Zuerst die gute Nachricht: Die Anzahl der Verkehrsopfer auf Schweizer Strassen sinkt ständig. Und nun die schlechte: Nicht allen Verkehrsteilnehmern kommt diese Tendenz gleichermassen zugute. Von den Schwächsten unter ihnen, den Fussgängern und Velofahrern, sterben in der Schweiz noch immer zu viele. Das Bundesamt für Strassen (Astra) meldet, dass im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 15 Fussgänger das Leben verloren haben, im Jahr davor waren es 16. Acht Radfahrer verunfallten im selben Zeitraum tödlich, neun waren es im ersten Halbjahr 2020.
Die Velofahrer verunglücken in den meisten Fällen ohne Fremdeinwirkung, was die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) auf die Fortschritte in der Autokonstruktion zurückführt. Der automatische Notbremsassistent – der bei einer drohenden Kollision an Stelle des Fahrers eine Vollbremsung auslöst – erfasst in moderen Fahrzeugen auch Fussgänger und Radfahrer. Laut einer gemeinsamen Studie der BFU und ihres österreichischen Pendants, des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV), von Ende September könnten bis zu 50 Prozent der Zusammenstösse mit Radfahrern allein durch dieses Assistenzsystem vermieden werden. «Zu diesen Schätzwerten kommen wir anhand einer Recherche zu internationalen Studien, die meist unter kontrollierten, standardisierten Bedingungen stattfanden», meint Markus Deublein, Experte der BFU für automatisiertes Fahren. «Mit unseren Versuchen wollten wir hingegen testen, wie sich der Notbremsassistent unter realitätsnahen Bedingungen verhält.»
Reale Tests statt nur im Labor
Die Experten von BFU und KFV hegen nämlich den Verdacht, dass der Notbremsassistent hauptsächlich für eine gute Einstufung bei den Euro-NCAP-Tests entwickelt wurde. BFU und KFV haben deshalb die elektronischen Schutzengel nachts bei Regen und Nebel getestet. Beide Institute schickten auch Dummys mit E-Rollern vor die Räder der Testautos, eine Disziplin, die der Euro-NCAP-Test nicht vorsieht. BFU und KFV wählten dafür drei Autos aus, die in den Jahren 2014, 2017 und 2019 homologiert wurden, um die Fortschritte automatischer Notbremssysteme über einen Zeitraum von mehreren Jahre zu bewerten. Das Auto von 2014 arbeitet mit der Kombination mehrerer Sensorenwerte, um ein Hindernis zu erkennen, das Fahrzeug von 2017 verfügt dafür über eine Kamera und das von 2019 über ein Radarsystem. Die Experten aus der Schweiz und Österreich führten ihre Tests bei Carissima (Center of Automotive Research on Integrated Safety Systems and Measurment Area) in Ingolstadt (D) durch, das über eine Innen- und Aussenteststrecke verfügt.
Katastrophal bei Worst-Case-Szenario
Tageslicht, Dunkelheit, Regen, Nebel, verändertes Tempo: Die Experten von BFU und KFV simulierten unterschiedliche Bedingungen, die zu insgesamt 200 unterschiedlichen Tests führten. Ohne Überraschung zeigten sich bei den einfachsten Szenarien (Tageslicht und Sonnenschein) alle drei Systemgenerationen als zuverlässig oder sogar sehr zuverlässig. Fast immer wurde das Hindernis erkannt, die Bremsung erfolgte rechtzeitig. Nur das älteste Auto hatte Schwierigkeiten, den E-Roller zu erkennen (in 35 und 67 Prozent der Fälle). Im Gegensatz dazu waren nachts und/oder bei schlechtem Wetter die Reaktionen der drei Probanden wesentlich ungünstiger oder sogar katastrophal. Unter den schlechtesten Voraussetzungen (nachts bei schlechtem Wetter) konnte kein elektronisches System den Erwachsenen oder das Kind auf der Fahrbahn erkennen, geschweige denn die Kollision vermeiden. Ausserdem reagierten die drei Fahrzeuge auch schlechter bei den Indoor-Tests, wenn eine Tunneldurchfahrt simuliert wurde. Laut Meinung der Experten störten die künstliche Beleuchtung sowie die Reflexion der Betonwände die elektronischen Augen der Probanden. Generell schnitt der jüngste Kandidat mit Radartechnologie bei allen Tests besser ab als das älteste Testauto.
In Anbetracht dieser Testergebnisse sehen die Forscher der beiden Unfallverhütungsstellen BFU und KFV lieber das halbvolle Glas. «Die Notbremsassistenten können bereits Leben retten und verfügen über ein wesentliches Verbesserungspotenzial der Verkehrssicherheit», schlussfolgert Klaus Robatsch, Ingenieur und Leiter der Abteilung Verkehrssicherheit des KFV. Aber der Experte sieht Verbesserungsmöglichkeiten: «Bei schlechten Witterungsbedingungen und ungünstigen Lichtverhältnissen erkennen die Fahrzeuglenker die anderen Verkehrsteilnehmer weniger gut. In solchen Situationen müssen die Notbremssysteme deshalb umso zuverlässiger reagieren», so sein Fazit. Robatsch wünscht sich, dass Euro-NCAP die Testprotokolle entsprechend anpasse.
Die EU ist sich der Bedeutung der Notbremssysteme schon länger bewusst. Bereits 2019 entschied sie, Automated Emergency-Braking (AEB) für Neuhomologationen ab 2022 und Neuimmatrikulationen ab 2024 vorzuschreiben. Erst ab dem Jahr 2026 müssen Neuzulassungen verbindlich mit einem automatischen Notbremsassistenten mit Fussgängererkennung ausgerüstet sein.