Massenspannung

Optisch auffällig und technisch fortschrittlich zeigt der EV6, wohin bei Kia die Reise der ­Elektromobilität gehen wird. Und dass diese auch im Volumensegment bereits heute sehr gut funktionieren kann.

Ehre, wem Ehre gebührt. Weit fahren, schnell tanken, einfach bezahlen: Der Verbrennungsmotor hat für viele Anforderungen noch mehr als genug Daseinsberechtigung. Daran kann auch der aktuelle Elektrohype nicht viel ändern. Für viel Anwendungen ist er einfach die vernünftigere, weil praktischere Wahl. Aber Kia (und damit auch Hyundai) hält gerade ganz stark dagegen. Und das nicht in der Oberklasse, wo es keine Frage ist, dass Autos gut sein können, sondern im Volumensegment. Sofern man denn von Volumen sprechen kann. Denn während das Schwestermodell von Hyundai, der Ioniq 5, Volumen bolzt und zu den meistverkauften Elektroautos der Schweiz gehört, figuriert der Kia EV6 mit seinen bisher 94 eingelösten Exemplaren im ersten Quartal irgendwo unter «ferner liefen».

Allerdings kann man nicht behaupten, der EV6 verstecke sich auf den hinteren Rängen, denn sich zu verstecken ist nicht so sein Ding. Dafür sorgt allein schon sein Auftritt, der so gar nichts mehr mit dem Mauerblümchen gemein hat, als das man Kia oft sieht. Ob die Karosserieform des SUV-Coupés wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, darüber kann man sich streiten. Klar ist: Bei den Elektroautos fällt sie weniger ins Gewicht, wenn die Platzausnutzung geschickt gelöst ist. Und das ist sie im EV6. ­Eine Fahrzeuglänge von 4.68 Metern bei einem Radstand von 2.9 Metern bedeutet kurze Überhänge. Und mit der Batterie im Unterboden und den Motoren an den Achsen kann der Fahrgastraum entsprechend geräumig ausgestaltet werden. Der Blick aufs Datenblatt offenbart ein Ladevolumen von bloss 1300 Litern, was einigermassen erstaunt, da sich das Auto alles andere als einengend anfühlt.

Gerade im Fond ist der Platz beeindruckend. Selbst bei komplett zurückgefahrenen Vordersitzen reicht die Beinfreiheit noch aus, damit es sich auf den Rücksitzen noch einigermassen akzeptabel sitzt. Und auch der nicht mehr vorhandene Kardantunnel schafft noch etwas Platz auf den hinteren Plätzen. Durch das abfallende Dach und den – wegen der Batterie – hohen Boden ist der Langstreckenkomfort für Erwachsene auf den Rücksitzen eingeschränkt, da die Beine hoch stehen und wenig Auflagefläche haben. Überraschend klein fällt auch der Frunk aus, der bloss den Ladekabeln Platz bietet, obwohl unter der Haube mehr als genügend Raum vorhanden wäre.

Überzeugender Antrieb

Aber die optische Kehrtwende, die Kia mit dem EV6 vollzogen hat, wird noch deutlicher im Innenraum. Dem Wildwuchs an Materialien und Farben und verschiedenen Kunststoffen ist man konsequent zu Leibe gerückt und hat ihn auf ­einen stimmigen Materialmix reduziert. Und dieser kommt erst noch dem ökologischen Gewissen zugute: So werden die Lederbezüge ergänzt mit Kunststofffasern aus rezyklierten PET-Flaschen.

Reduziert wurde auch die Anzahl Knöpfe – und zwar so sehr, dass die Bedienelemente für Heizung und Klimaanlage auf demselben Touchpanel liegen wie diejenigen fürs Infotainment. Über ­einen Knopf wird eingestellt, ob der Drehregler die Temperatur oder die Lautstärke verstellt. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist? Wohl eher nicht, aber auf jeden Fall ist es bereits angenehmer, als sich auf einem Touchscreen durch gefühlte sieben Untermenüs zu quälen, bis man die Temperatur verstellen kann. Im EV6 ist das umso mehr von Vorteil, als der Touchscreen einen Tick zu weit vom Fahrer entfernt ist, als dass dieser ihn angenehm bedienen könnte. Ein Head-up-Display bietet der EV6 auch, dieses verspricht sogar, Augmented-­Reality-Funktionen zu bieten. Allerdings haben diese nur wenig mit dem zu tun hat, was die deutsche Konkurrenz unter Augmented Reality versteht.

Dafür verschaffen sich die Koreaner dort einen Vorsprung, wo es wirklich zählt. Die Batterien der Konzernplattform E-GMP arbeiten mit 800 Volt Spannung anstelle der im Volumensegment sonst üblichen 400 Volt, was eine ganze Reihe Vorteile bietet. Der offensichtlichste ist die Möglichkeit, mit bis zu 240 kW zu laden, was bisher einzig vom Porsche Taycan und vom Audi E-Tron GT (auf der J1-Plattform) übertrumpft wird. Die deutschen Modelle sind aber schwer mit dem EV6 zu vergleichen, kosten sie doch locker das Doppelte bis Dreifache. Ein weiterer Vorteil der höheren Spannung ist, dass dadurch die Ströme im Fahrzeug tiefer sind und dünnere Kabel ausreichen. Das spart Gewicht und Material. Für die Ladung von zehn auf 80 Prozent gibt Kia eine Zeit von 18 Minuten an, was mit der grösseren 77.4-kWh-Batterie rund 20 Kilometern pro Minute entspricht.

In der Praxis zeigt sich, dass bei diesen Angaben noch eine gehörige Portion Optimismus mitspielt. Die maximale Ladeleistung wird nur unter Idealbedingungen erreicht, was selten der Fall ist. Schuld daran ist die Software, die es nicht erlaubt, Hochleistungs-Ladestopps einzuplanen und die Batterie vorgängig auf die ideale Ladetemperatur zu bringen. Dass die Navi-Software keine intelligente Routenplanung vornimmt und selbständig Ladestopps einplant, wo nötig, ist ärgerlich. Dass Kia ausgerechnet in diesem Punkt patzt, ist umso unschöner, als sich damit der grosse Vorteil des Schnellladens erst richtig ausspielen liesse. Kia soll aber bereits an einem Update arbeiten, um dieses Manko zu beheben und seinem Stromer-Flaggschiff den Vorsprung zu verschaffen, den er verdient hätte. Denn die Reichweite ist ganz ordentlich: 527 Kilometer sollen es sein gemäss WLTP, in der Praxis waren es eher rund 450 Kilometer im Mischverkehr und 330 bei ausschliesslicher Autobahnfahrt. Damit zeichnet sich der Kia EV6 mit einem sehr guten Normrundenverbrauch von 16.4 kWh/100 km aus. Die Wärmepumpe ist je nach Ausstattung inklusive oder gegen Aufpreis erhältlich.

Sportliche Abstimmung

Vier verschiedene Motorisierungen bietet Kia für den EV6 bislang an: den Heckantrieb mit 125 kW (170 PS) oder 168 kW (229 PS) und den Allradantrieb mit 173 kW (235 PS) oder 239 kW (325 PS). Anfang 2023 soll dann noch der EV6 GT folgen, ein Porsche-Taycan-Killer mit 430 kW (585 PS) und 740 Nm. Im Test hatten wir die légère Variante mit Heckantrieb und 229 PS.

Bereits diese beweist eindrücklich, wozu der Antrieb des EV6 fähig ist – trotz lediglich 229 PS und 350 Nm. Und das ist vor allem eines: Fahrspass. Bis Tempo 100 benötigt er 7.3 Sekunden. Mit einem Leergewicht von knapp unter zwei Tonnen ist der EV6 für ein Elektromobil in seinem Segment schon fast ein Leichtgewicht. Eine Tendenz zum Schieben über die Vorderachse macht sich trotzdem bemerkbar – solange, bis das ESP regelnd eingreift. Im Sport-Modus jedoch kann per Gasstoss problemlos ein kontrolliertes Ausbrechen des Hecks provoziert werden, wie der Koreaner auf dem Rundkurs von Lignières NE unter Beweis stellte. Die drei Fahrmodi (Eco, Normal und Sport) lassen sich am Lenkrad anwählen, sie ändern primär die Kennlinie des Gaspedals.

Das Ansprechverhalten der Bremsen übrigens lässt sich über die Fahrzeugeinstellungen am zentralen Touchscreen von normal zu sportlich umstellen. Über die Schaltwippen am Lenkrad lässt sich die Stärke der Rekuperation bis hin zu One-­Pedal-­Dri­ving einstellen. Das Fahrwerk ist sportlich und straff abgestimmt. Gerade bei tieferen Geschwindigkeiten dringend viele Unebenheiten durch, und der Komfort im Inneren des Elektro-­SUV ist nur mässig. Die Lenkung erweist sich als präzise. Durch die starke Unterstützung fühlt sie sich aber etwas wenig direkt an und gibt kaum Rückmeldung von der Strasse.

Attraktive Preise

Wie üblich bei Kia gibt es bereits serienmässig ­eine sehr umfangreiche Ausstattung und dazu eine klare Aufpreisgestaltung mit übersichtlichen Optionen. In der Lancierungsvariante Edition 24 sind diverse Ausstattungselemente bereits enthalten, etwa die Sitzheizung vorne und hinten, die vordere Sitzlüftung und eine umfangreiche Palette an Komfortfunktionen wie die elektrische Sitzverstellung. Eine induktive Ladeschale fürs Mobiltelefon und Apple Carplay und Android Auto (nicht kabellos) sind bereits in der Basisvariante inbegriffen, ebenso die komplette Ausstattung an Sicherheits- und Assistenzsystemen. Als praktisch erweist sich die Totwinkel-Kamera, noch etwas schwer tut sich der Spurassistent, der nervös zwischen den Linien hin- und herpendelt.

Die Basisvariante des EV6 mit der kleineren 58-kWh-Batterie und 170 PS gibt es für 49 950 Franken. Für die von uns getestete Edition 24 werden mindestens 59 780 Franken fällig, wobei sich die Aufpreisliste kurz gestaltet: Bloss das Typ-2-Ladekabel zum Preis von 460 Franken kommt noch dazu. Auch der Preis für den EV6 GT mit 580 PS steht bereits fest: 76 950 Franken.

Testergebnis

Gesamtnote 83.5/100

Antrieb

Beeindruckende Fahrleistungen, ein tiefer Verbrauch und High-Power-­Charging mit 240 kW: Die E-GMP-Plattform des Kia EV6 hebt den Elektroantrieb auf ein neues Niveau. Was noch fehlt, ist die Einplanung von Ladestopps in die Routenführung.

Fahrwerk

Die straffe Abstimmung sorgt für ein sportliches Gefühl, ist aber für lange Strecken sicher nicht jedermanns Sache.

Innenraum

Der stimmige Materialmix ist ein grosser Fortschritt für die Marke und das Platzangebot für Fahrer und Passagiere grosszügig. Die Komfort­ausstattung ist umfangreich.

Sicherheit

Die gesamte, breite Palette an Sicherheitssystemen ist bereits in der Basisvariante serienmässig dabei. Das einstellbare Ansprechverhalten der Bremsen ist gewöhnungsbedürftig.

Budget

Der grosse Pluspunkt des EV6 ist der Verzicht auf nicht enden wollende Aufpreislisten. Die Werksgarantie beträgt sieben Jahre.

Fazit 

Der Kia EV6 überzeugt mit den bekannten Stärken der Marke. Die Koreaner beweisen auch, dass ausgereifte Elektromobilität mit grosser Reichweite und Schnellladen nicht mehr nur im Hochpreissegment funktioniert, und setzt so die Konkurrenz unter Zugzwang.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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