 2023 müsse dann die Machbarkeitsstudie dem Astra abgeliefert werden. Einen Zeithorizont anzugeben, darauf mochte sich Landi nicht einlassen. Zu gewagt dürfte eine Prognose sein.
Als grössere Stadt mit rund 200 000 Einwohnern erstellt Genf eine Machbarkeitsstudie. Das Pilotprojekt sieht nach Angaben von Roland Godel, dem Verantwortlichen für externe Kommunikation beim Infrastrukturdepartement des Kantons Genf, die Einführung eines Preisgürtels (Cordon-Pricing, Citymaut) für den motorisierten Individualverkehr (MIV) vor. Der Tarif für die Ein- und Ausfahrt aus dem Gürtel soll zu Randzeiten einen Franken und zu Spitzenzeiten rund 2.50 Franken betragen, wobei diese Abgabensätze laut Godel nicht in Stein gemeisselt sind. Änderungen sind vorstellbar. Was den öffentlichen Verkehr betrifft, soll ein System differenzierter Preise evaluiert werden. Damit sollen die Nutzung in Spitzenzeiten geglättet und der ÖV für Gelegenheitsnutzer attraktiver gemacht werden. Das würde auf reduzierte Fahrpreise in den schwächeren Verkehrszeiten hinauslaufen, wie es heute schon die SBB mit Sparbilletten praktizieren. Im Weiteren, erklärt Godel, denke man darüber nach, Gewerbetreibenden oder Personen mit eingeschränkter Mobilität sowie Anwohnern Rabatte zu gewähren.
Mobility-Pricing oder eher Road-Pricing?
Während in Frauenfeld und in Genf beide Verkehrsträger in die Prüfung einbezogen werden, zeigt sich in Biel ein anderes Bild. Zwar soll auch hier untersucht werden, wie ein Mobility-Pricing auszugestalten wäre. Aber in erster Linie soll die Attraktivität des Agglomerationskerns gefördert werden, indem die Belastung durch den MIV auf dem gesamten lokalen Netz reduziert wird. Es soll eine modale Verlagerung der Fahrten mit kurzen Wegen aus der Agglomeration in die Innenstadt vom MIV auf den ÖV sowie den Fuss- und Veloverkehr realisiert werden. Der vorgesehene Perimeter entspricht dem Stadtzentrum, alle Transitwege durch die Innenstadt wären davon betroffen. Diese soll weiterhin ohne Kostenfolge erreichbar sein, wenn direkt eine konzentrierte Parkierungsanlage angesteuert und damit der Sucherverkehr reduziert wird. Für den MIV, der in die Innenstadt hinein- oder durch sie hindurchfährt, wird eine Tarifgestaltung geprüft, die zwischen Spitzen- und Randzeiten differiert, während ausserhalb der Stosszeiten eine Vergünstigung der ÖV-Tarife in Betracht gezogen wird. Dabei bleibt der Spitzenzeitentarif unverändert. Das sieht, mit Verlaub, eher nach einem Road-Pricing aus als nach einem Mobility-Pricing. Immerhin sollen Ausnahmen für das Gewerbe und die Anwohner geprüft werden.
Zu diesen drei Machbarkeitsstudien kommen zwei weitere hinzu. Die Kantone Aargau und Zug möchten Projekte mit freiwilliger Teilnahme durchführen und dabei die Machbarkeit prüfen. Bei diesen Projekten ist der Bund in Zusammenarbeit mit den beiden Kantonen federführend. Schliesslich klären die SBB in einer eigenen Machbarkeitsstudie ab, wie das Tarifmodell optimal gestaltet werden kann, um mit differenzierten Tarifen die Verkehrsspitzen brechen zu können.
Unterschiedliche Auffassungen
Von grossem Interesse sind die Versuche in den vorerwähnten drei Städten, weil die Machbarkeitsstudien für beide Verkehrsträger konkreter sind. Die grosse Frage bleibt, ob Mobility-Pricing der entscheidende Befreiungsschlag ist, um einen besseren Verkehrsfluss zu gewährleisten. Kay Axhausen, Professor am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich, bezeichnet Mobility-Pricing als «die Möglichkeit, die Externalitäten einer Fahrt in Rechnung zu stellen und damit den Reisenden zu ermöglichen, sie in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen». Dabei stelle die Berechnung dieser durch den Verkehr entstehenden, aber bisher nicht beim Nutzer anfallenden Kosten eine Herausforderung dar. Axhausen: «Mobility-Pricing ist dort sinnvoll, wo es Externalitäten gibt, das heisst auch im ÖV.»
Der Touring Club Schweiz (TCS) dagegen lehnt eine Steuerung der Mobilität über den Preis ab, da dies sozial ungerecht sei. Ebenso weist der TCS Modelle zurück, die versuchen, die Verkehrsspitzen mit höheren Tarifen zu Spitzenzeiten zu brechen. Diese Systeme betrachtet er als unsozial. Sie träfen vor allem diejenigen, die am wenigsten Spielraum bei den Arbeitszeiten hätten. Anreize und Massnahmen zur Entlastung der Infrastruktur wie flexiblere Büro- und Schulzeiten und der Ausbau der Telearbeit seien dagegen Massnahmen, mit denen die Spitzen bei der öffentlichen und privaten Nutzung der Verkehrsmittel stark reduziert werden könnten. Auch Axhausen sieht verschiedene Möglichkeiten für die Reisenden, die Verkehrsspitzen zu umgehen. Etwa durch die Vorverlegung der Abfahrtszeit, durch die Nutzung anderer Verkehrsmittel, durch Fahrgemeinschaften oder durch einen Wohnortswechsel. Wie die Benutzer auf solche Vorschläge reagieren, ist indes die grosse Unbekannte.
Wann Mobility-Pricing eingeführt werden soll, steht in den Sternen. Die Widerstände sind jedenfalls nicht zu unterschätzen. Bis zur Inkraftsetzung dürften noch Jahre vergehen. Und nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass die Finanzierung der Strasseninfrastruktur auf eine neue Grundlage gestellt werden muss. Denn die Mineralölsteuereinnahmen gehen wegen der Zunahme der Zahl der Elektrofahrzeuge, die bis jetzt von der Mineralölsteuer befreit sind, zurück.