Die Liste der von der Europäischen Union vorgeschriebenen Sicherheitssysteme für Automobile ist lang. Und schon bald wird sie um einen nennenswerten Eintrag länger: Im Juli wird die Blackbox zur Pflicht in neu homologierten Personenwagen. Wie üblich bei solchen Zulassungsvorschriften wird die Schweiz auch die Regel zur Blackbox von der Europäischen Union übernehmen. Was aber steckt technisch hinter diesem Ereignisdatenspeicher, den die EU neu vorschreibt? Was zeichnet er auf, wie wird er gelesen – und ist er wirklich so neu?
Dass ab Juli stets Big Brother auf dem Beifahrersitz mitfährt, sorgt für Aufregung. Eine Aufregung, die von Experten aber nur beschränkt geteilt wird. Denn wie André Blanc, stellvetretender Direktor des Dynamic Test Center (DTC) in Vauffelin BE erklärt, ist diese Technologie alles andere als neu: «Bereits in den 1990er-Jahren verbaute General Motors ein System, das Unfalldaten aufzeichnen konnte. Man wollte sich damit gegen Klagen durch Kunden schützen, beispielsweise nach einem selbstverschuldeten Unfall.» Im Laufe der Jahre setzte sich das System bei den Automobilherstellern so weit durch, dass das Insurance Institute for Highway Safety (IIHS), das amerikanische Institut für Verkehrssicherheit, Ende der 2000er-Jahre eine einheitlich genormte Aufzeichnung forderte. Im Jahr 2012 beschloss die US-Regierung einen gesetzlichen Rahmen für die Aufzeichnungsprozeduren. «Aber: Das amerikanische Gesetz zwingt die Hersteller nicht dazu, die Daten in ihren Fahrzeugen aufzuzeichnen. Vorgeschrieben ist lediglich die Einhaltung gewisser Normen, falls eine Datenaufzeichnung vorgenommen wird», so die Ausführungen von André Blanc.
Blackbox wird nicht verpflichtend
In Anlehnung an das US-Gesetz und vor dem Hintergrund des erklärten Ziels von null Verkehrstoten bis 2050 haben auch die europäischen Behörden einen gesetzlichen Rahmen für die Blackbox geschaffen. «Die Vorschriften zum Ereignisdatenspeicher sind Teil einer ganzen Serie von neuen Anforderungen für die Homologation neuer Fahrzeuge innerhalb der Europäischen Union. Die Schweiz übernimmt diese Vorschriften aufgrund bilateraler Abkommen», erklärt Marina Kämpf, Pressesprecherin beim Bundesamt für Strassen (Astra). Ab diesem Sommer gilt die Vorschrift für alle neuen Typenzulassungen. Ab 2024 sind dann alle Neuimmatrikulationen davon betroffen.
Was genau in der Vorschrift geregelt ist, weiss André Blanc: «Die europäischen Anforderungen sind im Grunde dieselben wie die amerikanischen. Sie beinhaltet nicht, dass Neufahrzeuge unbedingt über einen Ereignisdatenspeicher verfügen müssen. Falls sie aber einen solchen haben, dann müssen sie die entsprechenden Daten genormt an einen externen Benutzer kommunizieren können.» Oder anders ausgedrückt: Entgegen zahlreicher anderslautender Behauptungen kann die Automobilindustrie auch in Zukunft Fahrzeuge ohne Blackbox zulassen und verkaufen. Beziehungsweise: könnte. Denn bereits heute verfügen so gut wie alle neuen Fahrzeuge über Aufzeichnungsvorrichtungen für Fahr- und Unfalldaten. «Im Jahr 2006 las ich bereits einen Bericht, in dem stand, dass 95 Prozent der damals auf den Markt gebrachten Autos über eine Aufzeichnung von Unfalldaten verfügten», erinnert sich André Blanc.
Nicht wirklich eine Blackbox
Was genau wird also in dieser Blackbox aufgezeichnet? André Blanc besteht darauf, den Eriegnisdatenspeicher nicht als Blackbox zu bezeichnen: «Die Aufzeichnungssysteme in den Autos haben nichts mit der Blackbox in Flugzeugen zu tun, wo der Begriff ja herkommt. In der Luftfahrt sind diese Vorrichtungen ständig in Betrieb und speichern alles ab, was geschieht. Egal ob ein Unfall passiert oder nicht. Im Gegensatz dazu speichert ein Ereignisdatenspeicher im Auto nur dann etwas ab, wenn eben ein Ereignis stattfindet – also ein Unfall geschieht.» Zwar werden im Event-Data-Recorder, so der geläufige englische Ausdruck, auch permanent Daten aufgezeichnet, diese werden aber auch laufend wieder gelöscht, solange nichts passiert.
Das klingt logisch, schliesslich ist es bei einem Unfall in der Regel spannender zu wissen, was kurz davor geschehen ist, als was danach geschieht. Deshalb zeichnet der Event-Data-Recorder auf, was sich innerhalb von 250 Millisekunden nach dem Unfall ereignet aber auch die fünf Sekunden davor. Für die Unfallexperten sind die fünf Sekunden davor am wichtigsten. Damit kann man einen Unfall lesen, den Ablauf verstehen und genau verfolgen, was passiert ist. Das Ereignis, das die Speicherung auslöst, kann ein aufgehender Airbag sein, die Aktivierung eines Gurtstraffers oder aber eine signifikante Entschleunigung des Fahrzeugs: «Ausgelöst wird der Ereignisdatenspeicher auch bei einem Tempoverlust von mehr als 8 km/h in einer Zeitspanne von unter 150 Millisekunden», erklärt Blanc. Dies entspricht ungefähr einer Verzögerung von 14.8 m/s2, also rund 1.5 g. So reicht ein Unfall mit einem Fussgänger nicht unbedingt aus, um die Aufzeichnung auszulösen.
Im Fachjargon bezeichnet man die vom Event-Data-Recorder abgespeicherten Daten als digitale Spuren, eine Anlehnung an die Bremsspuren, die für Unfallforscher seit Jahrzehnten ein wichtiges Instrument für die Unfallrekonstruktion sind. Ein Event-Data-Recorder zeichnet selbstverständlich mehr Daten auf als nur die Fahrzeuggeschwindigkeit. «Der Ereignisdatenspeicher hält zahlreiche Daten fest wie die Position von Gas- und Bremspedal, den Lenkwinkel der Räder und die Fahrzeuggeschwindigkeit. Er erkennt aber beispielsweise auch, ob die Insassen angeschnallt waren oder nicht», so André Blanc.
Kein eigenes Bauteil
Auch wenn die festgehaltenen Daten mit der neuen Vorschrift genormt werden, so ist der Speicher selbst keine Standardware. Jeder Hersteller oder der von ihm beauftragte Zulieferer hat seinen eigenen Event-Data-Recorder. Im Gegensatz zum Unfalldatenspeicher, wie ihn beispielsweise Versicherungen einsetzen, ist der Ereignisdatenspeicher nicht einmal ein eigenes Bauteil. Denn während der Unfalldatenspeicher ein mehr oder weniger vom Fahrzeug unabhängiges Gerät ist, das eigenständig ein- und ausgebaut werden kann, ist der Ereignisdatenspeicher oftmals direkt in die Steuergeräte des Fahrzeuges integriert und bezieht die Daten vom CAN-Bus des Fahrzeuges. Da sich die gesamten sicherheitsrelevanten Daten im Airbag-Steuergerät befinden, ist üblicherweise auch der Ereignisdatenspeicher dort angesiedelt. Für die Analyse eines Event-Data-Recorders gibt es technische Voraussetzungen, denn das Lesen der Daten erfordert eine passende Schnittstelle. Mit Ausnahme von Kia und Hyundai arbeiten alle Hersteller mit einem System von Bosch. Über die OBD-Schnittstelle unter den Armaturen kann auf den Ereignisdatenspeicher zugegeriffen werden. Wenn der EOBD zu sehr beschädigt ist – beispielsweise nach einem Fahrzeugbrand – kann mit einem enstprechenden Diagnosegerät auch direkt auf den Ereignisdatenspeicher zugegriffen werden.
Kein genereller Zugriff
Neben dem technischen gibt es aber auch noch den gesetzlichen Aspekt für das Lesen der Daten: «Ausser auf Antrag des Staatsanwaltes darf niemand ohne Erlaubnis des Fahrzeughalters Zugriff auf die Daten haben. Auch Versicherungen nicht», gibt Blanc zu bedenken. Bis vor wenigen Jahren waren die Aufzeichnungen nur für die Hersteller zugänglich, ein Lesen durch Drittpersonen war ausgeschlossen. Seit wenigen Jahren hat sich die Lage jedoch verändert, denn die Hersteller haben sich auf die Verabschiedung der neuen Bestimmungen vorbereitet: «Der Volkswagen-Konzern hat den Zugang zu den Daten bereits 2018 geöffnet, BMW 2020. Mercedes blockiert mittlerweile als letzter deutscher Hersteller den Zugang zum Event-Data-Recorder», erklärt Blanc. Bis zum Sommer muss die Firma aus Stuttgart ihre Haltung natürlich ändern.
Was die Blackbox alles aufzeichnet
Folgenden Daten können vom Event-Data-Recorder (Blackbox) in einem Auto aufgezeichnet werden (Liste nicht abschliessend):
Fahrzeuggeschwindigkeit Die Geschwindigkeit des Fahrzeugs wird oft über die Raddrehzahlsensoren (ABS-Sensoren) ermittelt. Dabei können sich Probleme bei der Interpretation der Daten ergeben, beispielsweise wenn die Räder bei einem Überschlag beschleunigen, was fälschlicherweise als zu hohes Tempo bei einem Unfall ausgelegt werden kann. Das unterstreicht die Bedeutung, Experten bei der Analyse der Unfalldaten heranzuziehen.
Gaspedal- und Drosselklappenstellung Hier wird die Last-anforderung des Fahrer knapp vor und nach einem Unfall aufgezeichnet. Gemessen wird die Position von Gaspedal und/oder Drosselklappe in Prozent der Vollgasstellung. Der Ereignisdatenspeicher erhält diese Information über den CAN-Bus.
Bremspedal Über den CAN-Bus des Fahrzeuges erhält der Ereignisdatenspeicher die Information, ob auf das Bremspedal getreten wurde oder nicht.
Multikollisionserkennung Ein Unfall kann aus mehreren einzelnen Kollisionen bestehen, was der Event-Data-Recorder erkennen muss. Findet der erste Aufprall jedoch mehr als fünf Sekunden vor dem letzten statt, ist dieser nicht mehr nachvollziehbar, da das Zeitfenster für die Aufzeichnung in jedem Fall nicht mehr als fünf Sekunden vor dem letzten Ereignis umfasst.
Airbag-Auslösung Der Ereignisdatenspeicher ist oftmals direkt in das Airbag-Steuergerät integriert. Für die Unfallanalyse kann es wichtig sein, zu wissen, in welchem Moment genau die Airbags ausgelöst wurden.
Änderung der Längsgeschwindigkeit Delta v, also die Änderung der Längsgeschwindigkeit der an einem Unfall beteiligten Fahrzeuge, ist eine der wichtigsten Grössen der Unfallanalyse, da daraus Aufprallkräfte abgeleitet werden können. Sie wird 300 Millisekunden vor und 250 Millisekunden nach dem Unfall alle zehn Millisekunden aufgezeichnet.
Sicherheitsgurt Über einen Sensor im Gurtschloss kann erfasst werden, welche Insassen während eines Unfalls den Sicherheitsgurt getragen haben.