S-Klassen sind Leitobjekte. Der EQS erfüllt das optisch klaglos. So hat noch kein Serien-Mercedes ausgesehen. Das Raumkonzept des 5.20-Meter-Wagens ist anders. Er hat eine kurze Motorhaube, eine weit vorgezogene Frontscheibe, und der Platz zwischen den Achsen gehört zu grossen Teilen den Passagieren. An solche Proportionen muss man sich erst gewöhnen. Aber der EQS ist höchst aerodynamisch und der Luftwiderstandsbeiwert mit cW 0.20 rekordtief. Der EQS-Auftritt verkörpert Veränderung. Während die Mercedes-Elektro-SUV recht glatt in die Familie passen, ist der EQS markig und
selbständig – und er tut gut daran. Andere haben sich im vergangenen Jahrzehnt weit mehr als Pioniere profiliert … Der EQS hebt sich von der Masse ab. Mit dem uniformen E-Antrieb scheint das weit schwieriger zu sein als mit dem Verbrennungsmotor mit seinen vielfältigen Alleinstellungsmerkmalen.
Gemeinschaftswerk
Mit dem EQS rollt erstmals ein vollständig als Stromer konzipiertes Auto aus der Werkshalle 56 in Sindelfingen (D). Die Factory 56 wurde für 730 Millionen Euro gebaut und so ausgelegt, dass sowohl S-Klasse wie EQS auf demselben Band produziert werden können. Dieselbe Arbeiterschaft baut also nach denselben Massstäben die beiden Flaggschiffe von Mercedes-Benz. Damit spielt Daimler ein gutes Spiel und kann seine Oberklassen den jeweiligen Bedürfnissen anpassen – auch wenn in jüngerer Zeit noch weitere Faktoren mitspielen.
Die glatte Aussenhaut des EQS wirkt anspruchsvoll, die Fugen und Übergänge sitzen perfekt, die grossflächigen Elemente würden Nachlässigkeiten auch kaum verzeihen. Im Innenraum setzt sich dieser Eindruck von Qualität fort, allerdings war nicht jeder Tester mit der Materialwahl zufrieden, einem Grenzgang zwischen moderner Coolness und unverzeihlicher Plastikatmosphäre. Der bis ins letzte Detail durchdachte und durchgestaltete Ort wirkt aber wie kaum ein Auto zuvor. Dafür sorgt der Hyperscreen. Dieser macht unmissverständlich klar: Dieses Auto ist ein volldigitaler Supercomputer auf Rädern – was auch hätte gewaltig schiefgehen können. Je tiefer man sich mit dem EQS aber befasst, umso mehr tritt dies in den Hintergrund. Das hat nicht nur mit der generellen Angewöhnung beim Fahren, sondern auch mit minuziöser Kleinarbeit seitens der Entwickler zu tun. Man sollte sich vor dieser geballten Menge Andersartigkeit nicht abschrecken lassen. Doch der Reihe nach.
Dank der weit vorgezogenen Windschutzscheibe herrscht ein Eindruck von grosser Luftigkeit. Beinraum gibt es vorne wie hinten im Überfluss, die Innenraumlänge ist kaum durch den Antrieb beeinträchtigt. Eine Langversion gibt es nicht. Der Kofferraum glänzt mit einem Volumen von 610 Litern. Doch – ein Novum in einer S-Klasse – er ist variabel und fasst bis zu 1770 Liter. Und der EQS hat eine Heckklappe, auch zur Freude von Hundebesitzern. Ein Deckel wäre bei dem Stummelheck zum schmalen Schlitz verkommen.
Grossrechner
Der Hyperscreen, das in splitterfreiem Schichtglas und mit filigraner Umrandung ausgeführte Tableau mit drei Bildschirmen ist Teil des Mobiliars, digitale Armatur, Bedien- und Informationselement in einem. Der dafür verantwortliche Ingenieur meinte bei der EQS-Präsentation im letzten Jahr, er sei während der vier Jahre Entwicklungszeit damit verheiratet gewesen. Tatsächlich ist der Screen nicht das Werk eines spleenigen Nerds geworden, sondern ein komplexes Mensch-Maschine-Interface. Mit zwölf hinterlegten Spulen, den Aktuatoren, welche Schwingungen auf das Board übertragen können, bietet es eine nützliche Feedback-Funktion, eine haptische Rückbestätigung vorgenommener Manipulationen. Damit gelingt es Mercedes, das potenzielle Gefühl des verlorenen Herumfingerns auf der riesigen Bildschirmfläche zu lindern. Mit 24 Gigabyte Arbeitsspeicher stellt MBUX, das Mercedes-Unterhaltungssystem, die nötige Rechenleistung zur Verfügung, um dank künstlicher Intelligenz auf seine Bediener einzugehen. So befinden sich oft benutzte Applikationen automatisch auf der Benutzeroberfläche, ausser man konfiguriert diese dezidiert anders. Mercedes nennt dies «No Layer»-Bedienoberfläche und verspricht, dass dadurch das Scrollen durch Untermenüs entfalle. Das System lässt sich mittels Sprachsteuerung recht umfangreich auch direkt bedienen. Mit dem Aufruf «Hallo Mercedes» steht einem ein zielführendes System zur Navigation durch die unzähligen Funktionen zur Verfügung. So problemlos wie im EQS ist uns noch selten der Einstieg in ein neues Bedienkonzept gelungen.
Assistieren leichtgemacht
Die Probe der Sicherheitsassistenten haben wir ausgelassen, aber der aktive Fahrassistent wurde oft und gerne genutzt. Kein Wunder, er arbeitet so effizient wie dezent. Einzig beim assistierten Überholen nimmt sich der EQS etwas lange Zeit, bis er wieder die Sollgeschwindigkeit erreicht. Ebenso missinterpretiert die Verkehrszeichenerkennung gelegentlich Tafeln bei Ausfahrten, ein Problem, das aber primär an der Signalisation liegt. Sehr ausgeklügelt sind die Augmented-Reality-Navigationshinweise im Head-up-Display. Ein Pfeil zeigt die entsprechende Strasse an, die real vor einem liegt. Der EQS schaut einem dazu tief in die Augen und kann auch errechnen, wenn jemand mit seinem Sehwinkel die Head-upProjektion gar nicht sehen kann.
Doch auch bei der Hardware liefert der EQS 580 eindrückliche Daten: 385 kW oder 523 PS Leistung, 855 Nm Drehmoment, Laden mit 200 kW DC oder auf Wunsch mit bis zu 22 kW Wechselstrom, 800-Volt-Technik. 4.3 Sekunden für den Sprint von 0 bis 100 km/h bei einem Gewicht von über 2.5 Tonnen lauten weitere Werte. Auch bei den Bremsen ist er überdurchschnittlich gut. Die Batteriekapazität von 107.8 kWh ermöglicht dazu Reichweiten jenseits von 600 Kilometern. Im Testbetrieb massen wir 520 Kilometer ohne Rücksicht auf den Energieverbrauch. Dieser lag zwischen 17.7 kWh im Stadtverkehr und grosszügigen 30.5 kWh auf der Autobahn.
Richtig, eine Allradlenkung hat das 5.2 Meter lange Dickschiff auch, was ihn mit einem Wendekreis von 10.9 Metern so handlich wie eine A-Klasse macht. In Kurven läuft dem EQS damit die Hinterachse kaum aus der Spur, das ist ideal, um Randsteine in Kreiseln und enge Spitzkehren scharf anzuschneiden.
Skateboarden
Die neue E-Plattform von Mercedes ist quasi eine Batterie mit Achsen und heisst intern Skateboard, offiziell aber EVA für Electric Vehicle Architecture. Vorne wirken Doppelquerlenker, hinten gibt es eine Mehrlenkerachse von deren Erfinder. Dazu dämpft und federt eine adaptive Luftfederung. Das Fahrwerk lässt kaum Wünsche offen. Der EQS lenkt sehr präzise ein, im Komfort-Modus schwebt er fast lautlos über die Strasse. Die Dämmung der Fahrgeräusche liegt dazu auf einem zuvor unbekannten Niveau, die hervorragende Aerodynamik hilft.
Was der EQS nicht leugnen kann, etwa in schneller gefahrenen Doppelkurven, ist sein Gewicht. Immerhin hilft der tiefe Schwerpunkt, die Aufbaubewegungen im Zaum zu halten. Mit Paddeln am Lenkrad lässt sich die Rekuperation variieren, das Ein-Pedal-Fahren wird damit zum Kinderspiel. Auf kurvigen Landstrassen erinnert dies an die Fahrt mit einem grossvolumigen Motorrad, das sich nur mit der Motorbremswirkung fahren lässt. Das gilt auch für die Beschleunigung. Dann beisst sich der EQS 580 4Matic mit seinen zwei Motoren und Allradantrieb mit einer Vehemenz in die Strasse, dass einem der Atem stockt. Und selbst nach einer Tagestour von Zürich an den Neuenburgersee und zurück stecken noch mehrere Hundert Kilometer Reichweite im Auto. Im EQS bleibt der Blick auf die Energieanzeige so gelassen wie in einem herkömmlichen Auto. Mercedes hat seine elektrische Zukunft mit dem EQS definitiv eingeläutet. Wenn die so gut wird wie das Auto, wird 2035 weniger Bauchschmerzen bereiten.
Testergebnis
Gesamtnote 81.5/100
Antrieb
Kraftvoll, aber lautlos: Der EQS wird dem Anspruch an eine gehobene Limousine bestens gerecht und lässt kaum Wünsche offen.
Fahrwerk
Ein enormer technischer Aufwand wird mit einem sehr komfortablen bis sportlichen Eindruck belohnt. Das Auto ist dank Allradlenkung zudem erstaunlich handlich.
Innenraum
Der grosse Bildschirm dominiert. Kunststoffe sind allgegenwärtig. Dafür ist das Raumangebot mehr als grosszügig.
Sicherheit
Assistenten, die Sinn machen, ein Bedienkonzept ohne Konfusion und ein kurzer Bremsweg ergänzen das bekannt hohe Mercedes-Sicherheitsniveau.
Budget
Mercedes bleibt sich treu: Vieles ist möglich, aber alles hat seinen Preis. In seiner Klasse liegt dieser allerdings generell sehr hoch, und die (deutsche) Konkurrenz macht es kaum anders.
Fazit
Schön, hässlich oder einfach ungewöhnlich – an der Form scheiden sich die Geister. Sie hat aber zweifellos ihre Vorzüge, eine davon ist Platz. Und als E-Auto bietet der EQS Reichweiten, die das Thema nahezu vergessen machen. Der EQS zeigt, was Mercedes kann, aber er wird sich kaum lange an der Spitze ausruhen können. Dennoch, Autos wie dieses helfen, zum E-Pionier aufzuschliessen – und die EQE-Klasse kommt bald.
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