Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die Sicherheit im Strassenverkehr sterben weltweit jährlich immer noch 1.3 Millionen Menschen an den Folgen von Verkehrsunfällen. Die Zahl der Menschen, die schwere Verletzungen erleiden, wird auf 20 bis 50 Millionen geschätzt. Die Strassenverkehrssicherheit ist also nach wie vor verbesserungswürdig. Das ist auch die Meinung von Mercedes-Benz, schliesslich ist die Marke ein echter Pionier auf diesem Gebiet und hat als einer der ersten Hersteller ABS, ESP und Airbags serienmässig in seine Produkte eingebaut. Jetzt hat man sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten auf den europäischen Strassen bis 2050 auf null zu senken: «Mercedes-Benz arbeitet mit seinen Sicherheits- und Assistenzsystemen aktiv am Ziel der Vision Zero. Dieses Ziel ist die klare Vision, bis 2050 null Verkehrstote zu haben und die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten im Zeitraum von 2020 bis 2030 zu halbieren», erklärte Mercedes im Oktober in einer Pressemitteilung.
War das ein reiner Marketing-Stunt, oder macht Mercedes ernst? Julia Hinners, Ingenieurin für Fahrzeugsicherheit bei Mercedes-Benz, bestätigt: «Das ist ein sehr konkretes Ziel, das nicht nur die Passagiere in unseren Autos betrifft, sondern auch verletzliche Verkehrsteilnehmer wie Fussgänger, Radfahrer, Motorradfahrer und Nutzer von Elektroscootern». Aber ist das Ziel nicht allzu hoch angesetzt? Noch einmal Julia Hinners: «Nein, eigentlich nicht. In den 1970er-Jahren gab es allein auf deutschen Strassen mehr als 20’000 Tote pro Jahr. Heute sind es weniger als 3000! Das zeigt, dass der Trend in die richtige Richtung geht. In den vergangenen 50 Jahren haben wir vor allem an passiven Sicherheitssystemen gearbeitet, die die Fahrzeuginsassen bei einem Unfall schützen. Jetzt konzentrieren wir uns auch auf aktive Sicherheitssysteme, wie z. B. Fahrassistenten». Diese sorgen dafür, dass Unfälle erst gar nicht entstehen sollen. Die Zahl der Assistenzsysteme – bis zu 40 sind es in modernen Autos bereits – soll noch weiter ausgebaut werden. Und die Systeme sollen noch besser werden. Lidar, das in den oberen Segmenten von Mercedes bereits zum Einsatz kommt, soll zukünftig auch in den unteren Klassen für mehr Sicherheit sorgen.
Der EQS verrät einiges
Natürlich erklärt all dies nicht genau, wie der Mercedes technisch vorgehen will, um seine Ziele zu erreichen. Und natürlich sollte man sich nicht zu sehr darauf verlassen, dass Ingenieure Betriebsgeheimnisse preisgeben, zumal es sehr schwierig ist, genau vorherzusagen, welche technischen Innovationen in den nächsten drei Jahrzehnten erfunden werden. Es ist jedoch möglich, sie zu erraten. Ein interessanter Anhaltspunkt dafür ist das Vorzeigemodell der Marke, der EQS. Eine logische Überlegung: Da Autos mit Verbrennungsmotoren allem Anschein nach ab 2035 in Europa nicht mehr zugelassen werden, werden Elektrofahrzeuge in den nächsten zehn Jahren immer grössere Verbreitung finden. Der EQS bietet somit als Leitstern einen guten Ausblick auf das, was kommt.
Auch wenn Elektroautos im Bezug auf die Sicherheit einige spezifische, neue Gefahren bergen, unterscheiden sie sich nicht grundsätzlich von denjenigen mit Verbrennungsmotoren. «Zunächst einmal muss gesagt werden, dass es in Bezug auf die Sicherheit der Insassen keinen Unterschied zwischen einem Elektroauto und einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor gibt. Beide sind gleichermassen sicher», ist Julia Hinners überzeugt. Bloss für Hochvoltkomponenten sind besondere Vorkehrungen nötig: «Um die Gefahr eines Stromschlags oder Kurzschlusses zu vermeiden, haben wir ein mehrstufiges Sicherheitskonzept entwickelt. So wurden kritische Hochspannungskomponenten in der Fahrzeugmitte platziert, wo sie weniger Gefahr laufen, Schlägen ausgesetzt zu werden. Dies gilt zum Beispiel für einige Hochspannungskabel, die ebenfalls noch von einem dicken, hochsicheren Mantel umgeben sind.» Die Hochspannungskomponenten sind ausserdem mit pyrotechnischen Sicherungen ausgestattet, die das System automatisch abschalten können, beispielsweise wenn ein potenziell gefährlicher Zusammenstoss droht.
Die Entwicklung weiter vorantreiben
Neben diesen neuartigen Lösungen werden auch bewährte Technologien weiterentwickelt. Dies gilt insbesondere für die selbsttragende Karosserie, die sich aus verschiedenen Materialien mit verschiedenen Verformungseigenschaften zusammensetzt. So findet bei einem Aufprall die Verformung kontrolliert statt, und die Energie wird am richtigen Ort abgebaut. Diese Methode ist nicht revolutionär, aber sie dürfte sich in Zukunft noch weiterentwickeln, da immer mehr unterschiedliche Materialien zum Einsatz kommen. Bereits beim EQS gibt es neben verschiedenen Stählen mit hoher und sehr hoher Elastizität auch extrudierte Aluminiumprofile und gegossene Aluminiumteile, die mithilfe einer Druckgussmaschine in eine Stahlform oder -matrize gespritzt werden.
Und dabei sprechen wir erst von der Karosserie. Im Fahrgastraum wird die Anzahl Airbags wohl noch weiter zunehmen. Neben Front-, Seiten-, Fenster- und Knieairbags wird es in Zukunft auch immer häufiger Gurtairbags geben. Diese können die Fläche des Sicherheitsgurts vergrössern und so die Kraft des Aufpralls besser auf den Oberkörper der Passagiere verteilen und damit die Verletzungsgefahr verringern.
«Die Philosophie von Mercedes-Benz ist es, Sicherheitssysteme zu entwickeln, die nicht nur die verschiedenen Tests bestehen, sondern vor allem auch in der Praxis gut funktionieren. Aus diesem Grund untersucht die Mercedes-Benz-Unfallforschung seit mehr als 50 Jahren reale Crashs», erklärt Hinners. Seit seiner Gründung im Jahr 1969 hat man dort bereits über 5000 reale Kollisionen analysiert und rekonstruiert. Aus den Resultaten werden wertvolle Informationen gewonnen, die den Ingenieuren helfen zu verstehen, wie Unfälle ablaufen, wie sich Kollisionen auf die Insassen auswirken, aber auch wie sie hätten vermieden werden können.
Da die Unfallmuster weltweit unterschiedlich sind, muss sich Mercedes-Benz immer wieder anpassen. So hat die Unfallforschung beispielsweise auch Teams in China und Indien eingerichtet, die auf die lokalen Eigenheiten des Strassenverkehrs und damit der Unfälle eingehen. Diese Teams stehen im konstanten Austausch mit den Experten in Sindelfingen bei Stuttgart, wo Mercedes nicht nur die Unfallforschung, sondern auch die Fahrzeugentwicklung angesiedelt hat.
Mercedes hat grosse Unterstützung
Im Streben nach ganzheitlicher Sicherheit erklärt Mercedes-Benz, dass der Konzern nicht auf sich allein gestellt sei: «Die deutsche Bundesregierung hat diese Vision in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, und auch die WHO ist zusammen mit den Regionalkommissionen der Vereinten Nationen engagiert», erklärt der deutsche Hersteller in der Pressemitteilung. Damit die Vision Zero verwirklicht werden kann, arbeiten die zahlreichen Institutionen in ganz Europa Hand in Hand mit den Behörden und den Verkehrs- und Stadtplanern, den Strassenverkehrsbehörden und dem Gesetzesgeber zusammen.
Die letzte technische Entwicklung, die Mercedes-Benz in seine Produkte einbaut, wird höchstwahrscheinlich die Software für autonomes Fahren sein. Den Fahrer am Steuer zu ersetzen, bedeutet, das letzte schwache Glied der Kette zu ersetzen, die das Auto endgültig zu 100 Prozent sicher machen könnte. Paul Dick, Leiter der Abteilung Fahrzeugsicherheit der Mercedes-Benz-Gruppe, schreibt in einer Pressemitteilung: «Hochautomatisiertes und autonomes Fahren wird entscheidend dazu beitragen, unsere Vision vom unfallfreien Fahren zu verwirklichen.» Es bleibt abzuwarten, wie gross der Fahrspass noch ist, wenn Fahren nicht mehr erlaubt ist. Denn eines muss klar sein: Bei der Forschung geht es nicht alleine um die Sicherheit, sondern letzlich eben auch darum, dass niemand mehr selbständig fahren darf.
Mercedes-Benz nach Volvo
Mercedes-Benz ist nicht der erste Autohersteller, der sich der Herausforderung der Vision Zero stellt. Schon im Jahr 2007 kündigte Volvo seine Absicht an, die Anzahl der Verkehrstoten in seinen Fahrzeugen auf null zu reduzieren. Allerdings setzte sich das Unternehmen mit dem Jahr 2020 eine weitaus ehrgeizigere Frist. Bis zum Jahr 2020 gab Volvo jedoch nichts über das Vorhaben bekannt, was auf ein Scheitern hindeutet. Der schwedische Hersteller gibt dies auf Anfrage der AUTO-MOBIL REVUE denn auch unumwunden zu. «Wir haben gründliche Untersuchungen durchgeführt, und einer der Gründe, die uns daran gehindert haben, unser Ziel zu erreichen, ist, dass die Sicherheit nicht nur das Ergebnis technologischer Entwicklungen ist, sondern auch mit dem menschlichen Verhalten zusammenhängt», antwortete uns der Hersteller.
Dies erklärt, warum sich die Marke jetzt stärker auf die Verhaltensdimension des sicheren Fahrens konzentriert. Trotzdem erklärt das Unternehmen, dass es mit seinem Programm «die Zahl der Todesfälle und Verletzungen von Insassen in Volvo-Fahrzeugen erheblich reduziert» habe. Und das ist schon ein grosser Erfolg.