Welches ist das zentrale Bauteil für die Bedienung eines Autos? So klar lässt sich das wohl nicht sagen, aber das Lenkrad ist sicher hoch im Kurs. Es ist aber auch eines jener Elemente, die irgendwann entwickelt und in kurzer Zeit perfektioniert worden und seither einfach gleich geblieben sind. Denn viele Revolutionen hat es an der Lenkung eigentlich nicht gegeben seit ihrer Einführung mit dem ersten Automobil.
Einer der ersten grossen Meilensteine war die Erfindung der Trapezlenkung und – eng damit verbunden – auch der Zahnstangenlenkung. Dann kamen die hydraulische, später die elektrische Servolenkung und das variable Lenkgetriebe. Was immer gleich blieb: das Lenkrad. Trotz einer steten Weiterentwicklung hat sich an seinem Grundprinzip kaum etwas verändert, seit es um die Jahrhundertwende von 1900 breite Anwendung im Automobil gefunden hat. Die markanteste Evolution sind wohl die zusätzlichen Bedienelemente, bei Tesla ist neuerdings sogar die Blinkerbetätigung auf das Lenkrad gewandert.
Lenkübersetzung als Problem für Tesla
Wird die grosse Revolution des Lenkrades mit der Verbreitung von autonomen Fahrsystemen bald kommen? Sobald das Auto dereinst komplett autonom fährt, benötigt es kein Lenkrad mehr. In abenteuerlichen Konzepten fährt das Lenkrad bei Nichtgebrauch ein, klappt zur Seite oder verschwindet sonst irgendwie. Solche Konzepte und Studien gibt es schon lange und viele (s. Box unten). Einige wenige, ausgefallene Ideen haben es in die Serienfertigung geschafft, wirklich durchsetzen konnte sich aber eigentlich keine davon. Die kleine Ausnahme ist vielleicht das I-Cockpit von Peugeot, bei dem der Blick auf das Kombiinstrument über das kleine, tief sitzende Lenkrad hinwegfällt anstatt durch das Lenkrad hindurch. War früher noch ein grosses Lenkrad zwingend nötig, damit es auch ohne Bärenkräfte bedient werden konnte, sind heute dank Servounterstützung kleine Lenkräder kein Problem mehr.
Einen Schritt weiter als Peugeot geht jetzt Tesla. Im Model S gibt es noch nicht einmal mehr ein Lenkrad, sondern bloss ein Steuerhorn, ähnlich dem eines Flugzeugs. Damit stellt sich aber ein Problem: Zwar lernt man in der Fahrschule, dass die Hände auf den Positionen zehn und zwei Uhr ans Lenkrad gehören, aber beim Manövrieren und Parkieren muss man des öfteren eben doch übergreifen, weil einige Umdrehungen am Lenkrad nötig sind, um die Räder von Anschlag bis Anschlag zu drehen. Wie soll das funktionieren, wenn die Hälfte des Lenkrades gar kein Lenkrad ist? Die ersten Tests mit der neuen Lenkung beweisen, dass genau dieses Problem beim Model S auftritt.
Das Entscheidende dabei ist die Lenkübersetzung. Ist diese gross, wird die Lenkung indirekt, was in der Stadt und bei Langsamfahrt hilfreich ist. Ist sie klein, wird die Lenkung direkt, was bei schnellem Fahren auf der Autobahn erwünscht ist. Damit Spurwechsel auf der Autobahn mit kontrollierten, feinen Lenkbewegungen möglich sind, gehen die Hersteller einen Kompromiss ein, der zur Folge hat, dass zum Manövrieren in der Stadt richtiggehend am Lenkrad gekurbelt werden muss, um von Anschlag zu Anschlag einzulenken.
Steer-by-Wire als Lösung
Im Schatten von Tesla hat auch ein anderer Hersteller ein Serienfahrzeug mit neuem Lenkraddesign vorgestellt: Toyota. Mit dem BZ4X liefert Toyota nicht nur das erste Elektroauto der Marke, sondern auch sonst einige revolutionäre Änderungen. Ob des kontroversen Aussendesigns ging das Interieur etwas unter. Ein Blick auf das Cockpit des BZ4X zeigt: Auch hier gibt es kein richtig rundes Lenkrad mehr, sondern eines in der Schmetterlingsform eines Formel-1-Lenkrades. Während die exzentrische Lenkradform bei Tesla auf den auch etwas exzentrischen Firmenchef zurückzuführen ist, gibt es bei Toyota einen handfesten Grund für die Gestaltung: Wie im I-Cockpit von Peugeot sind im BZ4X die Instrumente über dem Lenkrad platziert – wenn dieses kreisrund wäre, wäre die Sicht auf die Anzeigen versperrt. Toyota macht kein grosses Aufheben um die neue Anordnung und die komplett modifizierte Lenkradgestaltung. «Der sieben Zoll grosse TFT-Bildschirm des Instrumenten- und Informationsdisplay befindet sich oberhalb der Lenkradlinie und damit im natürlichen Blickfeld», ist das einzige, was die Japaner dazu
sagen.
Und Toyota hat auch das grösste Problem gelöst, das Tesla mit der neuen Lenkradform hat – das zwingend nötige Übergreifen in engen Kurven. Um das zu eliminieren, hat Toyota eine Lösung gefunden, die eher dem revolutionären Tesla zuzuordnen wäre als den soliden Japanern: Steer-by-Wire. Damit entfällt die mechanische Verbindung zwischen dem Lenkrad und dem Lenkgetriebe.
Die Idee ist nicht neu, und Toyota ist auch nicht der erste Hersteller, der das Problem angeht. Nissans Premiummarke Infiniti präsentierte bereits im Q50 ein Steer-by-Wire-System – vor neun Jahren! Damals war noch ein mechanisches Rückfallnetz mittels einer Verbindung zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe nötig, die zum Einsatz kommen sollte, falls das elektrische System ausfiel. Dies war unter anderem auch deshalb notwendig, weil die gesetzliche Vorgaben damals nicht so weit waren. In der Zwischenzeit ist aber einiges passiert, und die UNECE WP.29, ein UN-Forum, das die internationlen Regulatorien für Strassenfahrzeuge festlegt, hat bereits 2017 folgende Änderung in ihren Vorschriften vorgeschlagen: «Die fortschreitende Technologie, gepaart mit dem Wunsch, die Sicherheit der Insassen zu verbessern durch den Wegfall der mechanischen Lenksäule und die Produktionsvorteile, die mit der einfacheren Übertragung der Lenkung zwischen Links- und Rechtslenkern verbunden sind, haben zu einer Überprüfung des traditionellen Ansatzes geführt. Die Verordnung wird nun geändert, um den neuen Technologien Rechnung zu tragen. Dementsprechend sind jetzt auch Lenksysteme möglich, bei denen keine formschlüssige mechanische Verbindung zwischen der Betätigungseinrichtung der Lenkanlage und den Rädern besteht.» In anderen Worten: Eine Lenksäule ist nicht mehr nötig – und Steer-by-Wire wird möglich.
Vollständig variable Lenkübersetzung
Damit wird das Problem der Lenkübersetzung gelöst. Mit Steer-by-Wire ist eine stufenlos variable Lenkübersetzung möglich und ein rundes beziehungsweise rundherum greifbares Lenkrad keine zwingende Voraussetzung mehr. Bei schnellen Geschwindigkeiten kann die Lenkübersetzung direkter ausfallen, sodass mit geringer Bewegung am Lenkrad der Einschlagwinkel der Räder klein bleibt. Bei langsamen Geschwindigkeit, beispielsweise in der Stadt oder beim Parkieren, kann ein kleiner Einschlag am Lenkrad eine grosse Bewegung der Räder bewirken.
Die mechanische Variante eines solchen Systems, das den Einschlagwinkel des Lenkrades geschwindigkeitsabhängig verstärkt, haben bereits verschiedene Hersteller im Einsatz. Bei BMW heisst das dann Aktivlenkung, bei Audi Dynamiklenkung, und auch Porsche und andere Marken kennen solche Systeme – seit über 20 Jahren! Die technischen Grenzen der mechanischen Lösungen lassen sich aber nur durch die vollvariable Steer-by-Wire-Technik aushebeln.
Ob das rein elektronische Lenken Zukunft hat, steht derzeit in den Sternen. In einem Serienfahrzeug kommt es noch nicht zum Einsatz, der Toyota BZ4X wird bei seiner Markteinführung in diesem Jahr noch mit einer herkömmlichen Lenkung ausgestattet sein. Steer-by-Wire soll in Europa, so Toyota, frühestens 2023 homologiert sein. Es gibt aber bereits jetzt prominente Fürsprecher für das System. So sagte beispielsweise der ehemalige Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg nach Testfahrten mit einem mit Steer-by-Wire ausgestatten Audi R8: «Ich habe keinen einzigen Nachteil gespürt, auch Curbs oder kleinere Vibrationen waren zu spüren.» (S. AR 34/2021.) Wie bei so vielem gilt wohl auch bei der elektrsichen Lenkung und der Gestaltung der Lenkräder: Es ist einfach nur Gewohnheitssache. Was hat man geschimpft bei der Einführung der elektrischen Servolenkung vor rund zehn Jahren, über das synthetische, künstliche Lenkgefühl! Heute hat man sich einfach daran gewöhnt.
Ausgefallene Lenkräder gab es schon immer
Lancia Orca Concept (1982)
Von aussen sah der Lancia Orca wenig aufregend aus, fast ein wenig wie einer von Marcello Gandinis Citroën. Im Inneren dann die Überraschung: Ganz im Stil der 1980er-Jahre dominierten bunte LCD und ein massives Lenkrad mit allerlei Knöpfen.
Aston Martin Lagonda (1974)
Alles war irgendwie ausgefallen am Aston Martin Lagonda. Das Einspeichenlenkrad sollte eine freie Sicht auf die Bildschirme dahinter gewährleisten – als ob man die masslos überdimensionierten Instrumente irgendwie hätte übersehen können.
Austin Allegro (1973)
Quartic nannte Austin die Form seines Lenkrades. Der an vier Ecken ausgebeulte Kreis sollte das Einsteigen erleichtern und die Sicht auf die äusseren Instrumente nicht behindern. Der Misserfolg des Allegro war nicht nur dem Lenkrad zuzuschreiben.
Citroën DS (1955)
In den 1950er-Jahren gab es weder richtige Gurte noch Airbags. Bei einem Unfall bohrte sich die Lenksäule in die Brust des Fahrers. Die nach links abgewinkelte Lenksäule des DS sollte bei einem Aufprall den Körper des Fahrers zur Fahrzeugmitte lenken.
Eunos Cosmo (1990)
Die Japaner und ihre Marken: Eunos war die Oberklassemarke von Mazda für Japan und Australien und wurde später in Anfini integriert. Den Cosmo gab es mit Zwei- und Drei-Scheiben-Wankelmotor – und einem ausgefallenen Zwei-Speichen-Lenkrad.
Maserati Boomerang Concept (1971)
Die kantige Designsprache des Boomerang zog sich noch lange weiter in spätere Modelle von Giorgetto Giugiaro. Ganz im Gegensatz dazu das Lenkrad mit den zentralen Instrumenten und Bedienelementen – da blieb der Boomerang einzigartig.
Seat Ronda (1982)
Eigentlich war der Ronda nur ein Ritmo mit eckigen Scheinwerfern, und auch das Interieur war alles andere als ronda, wie die quadratischen Instrumente und der rechteckige Lenkradtopf beweisen. Ab 1984 gab es ihn auch mit Motoren von Porsche.
Subaru XT (1985)
Von einem Kampfjet soll das Cockpit des zweitürigen Subaru XT inspiriert gewesen sein. Wieso es da ein komplett asymmetrisches Lenkrad braucht? Man weiss es nicht. Die 1980er-Jahre waren eine sehr verrückte Zeit.