Es ist seltsam: In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren prägte ein Kürzel die Wahrnehmung einer ganzen Generation. GTI wurde zum Synonym für Tempo, für Leistung und Performance. Begründet hatte dies ein Auto, das so gar nicht geplant war: der von einigen Entwicklungsingenieuren abseits eines Auftrags konzipierte VW Golf GTI. Mit rund 5000 erwarteten Fahrzeugen liess der Vorstand den Sport-Golf schliesslich passieren. Verkauft wurde er alleine in seiner ersten Ausführung von 1976 bis 1983 über 440 000-mal.
Beim Golf 2 brauchte es allerdings bereits 16 Ventile und schliesslich einen G-Lader, um weiterhin vorne mitfahren zu können, bei der dritten Auflage schliesslich brachte VW einen VR6-Motor ins Spiel. War GTI zum Allerweltskürzel verkommen? War ihm selbst mit diversen Zusätzen, wie oben beschrieben, nicht mehr zu altem Glanz zu verhelfen? Gut möglich. Gewiss aber ist, dass man 2003 in Wolfsburg mit R ein neues, heisses Kürzel lancieren wollte. Allerdings verzichtete man bewusst auf allzu viel äussere Hinweise am Auto. Gewiss, die breiten Reifen, die Auspuffanlage mit Endrohren beidseits und auch die zusätzliche Tieferlegung deuteten dem Betrachter an, was da zu erwarten sein könnte, aber der R war kein GTI – er war deutlich mehr.
Big Block
Vergleicht man technische Daten aktueller Kompaktautos mit jenen des ersten Golf R, so erscheinen einem dessen 3189 Kubikzentimeter geradezu gigantisch gross. Dank der kompakten VR-Bauweise mit einem Zylinderwinkel von nur gerade 15 Grad stimmte das Package aber. Die Leistung von 241 PS reichte der Motor wahlweise an ein Sechsgang-Schaltgetriebe oder an ein Doppelkupplungsgetriebe mit ebenso vielen Schaltstufen weiter. VW war ein Pionier dieser Getriebetechnik, im R-Golf brachte es eine um 0.2 Sekunden minim bessere Beschleunigungszeit von null bis hundert. Damit die Kraft auf den Boden gelangte, bot der erste R Allradantrieb mit einem Haldex-System – serienmässig. All dies machte den Golf R nicht gerade billig, er kostete bereits vor 20 Jahren ab 49 950 Franken, viel Geld für einen Kompaktwagen.
Länger, als man denkt
20 Jahre nach seiner ersten Vorstellung steht ein VW Golf R32 der allerersten Serie für eine Probefahrt bereit. Wenn man sich die technischen Eigenschaften vergegenwärtigt, erscheint einem der R32 aber nicht wirklich alt: Es gibt ESP, Airbags, besagtes DSG, einen intelligenten Allradantrieb, ein Navigationssystem … Allerdings stand 2003 die Golf-Reihe erst bei der vierten Auflage, mittlerweile sind es die Modelle der achten Generation, die das Erbe weitertragen. Und dazwischen ist doch mehr passiert, als man gelegentlich wahrhaben will. Gewiss, der aktuellste R-Golf leistet als 20-Jahre-Jubiläumsversion nun satte 333 PS, also fast 100 PS mehr als die Urvariante, aber technisch ist er wesentlich näher beim GTI, als dies am Anfang des R der Fall war. So gibt es etwa denselben Zweiliter-Turbo-Basismotor wie beim GTI. Früher war das anders, den grossen 3.2-Liter gab es im Golf nur in dieser Variante. Dazu verfügte der R32 über eine eigene Frontschürze mit grösseren Lufteinlässen, und am Heck verriet die Auspuffanlage etwas versierteren Autokennern, um welche Variante es sich handelte.
Fahren statt golfen
Bamm! Die erste Schwelle – oder besser, der flache Randstein – zwischen der Strasse und dem Business and Drivers Club der Motorworld in München hat gesessen, dieser R32 ist staubtrocken gefedert. Die höchst unterschiedlich auf der Lilienthal-Allee, einer Strasse in einem umfunktionierten Industrieareal am Stadtrand von München, verteilten Kanaldeckel, die folgen, lassen wenig Gutes erahnen. Es wird deutlich, dass es nicht allzu lange her ist, als der Sport noch seinen Tribut forderte. Dieser bestand aus wesentlichen Komforteinbussen. Im Golf R32 ist dies bereits nach den ersten Sekunden zu spüren. Es sitzt sich etwas seltsam in der blau-metallic-farbenen Kiste. Der Grund ist, dass die originalen Golf-Sitzkonsolen wohl etwas zu hoch liegen für die verbauten Sportsitze mit integrierten Kopfstützen. Wohl sind sie rein mechanisch zu verstellen, aber sie verlangen doch eine recht hohe Sitzposition.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dies bereits beim Test in der AUTOMOBIL REVUE von 26. September 2002 kritisiert wurde. Der Golf mag sich geändert haben seither, die Tester-Hintern scheinen da einer langsameren Evolution zu unterliegen. Ebenso interessant wie anatomische Aspekte ist die Beobachtung technischer Eigenschaften. Das DSG schaltet noch so, dass man dies deutlich spürt. Da ist noch keine Spur von der heimlichen Zahnradjonglage heutiger Doppelkupplungsgetriebe. Das Ding schaltet, und der Fahrer weiss immer, wann dies der Fall ist. Dennoch: Der Unterschied dieses DSG zu allem, was damals als Automatikgetriebe zu haben war, hätte nicht grösser sein können. Kein Wunder, mag heute kaum mehr jemand selber schalten. Und wir geben es zu, wenn auch ungern: Das Sechsgang- Handschaltgetriebe, mit dem uns Volkswagen Classic (aus deren Fundus unser Auto stammte) bei unserer Begegnung mit dem Urvater aller R-Volkswagen genauso gut hätte beglücken können, fehlte uns nicht sehr.
Schiere Freude und etwas Kultur
Wenn der GTI etwas bodennäher unterwegs war – um nicht zu sagen, für einige Entscheider bei VW womöglich zu proletenhaft –, so eilt, und dies ist wörtlich zu verstehen, der R-Golf auf einem sehr eigenen Niveau durch das Münchner Umland. Der Sound dieses VR6 ist grandios, aber nicht ungehobelt. Seine Virtuosität wird wohl von einer Auspuffklappe – oder sind es deren zwei? – noch zusätzlich gefördert. Dieser Antrieb pflegt den direkten Dialog mit dem Fahrer. Wird er von ihm geprügelt, dann brüllt er, wird er von ihm gestreichelt, dann säuselt der Kraftprotz verhalten. 320 Newtonmeter stemmt der V6 bei 2800 Umdrehungen auf die Schwungscheibe. Um nicht der Letzte zu sein, der bei Grün an der Ampel losfährt, reicht das noch heute. Doch halt, was war das? Losfahren wie ein Getriebener, etwas Krach machen, Gas geben und so weiter und so fort – das ist doch nichts signifikant Anderes, als man es bereits vom GTI kannte? Warum also, das ist im Prinzip die Kernfrage, wurde der stärkste Golf ein Golf R und nicht einfach ein GTI?
Eine mögliche Antwort: Wegen der Erfindung des Attributs Premium. Bis 2002 war Ferdinand Piëch Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, danach Vorsitzender des Aufsichtsrats. Unter seiner Ägide ruinierte VW zunächst sein Image als Qualitätshersteller und wollte es darauf auf Teufel komm raus wieder aufbauen. Wie bereits bei Audi brauchte es dafür einen Begriff, der diese Eigenschaften – ob real oder marketingtechnisch hinzugefügt – zusammenfasste: Premium. In den 1990er-Jahren hatte Volkswagen in diesem Punkt verheerende Fehler gemacht. Nicht umsonst war der Chef für seine «Nullfuge» bekannt. Und Piëch liebte grosse Motoren, der Passat W8 passte bestens dazu, vom Phaeton ganz zu schweigen. Und wenn der Golf GTI den Sport zum allgemeinen Volksgut gemacht hatte, dann brauchte es nun ein Auto, dass sich von diesem Attribut wieder befreite, das über all dem stand. Der Golf R32 spielte wirklich in einer eigenen Liga.
Ein bisschen mehr zum Zwanzigsten
Mehr Leistung – 333 statt 320 PS –, geändertes Schaltverhalten des Getriebes und «die schlauere Nutzung bereits vorhandener Systeme», wie es ein Ingenieur bei einem Gespräch abseits der Fahrpräsentation ausdrückte, all dies und noch etwas mehr steckt im Jubiläumsmodell des Golf R. Das ist gewiss eine Freude, andererseits aber schwingt auch etwas Wehmut mit, wenn es etwa heisst, dies sei jetzt die letzte Ausbaustufe des Golf mit Verbrennungsmotor. «Jetzt erst recht», scheint deshalb das Motto der R-Truppe gewesen zu sein, als sie sich den Golf R, im Prinzip noch immer warm aus dem Ofen, erneut zum Nachwürzen vorgenommen haben. So ist das Ansprechverhalten des Motors noch etwas besser – um 0.2 Sekunden, die den Unterschied machen (sollen) – dank einer Drosselklappe, die im R-Modus nicht ganz schliesst und im Schiebebetrieb die Schubabschaltung aussetzt. Denn etwas Benzin und Luft halten den Turbolader bei Laune, wenn er beim Gasgeben wieder hochdrehen soll. Beim Anbremsen geht das Getriebe im Automatikmodus beim Herunterschalten härter ans Drehzahllimit, zudem werden die Gänge härter eingelegt. Volkswagen nennt es «Premium Performance», auf dem Nürburgring aber gewinnt der 20 Years vier Sekunden gegenüber dem normalen Golf R.
Nach der Auflösung von Volkswagen Motorsport will man mit R allerdings weg vom Racetrack und hin zu Hightech. Die Emotionen kommen somit künftig nicht mehr von der Rennstrecke für die Motorsportfans, sondern vom Lifestyle für die über 6.5 Millionen Follower auf den sozialen Netzwerken von Volkswagen R. Und bis 2030 wird R vollelektrisch. Bis dahin bietet VW Plug-in-Hybride, Verbrennungsmotoren und bald batterieelektrische R-Modelle nebeneinander an, um damit bei künftigen Kunden die «R-Gene klarzuziehen» , wie es Head of Marketing und Sales Peter Jost bei einem Gespräch erläutert.
Doch erst einmal kommt der erste R, der Golf, als letzter heisser Golf als R 20 Years heraus. Und wie sein Urvater wird wohl auch er dereinst zum Sammlerstück. Womöglich bereits jetzt schon so begehrt, standen zur Pressevorführung vor einer internationalen Journalistenschar nur grade zwei Wagen zur Verfügung.