Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2) oder Methan (CH4) schaden erwiesenermassen der Gesundheit unseres Planeten, wohingegen Feinstaubpartikel die eindeutigen Feinde der Lebewesen sind. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) tragen diese atmosphärischen Schadstoffe den grössten Anteil an der weltweiten Sterblichkeit. Doch woher kommen diese mikroskopisch kleinen Bestandteile? «Feinpartikel können sich in der Luft aus Gasen wie Schwefeldioxid, Stickoxide, Ammoniak oder flüchtigen organischen Verbindungen bilden oder werden durch natürliche Staubwirbel, Vulkanasche und Bioaerosole erzeugt», lautet das Fazit des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Ausserdem sind sie das Ergebnis von Verbrennungsvorgängen, auch wenn dies weniger auffällig ist – die schon länger angeprangerten Partikel aus der Treibstoffverbrennung in Fahrzeugmotoren konnten in den vergangenen Jahren drastisch reduziert werden. So wurden beispielsweise die Euro-Emissionsnormen für leichte Fahrzeuge mit Dieselmotoren (Autos und leichte Nutzfahrzeuge) im Zeitraum 1992 bis 2009 um das 31-fache von 0.14 auf 0.0045 g/km verschärft. Den Partikelfiltern sei Dank.
Leider werden diese mikroskopisch kleinen Partikel nicht nur aus den Abgasanlagen der Fahrzeuge freigesetzt. Auch der Verschleiss der Fahrbahn und die Abreibung zwischen Bremsbelägen und Bremsscheiben spielen eine wesentliche
Rolle bei der Emission von Feinpartikeln. Laut einem Bericht der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind sie sogar noch höher als die von den Verbrennungsmotoren verursachten Partikel. Unter diesen drei weitläufig eher unbekannten Schadstoffquellen stellen die Reifen den grössten Partikelverursacher dar.
Was wird aus den Reifen?
Spätestens wenn die Lauffläche eines Fahrzeugreifens bis auf die integrierte Reifenverschleissanzeige abgefahren, also bei einer gesetzlich vorgeschriebenen, restlichen Profiltiefe von mindestens 1.6 Millimetern angelangt ist, wechselt der aufmerksame Autofahrer seine Pneus, ohne sich wirklich zu fragen, wohin dieser Haufen Gummi denn nun genau verschwunden ist. Ja, was wurde eigentlich aus dem abgetragenen Material?
Als Mikrogummipartikel enden die Reifen vor allem im Boden, Wasser und, in geringerem Masse, in der Luft. Doch in welchem Verhältnis? Leider «können die von den Reifen emittierten Partikel nicht so einfach kontrolliert werden wie die eines Verbrennermotors, denn es genügt nicht, die Zusammensetzung der Abgase zu untersuchen und zu messen», mahnt Stuart Grange, Mitarbeiter des Forschungsteams Air Pollution/Environmental Technology der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa). Trotz der grossen Herausforderung hat er mit den Forschern der Abteilung Technologie und Gesellschaft diese Feinstaubpartikel quantifiziert. Unter Leitung von Bernd Nowack kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich während der letzten 30 Jahre von 1988 bis 2018 eine Menge von ungefähr 200 000 Tonnen Mikro-Kautschukpartikel in den Böden, Flüssen und Seen der Schweiz angesammelt hat. «Wir haben den Abrieb der Reifen quantifiziert, aber auch die Erosion der künstlichen Grünzonen wie Kunstrasen», erklärt Bernd Nowack. Lediglich drei Prozent der emittierten Kautschukpartikel stammen demnach von Granulat in den künstlichen Grünzonen. Somit wäre der Reifenabrieb für die restlichen 97 Prozent verantwortlich.
Unter den in die Umgebung abgegebenen Mikropartikeln bleiben drei Viertel links und rechts am Strassenrand auf den ersten fünf Metern liegen, fünf Prozent im restlichen Boden und knapp 20 Prozent gelangen in die Gewässer. Für die Berechnung der Menge von 200 000 Tonnen zog das Forschungsteam die Import- und Exportdaten für die Reifen heran und modellierte danach das Verhalten des Kautschuks auf den Strassen und im Strassenabwasser. «Zum Glück wurden seit dem Jahr 2000 die Richtlinien für das Wasserrecycling und die Verhinderung der Bodenverseuchung wesentlich verschärft. Durch Massnahmen wie den Bau von Strassenabwasserkläranlagen (Saba) kann jetzt ein Teil des Mikro-Kautschuks dem Wasser entzogen werden», schreibt die Empa in einer Mitteilung.
Weniger krebserregend
Laut Stuart Grange von der Empa sind die Partikel von den Strassen allerdings nicht die gefährlichsten für unsere Gesundheit: «Trotz der grossen Menge sind die Mikro-Kautschukpartikel nicht das grösste Problem. Aufgrund ihrer Grösse zwischen fünf und zwölf Mikrometern sind sie grösser und weniger krebserregend (je kleiner die Partikel sind, desto grösser ist die Gefahr, dass sie bis in die Lungenbläschen vordringen – Red.) als die Partikel aus der Bremssscheibenreibung, die ungefähr drei Mikrometer gross sind. Im Gegensatz zu den noch kleineren Mikropartikeln lagern sich die Partikel von den Reifen durch ihre Masse auch schneller auf dem Boden ab, was bedeutet, dass sie weniger lang in der Luft schweben. Ausserdem enthält der Bremsstaub die Elemente Kupfer, Antimon und Barium, die allesamt sehr gesundheitsschädlich sind», so seine Erklärung.
In einem Europa, in dem die Bekämpfung der Umweltschäden ein vorrangiges Thema ist, rechnet man damit, dass die Abgabe auch kleinster Partikel in Zukunft genau untersucht wird. «Bisher sind lediglich die Abgasemissionen reglementiert. Die anderen Emissionen unterliegen keiner gesetzlichen Regelung. Das wird sich in Zukunft mit grosser Sicherheit ändern», bestätigt Staurt Grange. Das ist umso wahrscheinlicher, als die Partikelemissionen aus der Reifenabnutzung bedingt durch das erhöhte Fahrzeuggewicht in den kommenden Jahren logischerweise zunehmen werden: «Da Elektrofahrzeuge die kinetische Energie beim Bremsen zurückgewinnen können, werden die Bremsbeläge und Bremsscheiben weniger gebraucht und damit weniger Staub emittieren. Deren Bereifung wird jedoch im Gegensatz dazu mehr Partikel abgeben, weil die Fahrzeuge immer schwerer und die Reifen somit stärker beansprucht werden.»
Und in Zukunft?
Es stellt sich also berechtigterweise die Frage, welche Verbesserungen die Reifenhersteller für ihre Produkte erzielen können. Auf unsere Anfrage hin hielten sich die führenden Hersteller allerdings sehr zurück. Trotz ihres verrückten Ansatzes könnte die Ansaugtechnologie des englischen Ingenieurteams des Imperial College London und des Royal College of Art durchaus funktionieren. Die europäischen Behörden könnten zudem in Zukunft auch drastische Massnahmen zur Verringerung der Fahrzeugmasse oder sogar der maximalen Drehmoment- und Leistungswerte beschliessen. Denn der Reifenverschleiss hängt vor allem vom Fahrstil des Fahrzeuglenkers ab. Doch auch die Fahrbahnen könnten und müssten hinsichtlich eines geringeren Abriebs qualitativ verbessert werden. Es sind alles Schritte, damit die bislang unersetzlichen Pneus noch lange Jahre ihren Dienst versehen können.
Eine aussergewöhnliche Erfindung
Eine zumindest atypisch anmutende Technologie wurde im Jahr 2020 mit dem begehrten James Dyson Award ausgezeichnet. Die Erfindung des Tyre Collective, ein Ingenieursteam des Imperial College London und des Royal College of Art, besteht in einer Art kleinem Staubsauger – es sei darauf hingewiesen, dass diese Technologie nichts mit den offiziellen Produkten des britischen Herstellers Dyson zu tun hat –, der die Feinpartikel aus dem Reifenabrieb direkt und an der Quelle aufsaugt. Laut den Informationen des Kollektivs ermöglicht das System, die Partikel durch einen Diffusor mit elektrostatischen Platten aufzusaugen. Diese sollen die Kautschuk-Mikropartikel direkt in einen Behälter absaugen, der dann während der Fahrzeuginspektionen regelmässig entleert werden kann. Diese Gummi-Kleinstpartikel können dann für die Reifenherstellung wiederverwendet werden. Das System für die Rückgewinnung von mehr als der Hälfte der emittierten Partikel wird über den Fahrzeuggenerator mit Strom versorgt.
«Jeder weiss, dass sich Reifen abnutzen, aber niemand fragt sich, wohin der Abrieb gelangt, und es hat uns schockiert zu erfahren, dass die Reifenpartikel der zweitgrösste Mikroplastik-Verschmutzer in unseren Ozeanen sind. Das Tyre Collective integriert die Werte der Nachhaltigkeit und der Kreislaufwirtschaft in die Produktentwicklung dank der Berücksichtigung des Reifenverschleisses an der Quelle», erklärt Hugo Richardson, ein Student des Kollektivs. Der von den Studenten entwickelte Prototyp soll bereits bei mehreren Automobilausrüstern auf reges Interesse gestossen sein.