Autor: Martin Sigrist
Es gibt viele gute Gründe, sich nie vom ersten Auto zu trennen, das man je besessen hat. Der Autor etwa pflegt seinen ersten Wagen seit 30 Jahren. Allerdings ist dies kaum je der Plan bei Neu- und Junglenkern. Denn meistens ist das erste Auto gerade das, was ins Budget gepasst hat. Oder es ist gar ein abgeschobenes Erbstück, weitergegeben, auf dass sich der Nachwuchs daran austoben kann, ohne allzu viel Schaden anzurichten. Es gibt hingegen Eltern, die um das Wohl ihrer Kinder besonders besorgt sind und ihnen aus verschiedenen Gründen nahelegen, bei der Autowahl besonnen zu handeln. Martin Prunder, ehemaliger Gefängnisdirektor der Strafanstalt Lenzburg AG, hat mit 19 Jahren das Geld für ein ordentliches Auto erhalten, oder zumindest für einen neuen Kleinwagen. Einen Döschwo etwa, der brachte damals zwölf PS an die Fliehkraftkupplung, und fuhr schadlose 80 Kilometer pro Stunde. 135 PS für dasselbe Geld und viermal mehr Zylinder tönen allerdings weit attraktiver. Der Wagen, auf den der frischgebackene Maturand Prunder sein Auge geworfen hatte, stammte wie das dünnwandige Existenzialistenfahrzeug aus Frankreich. Zumindest damit schien die Wahl eines fast 25-jährigen Bugatti T57 Ventoux doch geradezu ideal.
Traumwagen
Dass er einen Bugatti haben wollte, wusste Pfrunder schon früh. Er erinnert sich noch genau an den Moment, als seine Begeisterung für die Marke erwachte. Der spätere Bugattiste war mit den Eltern direkt nach dem Krieg unterwegs in Frankreich – «mit einem neuen 1946er Armstrong Siddeley, einem fürchterlichen Auto». Vor einer Apotheke sei, nachdem er mit dem Vater dort etwas gegen die Magenverstimmung der Mutter besorgt habe, ein fantastisches Auto parkiert gewesen: «Mit einem riesigen Kühler, damals als Fünfjähriger habe ich hochgeschaut», erzählt Pfrunder. «Ganz oben prangte eine Art Coca-Cola-Logo.» Der Dreikäsehoch war des Lesens noch nicht mächtig. «Ein wunderbares Parfum, es roch herrlich nach heissem Wasser, nach Öl, Maschinenduft. Mein Vater meinte in einem ehrfürchtigen Ton: ‹Das ist jetzt ein Bugatti.› So war es für mich fortan klar, mein erstes Auto müsse ein Bugatti sein.»
Bereits als Gymnasiast dachte Pfrunder an den Moment, in dem er endlich sein Auto kaufen würde. 1958 oder 1959 fing er an, die Augen offen zu halten, denn die Abmachung mit den Eltern lautete: Zuerst die Matur, dann ein Auto – oder präziser: ein Bugatti.
Bei Stein AG in der Nähe von Kaiseraugst AG stand damals, abgestellt in einem Schopf, ein Typ 50, ein als Tourenwagen getarnter Rennwagen mit durch lauter Löcher erleichtertem Chassis und grossem Fünfliter-Reihenachtzylinder-DOHC-Motor mit riesigem Kompressor. «Der Kompressor war so riesig, dass es schien, als falle er einem nach dem Öffnen der Haube entgegen. Viktor Zähner, der Mechaniker aus unserem Betrieb, den mir Vater extra mitgeschickt hatte, konnte leider den Zündmagneten nicht richtig interpretieren und meinte, da müsse man allerlei Kabel ergänzen, was dann teuer sei. Dieser sagenhafte Wagen war der Anfang einer langen Reihe von Autos, die ich heute leider in der Rubrik verpasste Chancen ablegen muss.» Doch dann tauchte der Type 57 Ventoux auf. Neu ausgeliefert an die bekannte Apotheker-Familie De Toledo in Genf, stammte der Wagen aus erster Hand, der designierte Zweitbesitzer, der das Auto bei der Garage Buess kaufen wollte, tauchte nie mit dem Geld auf. Mit dem O. k. von Herrn Zähner, ein geduldiger Lehrmeister, in der Tasche gab es zu Hause schliesslich grünes Licht. «Die Mutter war sofort Feuer und Flamme, bei Vater dauerte es etwas länger», meint der heute zu den langjährigsten Bugattistes der Welt zählende Pfrunder. Ein Verwandter schenkte dem 19-Jährigen schliesslich nicht nur das Nummernschild, sondern auch gleich die Einlösung samt Versicherung für ein Jahr. Und so ungewöhnlich es heute tönt, dass ein Student im Bugatti zur Universität fährt, so ungewöhnlich war es auch damals. Und im Nachgang zur eben erst, laut Martin Pfrunder mit einigem Schweiss und Tränen, errungenen Maturität erschien ihm aus der Perspektive eines Bugattiste nun manches doch etwas versöhnlicher. Etwa der Umstand, dass der Mathematiklehrer am Gymnasium doch tatsächlich ebenfalls ein Bugatti-Fahrer war, damals übrigens nur mit einer Laternengarage. Dessen Bugatti 57 Cabriolet, wohl ein Stelvio, stand tatsächlich jahrein, jahraus in Basel am Unteren Rheinweg draussen auf der Strasse – das waren wahrlich andere Zeiten.
Eintauchen in eine verlorene Welt
Der frischgebackene Jurastudent hatte für den Erhalt der Fahrtüchtigkeit seines neuen Autos wenig Wahl, denn während beispielsweise ein Döschwo über ein dichtes Servicenetz verfügte, so gab es für den Bugatti damals nur einen Ort, dafür mit einer unzweifelhaften Kompetenz: das Bugatti-Werk in Molsheim (F) selber. Und dort scheint man dem Jungspund sehr aufgeschlossen gegenübergetreten zu sein. Wie die von Pfrunder sorgsam aufgehobenen Neujahrsgrüsse etwa von Atelierchef François Seyfried beweisen, pflegte das Werk seinen wohl jüngsten Kunden mit grosser Zuvorkommenheit. Pfrunder schmunzelt und zieht die Rechnungen mit Bugatti-Briefkopf aus seinen Ordnern. «Eine Motorrevision, vermutlich in grossen Teilen von jenen Leuten ausgeführt, die den 3.3-Liter-DOHC-Reihenachtzylinder 25 Jahre zuvor gebaut hatten, kostete damals 3500 Franken. Wenn etwas fehlte am Auto, dann lag es im Ersatzeillager bereit, etwa ein nagelneues Originallenkrad. Kostenpunkt für das klassische Bugatti-Vierspeichenvolant mit Holzkranz: umgerechnet 70 Franken.» Das alte Lenkrad hängt bei Martin Pfrunder an der Garagenwand.
«Manches im Werk war inzwischen aber desolat, auch das Schloss, das Château St-Jean, oder das Teehaus. Im Park fand ich einen rostigen Haufen, es waren jene geschmiedeten Vorderachsen, für die Bugatti bis heute berühmt ist. Ich solle mitnehmen, was ich brauchen könne, meinte François Seyfert», erinnert sich Pfrunder.
In einer Halle standen jeweils die voitures des clients. Bugatti, selbst wenn das letzte Auto, der im Prinzip gescheiterte Type 101, ein leicht modernisierter 57, bereits 1956 gebaut worden war, pflegte seine Kundschaft weiterhin in der Art und Weise, wie man es von einem Unternehmen seines Rangs erwarten durfte. Wenn ein Teil nicht zur Verfügung stand, so existierten immerhin die entsprechenden Blaupausen. Selbst für allfällige Verbesserungen, Martin Pfrunder nennt seine von Hebel- auf Teleskopstossdämpfer umgebaute Aufhängung, lieferte Bugatti die entsprechenden Pläne zum richtigen Umbau älterer Modelle. Die Plansammlung ging erst mit der Liquidation Bugattis im Nachgang zum Scheitern des EB110 unter Romano Artioli verloren. Er hatte diese als eines der wenigen physischen Assets beim Erwerb der Marke von Hispano-Suiza Messier Bugatti übernommen.
In der alten Fabrik in Molsheim war erst 1967 Schluss mit Kundenarbeiten, vieles, was noch da war, wurde von den Gebrüdern Schlumpf gekauft. Fortan war die Fabrik als Teil von Hispano-Suiza ausschliesslich ein Rüstungsbetrieb und Flugzeugbau-Zulieferer. Roland Bugatti, jüngster Sohn von Ettore Bugatti, hatte das Familienunternehmen bereits 1963 verkauft.
Schraubergemeinschaft
Keine Frage, als Enthusiast einer kleinen Marke war es auch für Martin Pfrunder unabdingbar, sich mit gleichgesinnten zusammenzutun. Ein bekannter und wichtiger Kontakt zu anderen Bugattistes war der Autosammler und Bankier Charles Renaud aus Cortaillod NE, Stifter der heutigen Fondation Renaud. Dazu gab es in den frühen 1960er-Jahren ein jährliches Meeting der Bugattistes im Château Klingenthal in den französischen Vogesen. «Das Hotel war keineswegs etwa luxuriös, Duschen und WC gab es auf dem Gang. Und das Ganze lief in etwa so, dass die Damen zusammen Kaffee tranken, strickten und dergleichen und die Männer draussen an ihren Autos herumschraubten und fachsimpelten. Das waren wahre Enthusiasten aus ganz Europa, keine überkandidelten Snobs. Damals war Bugatti eine fast vergessene Marke, und keinem vernünftigen Menschen wäre es in den Sinn gekommen, ein altes Auto als Wertanlage zu verstehen, das hat sich grundlegend geändert». Der Kaufbeleg für Martin Pfrunders Bugatti T57 Ventoux liegt vor uns auf dem Tisch. 6500 Franken hat Pfrunder damals bezahlt. 60 Jahre später ist er noch immer damit unterwegs. Dank Enthusiasten wie ihm hat sich die Marke ihre einmalige Aura bewahrt. Und Geld oder gar eine künftige Wertsteigerung spielte damals keinerlei Rolle.
Leichtigkeit des Fahrens
Kein Zweifel, mit seinen rund 140 PS war der Bugatti T57 ausgesprochen sportlich. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist aber, wie unglaublich ruhig der Reihenachtzylinder seine Arbeit verrichtet. Das gilt sowohl bezüglich Vibrationen wie auch akustisch. Einzig das Wimmern der Zahnradkaskade zum Antrieb der beiden Nockenwellen ist omnipräsent.
Um zügig vorwärts zu kommen, braucht der 3.3-Liter-Motor kaum je mehr als 2500 Umdrehungen. Im Gegensatz zu manch anderer Konstruktion aus dieser Zeit würde er jedoch bis gegen 5000 Umdrehungen klaglos verkraften. Doch das ist völlig unnötig, der Motor zieht aus tiefstem Drehzahlkeller absolut ruckfrei hoch. Das Viergang-Getriebe ist unsynchronisiert. Die Federung ist derweil erstaunlich geschmeidig, von Achspoltern etwa ist keine Spur.
Zwar war die starre Vorderachse des Bugatti bereits Mitte der 1930er-Jahre nicht mehr state of the art, aber vermutlich gehört sie zum Besten, was dieses Konstruktionsprinzip überhaupt hergeben konnte. Seiner sportlichen Bestimmung gerecht werdend stets als Rechtslenker gebaut, zeigt der 57 ein normales Bedienschema mit Kupplung-Bremse-Gas, während andere damals noch auf Mittelgas vertrauten. Die Sitze seines Ventoux, sehr moderne Rohrsitze, deren Kissen zum Teil mit Knöpfen daran befestigt waren, liess Pfrunder während einer gründlichen Überholung bei der Schweizer Karossierlegende Walter Köng in Basel dicker aufpolstern, sodass das Rohrwerk seither fast komplett verdeckt wird. Komfort beim Fahren war ihm wichtiger als der Originalzustand des Autos. Martin Pfrunder weist auf verschiedene Detailänderungen hin, welche Walter Köng ihm an seinem Wagen nahelegte. So schnitt Köng die Kotflügel vorne etwas höher. «Damit man die Vorderachse besser sieht, ganz im Sinne Ettore Bugattis», erklärt Pfrunder. Auch zog er die Kotflügel etwas weiter unter die Türen, ergänzte einige Beschläge, etwa um den Tankstutzen herum oder an den Türscharnieren, oder umsäumte die hinteren Kotflügelabschlüsse mit einer kleinen Kante, die dem Wagenabschluss mehr Boden verleiht. Bei jedem anderen würde man vermutlich heute von solchem Tun Abstand nehmen, mit Walter Köng hingegen hat ein Meister einer bereits meisterlichen Vorlage seinen letzten Schliff verpasst. Die 54 Jahre seit diesen Arbeiten und der Neulackierung sind fast spurlos an dem Auto vorbeigegangen. Die Qualität der damals ausgeführten Arbeiten gebietet einem Ehrfurcht.
Pfrunder stoppt den Motor, steigt aus, der Bugatti T57 Ventoux sieht aber aus, als wäre er noch immer in Bewegung. Man merkt dem Besitzer an, dass die meisten seiner Bewegungen und Handgriffe tief eingebrannt sind. Es ist tatsächlich eine langjährige Beziehung zwischen ihm und seinem Auto. Und sollte dereinst die Hand des Lenkers dazu nicht mehr in der Lage sein, steht die nächste Generation schon bereit. Eine von Martin Pfrunders Töchtern ist bereits seit Jahren mit Begeisterung engagierte Bugatti-Fahrerin.
Toller Artikel. Wunderschöne Geschichte. Bitte mehr davon.
Welch wunderbare Geschichte!