Maserati MC20: atemberaubender Neptun

Maserati ist in der Kategorie der Supersportler schon ­längere Zeit nicht mehr in Erscheinung getreten. Nun feiert der Hersteller mit dem MC20 ein ­donnerndes Comeback.

Seit dem extremen und extrem seltenen Maserati MC12 sind 15 Jahre vergangen, und die Zeit ist reif für einen neuen Supersportwagen mit Dreizack. Aber heute ist es ist nicht mehr so leicht, in der Welt der Supersportwagen zu beeindrucken. Bei diesen extremen Geschöpfen gehören Superlative zur Norm. Mit der Vorstellung des MC20 im vergangenen Jahr sorgte Maserati jedoch für eine kleine Sensation. Natürlich gibt es Autos, die mehr Leistung oder eine noch bessere Performance aufweisen als der 630 PS starke Italiener. Überraschend beim MC20 ist jedoch, dass er komplett von Maserati selbst gefertigt wird – inklusive Motor. Noch besser: Der Supercar mit dem Dreizack schickt sich sogar an, Ferrari in einigen Punkten zu übertreffen. Das gemeinsam mit Dallara entwickelte Karbon-Monocoque-Chassis ist vom Feinsten und kommt so in Maranello (noch) nicht zum Einsatz. Eine hübsche Revanche von Maserati.

Seit die AUTOMOBIL REVUE bereits im vergangenen Winter die Möglichkeit hatte, den Prototyp des MC20 auf der Rundstrecke zu testen (hier zum Bericht), hat Maserati jetzt noch einmal an seiner neuen Speerspitze gefeilt. Bereits damals war die Agilität des Mittelmotorcoupés auf der Rennstrecke überwältigend, aber einige Punkte, wie die Präzision der Vorderachse und das Gefühl am Bremspedal der Karbon-Keramik-Bremse, liessen noch zu wünschen übrig. Bei den ersten Tests auf öffentlichen Strassen fuhren so natürlich auch diese beiden Punkte im Hinterkopf mit.

Würdevoll an Bord steigen

Die Batmobil-ähnlichen Türen sollen nicht nur beeindrucken, sondern erleichtern auch den Einstieg. Es braucht keine schlangenmenschartigen Verrenkungen, um in die eng anliegenden Schalensitze zu gleiten. Dazu trägt auch die recht hohe Sitzposi­tion bei, die höher über dem Asphalt liegt als in ­einem McLaren beispielsweise – aber sicher tiefer und besser als in einem Audi R8.

Einmal im Fahrersitz fällt als erstes auf, wie geräumig der Innenraum anmutet. Dieses Gefühl wird durch den sehr übersichtlichen, ja minimalistischen Look des Armaturenbretts noch unterstrichen. Schlichtes und elegantes Leder und Alcantara schmeicheln dem Auge. Und da man bei Maserati offenbar mehr als genügend Karbon auf Lager hat, hat man es auch für die Abdeckung der Instrumententafel verwendet. Das Ergebnis ist schön anzusehen, aber die Ästhetik geht auf Kosten der Praktikabilität: Das edle Material spiegelt sich im unteren Teil der Windschutzscheibe. Dasselbe gilt für den in den Innenspiegel integrierten Bildschirm der Rückfahrkamera, der je nach Lichteinfall zu Reflexionen neigt.

Mit an Bord sind noch zwei weitere Bildschirme: einer für die Instrumentierung, der andere für das Infotainment und die Bedienung der Klimaanlage. Die etwas umständliche Temperatureinstellung über den Bildschirm führt dazu, dass man den Blick zu lange von der Strasse abwendet. Bis zum Beweis des Gegenteils gibt es auch weiterhin nichts Einfacheres als einen Drehregler.

Der ­Innenraum ist sehr sauber und schlicht gehalten.

Handzahm im Alltag

Der Sechszylindermotor startet mit einem dumpfen Knurren, ohne jedoch zu übertreiben. Nichts erwärmt das Herz mehr, als die exquisite Technik des Nettuno, so der Name dieses Meisterwerks der Ingenieurskunst, zum Leben zu erwecken. Wir fahren erstmal im GT-Modus, dem Profil für den Alltag. Gasannahme, Schaltgeschwindigkeiten und die Härte der Dämpfung sind auf Alltagstauglichkeit abgestimmt.

Trotz des Trubels in der Stadt bleibt der Italiener gelassen. Die Reaktionen auf das rechte Pedal sind geschmeidig, und das Fahrzeug lässt sich trotz seiner Länge von 4.69 Metern und seiner Breite von 1.97 Metern leicht handhaben. Unsere Augen nehmen unzählige Brüche und Risse im Asphalt wahr, die unsere Lendenwirbel jedoch kaum spüren, denn unter uns arbeitet ein adaptives Fahrwerk, das all diese Unebenheiten ausgleicht. Erwähnenswert ist, dass die Härte der Dämpfer unabhängig vom Fahrmodus über eine Taste eingestellt werden kann. Alles perfekt? Nein, bei leichter Verzögerung in kaltem Zustand sind die Karbon-Keramik-Bremsen etwas gewöhnungsbedürftig, ein typisches Problem von Keramikbremsen. Wer nicht vorhat, mit seinem MC20 auf die Rennstrecke zu gehen, wird sich somit mit den traditionellen Stahlscheiben deutlich wohler fühlen.

Inzwischen erreichen wir einige Bergstrecken, sodass es an der Zeit ist, in den Sport-Modus zu wechseln. Der MC20 wird deutlich nervöser, die Lenkung wird schwergängiger und die Federung steifer. Offenbar etwas zu steif angesichts der schlechten Strasse, denn wir verlieren die Trak­tion. Mit einer etwas weicheren Dämpfereinstellung finden wir doch noch den perfekten Kompromiss für die Strasse, die vor uns liegt. Dergestalt, dass man nicht anders kann, als sich in den Italiener zu verlieben. Der MC20 wirft sich so flink und leichtfüssig in die Kurven, dass sich unsere Bedenken bezüglich der Spurtreue der Vorderachse schnell zerstreuen. Die Lenkung reagiert fast telepathisch auf Befehle des Fahrers, so direkt und präzise arbeitet sie. Also fordern wir den Supersportwagen zu ­einem Tango mit immer enger werdenden Kehren auf, bei dem sich der MC20 mit atemberaubender Agilität und Leichtigkeit von einer Kurve in die nächste wirft.

Der Neptun brüllt

Bei unserer ersten Begegnung im Dezember hatten wir die Fahrdynamik mit der des Renault Alpine verglichen – ein Eindruck, den wir auch auf offener Strecke bestätigen können. Allerdings mit ­einem beträchtlichen Unterschied, denn hinter uns thront ein wilder, 630 PS starker V6-Motor mit Biturbo, der für den Spurt von 0 auf 100 km/h nur 2.9 Sekunden braucht und für eine Höchstgeschwindigkeit von 326 km/h sorgt.

Der Nettuno schwingt ab 3000 Umdrehungen pro Minute frenetisch seinen Dreizack. Ab dann sorgen 730 Nm Drehmoment für einen atemberaubenden Schub des Triebwerks, die Beschleunigung ist spektakulär, die 1475 Kilogramm des Fahrzeugs sind wie weggeblasen. Die Kraftentfaltung ist eher linear als explosiv, aber das Ergebnis beeindruckt durch seine Unerbittlichkeit, praktisch bis zum Begrenzer. Dabei bietet auch ein Gangwechsel kaum Zeit zum Verschnaufen, denn das Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe schaltet blitzschnell.

Wir erreichen die letzte Etappe unserer Ausfahrt, das Autodromo di Modena, wo wir den Corsa-­Modus aktivieren. Dort, wo er eigentlich zu Hause ist und seine Kraft ungebändigt voll zur Geltung bringen kann, zeigt sich der MC20 von seiner besten Seite. Er gibt sich spielerisch, geht bei Bedarf willig quer, jedoch ohne hinterhältige Fallstricke. Es ist diese Beherrschbarkeit bei gleichzeitig überragender Performance sowohl auf dem Rundkurs als auch auf offener Strecke, die den MC20 zu einem Supersportwagen mit der Seele ­eines Gran Turismo macht. Eine Mischung aus Wildheit und Eleganz, die bestens zum Image von Maserati passt.

Die technischen Daten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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