Mitte der 1970er-Jahre kamen die Verantwortlichen des Walliser Ferienorts Zermatt auf die Idee, individuelle Mobilität im Ort auf Elektrofahrzeuge zu beschränken. Ob man die Idee nun gut findet oder nicht – man muss feststellen, dass sie zahlreiche Nacheiferer gefunden hat. Viele grosse europäische Städte prüfen derzeit Projekte, welche eine Einschränkung der Mobilität auf Elektrofahrzeuge plant. Darunter auch Schweizer Städte: Lausanne hat kürzlich die Absicht geäussert, ab 2030 alle Verbrennungsmotoren zu verbannen. Aber wie hat es das hoch gelegene, kleine Walliser Dorf geschafft, Ende der 1970er-Jahre ein Mobilitätsmodell einzuführen, worüber die Grossstädte heute gerade einmal nachzudenken beginnen? Um diese Frage zu beantworten, reiste die AUTOMOBIL REVUE in die kleine Montagewerkstatt des Unternehmens Stimbo am Fusse des Matterhorns, wo vor 70 Jahren alles begann.
«In den 1950er-Jahren gab es in Zermatt abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie sehr teuer waren und die Leute sie nicht wirklich brauchten», erzählt Raphael Imboden, Maschinenbauingenieur bei Stimbo, einem Unternehmen, das in Zermatt Elektrofahrzeuge baut. Ausserdem seien die Strassen zwischen St. Niklaus, Täsch und Zermatt in keinem sehr guten Zustand gewesen. «Und auch wenn sich einige Autofahrer dazu entschieden, mit dem Auto hierher zu fahren, wurden sie gebeten, am Dorfeingang zu parkieren», fügt Imboden hinzu. Aus diesem Grund setzten sich im alpinen Dorf bald Pferd und Kutsche als geeignetes Transportmittel durch. «Damals betrieb mein Grossvater Heinrich Imboden mit neun Kutschen ein Taxiunternehmen. Sie beförderten die Touristen von ihrem Hotel zum Bahnhof und zu den Restaurants.»
Die ersten Autos
Da die Zahl der Touristen immer mehr anstieg, florierte das Unternehmen, und 20 Jahre später – Ende der 1970er-Jahre – übernahm Heinrichs älterer Sohn Stefan die Führung des Unternehmens. «Damals fand ein Umdenken statt: Die Menschen wollten die Pferde nicht mehr so stark beanspruchen», erzählt Raphael Imboden. Zudem waren die Pferdetaxi ein enormes logistisches Unterfangen: «Wenn ein Kunde mitten in der Nacht ein Taxi brauchte, dann musste mein Grossvater, mein Onkel Stefan oder mein Vater Bruno aufstehen, in den Stall gehen, die Pferde bereit machen, zum Restaurant fahren, den Kunden abholen und ihn vor seinem Hotel absetzen, in den Stall zurückfahren, die Pferde abstellen und wieder zurück nach Hause gehen. Das war bei Weitem zu zeitaufwendig für fünf Minuten Arbeit.» Um die Abläufe zu vereinfachen, kam die Familie Imboden auf die Idee, das Pferd durch ein kleines Elektrofahrzeug zu ersetzen. Dazu kaufte das Taxiunternehmen Imboden zwei Fahrzeuge von Pfander, einem Schweizer Automobilhersteller von Industriefahrzeugen, den es heute nicht mehr gibt. Grossvater Imboden, seine Söhne und Mitarbeitenden benutzten die beiden Fahrzeuge eine Zeit lang, bis diese von der Polizei beschlagnahmt wurden: «Die Polizei sagte erst, dass sie die Fahrzeuge nicht benutzen dürften, ehe sie die Meinung änderte und erlaubte, die Autos ausschliesslich am Samstagabend im Dorf zu fahren, wenn aufgrund des grossen Touristenansturms mehr Taxifahrer benötigt wurden.» Die Polizei stellte fest, dass das Zusammenspiel der kleinen Fahrzeuge und der Dorfgemeinschaft gut funktionierte, und zeigte sich deshalb immer nachsichtiger: «Später durften die Pfander an Samstagen auch tagsüber fahren. Und danach auch nachts unter der Woche.» Das Phänomen entwickelte sich weiter, und Zermatt musste Anfang der 1980er-Jahre entscheiden, ob Elektrofahrzeuge auf den Strassen erlaubt sein sollten. Die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sagte Ja. Aber das Gesetz besagte, dass die Fahrzeuge komplett elektrisch sein müssen, nicht länger als vier Meter, nicht breiter als 1.4 Meter und nicht höher als zwei Meter sein und nicht schneller als 20 km/h fahren dürfen. Im Nachbardorf Saas-Fee wurde dieselbe Änderung eingeführt, allerdings mit einem kleinen Unterschied. «Saas-Fee hat die Breite der Fahrzeuge auf 1.3 Meter beschränkt», sagt Raphael Imboden amüsiert.
Anfänge mit Pfander
Bis dahin baute das Transportunternehmen Imboden keine Fahrzeuge. «Es reparierte oder verbesserte die Pfander nur. Es stellte nichts her», erzählt Raphael Imboden. Und fügt hinzu: «Und dann kam mein Vater Bruno ins Unternehmen.» Eine grosse Veränderung: Nach seiner Lehre bei der ABB in Zürich-Oerlikon entschied er sich, eigene Elektrofahrzeuge zu bauen. Der Beginn eines grossen Abenteuers für die neu gegründete Stimbo (ST für Stefan, IM für Imboden und BO für Bruno): «Sie nutzten ihre Erfahrung aus den Reparaturen der Pfander, um Fahrzeuge herzustellen, die besser an die Gegebenheiten der Bergdörfer angepasst waren.» Die Familie Imboden musste zahlreiche Bemühungen anstellen, um an die mechanischen Teile zu gelangen: «Die grössten Posten sind das Fahrwerk (es kommt von der Heinrich Brenner AG) und die Arbeitszeit. Zudem kommen einige Elemente aus Italien, Deutschland oder England.»
Heute wird vermehrt lokal gearbeitet: «Seit 1996 werden die Fahrzeuge komplett im Wallis konstruiert, denn die Metallbauwerkstatt Heinrich Brenner in Gampel kümmert sich um die Herstellung des Chassis.» Die Karosserie wird vom Unternehmen Pollinger in St. Niklaus, ein paar Kilometer davon entfernt, gefertigt. «Natürlich unterhalten wir mit diesen beiden Unternehmen sehr enge Beziehungen, zumal wir seit Jahrzehnten mit ihnen zusammenarbeiten», bekräftigt Raphael Imboden. Sobald Chassis und Karosserie vereint sind, wird das Fahrzeug nach Zermatt in die Werkstatt von Stimbo transportiert: «Hier stellen wir das Fahrzeug fertig, das heisst, wir montieren die Türen, die Fenster, die elektrische Verkabelung, die Batterien, die elektrischen Anlagen, die Radachsen, die Sitze, die Lenkung (hydraulisch – Red.), das Heizsystem und so weiter.» Es mag zwar ungewöhnlich erscheinen, doch am Fusse des Matterhorns – an einem der schönsten und teuersten Orte der Welt – gibt es tatsächlich eine Automobil- Fertigungsstrasse. Selbst wenn das Werk von Stimbo natürlich nicht viel grösser als eine Autowerkstatt ist. «Das liegt daran, dass wir nicht mehr als ungefähr 15 Fahrzeuge pro Jahr produzieren», erklärt Raphael Imboden.
Eine Produktion nach Mass
Nach Angaben von Imboden vergehen bei Stimbo vom Design über die Entwicklung bis hin zur Produktion eines Fahrzeugs mehr als drei Monate: «Jeder Kunde hat spezifische Anforderungen an die Anzahl Personen, die er befördern möchte, oder an die gewünschte Nutzlast. Die Fahrzeuge von Stimbo können wahlweise mit einem Heck-, Front- oder Allradantrieb ausgestattet werden. Die Batteriekapazität variiert je nach gewählter Technologie. Bei Verwendung der Lithium-Ionen-Technologie können die Akkus eine maximale Kapazität von 43 kWh erreichen. Dies ermöglicht dem 1.7 Tonnen schweren Fahrzeug eine Reichweite von 120 bis 130 Kilometern. Kurzum, alle unsere Fahrzeuge werden nach Wunsch unserer Kunden hergestellt.» Aber wer sind die Kunden von Stimbo? In Zermatt ist die Anzahl Elektrofahrzeuge durch die Gemeinde gesetzlich auf ungefähr 500 begrenzt. Ausserdem dürfen Privatpersonen kein Elektrofahrzeug kaufen, das dürfen nur Unternehmen, wenn sie die Notwendigkeit dafür beweisen können. «So verkaufen wir die Fahrzeuge mehrheitlich an Hotels, Baufirmen oder Detailhändler.»Voraussetzung für den Kauf ist selbstverständlich, dass die Kunden über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Ganz billig ist es nämlich nicht. «Die Stimbo kosten ab 60 000 Franken aufwärts», sagt Raphael Imboden. Und fügt hinzu: «Je nachdem, welche Optionen der Kunde wünscht, kann der Preis schnell ansteigen. Bis auf über 140 000 Franken für die Versionen mit Topausstattung.»
Die in der Schweiz hergestellten Stimbo sind sicherlich teuer, aber sie sind auf eine sehr lange Lebensdauer ausgerichtet. So sind viele der 350 bis 400 produzierten Elektrofahrzeuge von Stimbo noch immer in Betrieb: «Der allererste Stimbo ist immer noch im Einsatz. Und heute halten unsere Fahrzeuge mit dem Aluminiumchassis mindestens 30 bis 40 Jahre. Natürlich nicht mit derselben Batterie oder demselben Motor, aber das Chassis ist unverwüstlich.» So wie das Matterhorn, der Berg, in dessen Schatten Stimbo gedeiht.
AUTOMOBIL REVUE: Warum hat Stimbo gute Chancen, auch in Zukunft erfolgreich zu wirtschaften?
Raphael Imboden: Die Stärken von Stimbo bestehen zweifellos in der kundenspezifischenAnpassung und im Kundenkontakt. Wir können die Erwartungen unserer Kunden besonders gut erfüllen. Das ist hier in Zermatt ein wesentlicher Vorteil. Im Laufe der Zeit haben wir uns einen Kundenstamm erarbeitet, den wir gut kennen und dessen Bedürfnisse wir verstehen. Ausserdem bleiben unsere Fahrzeuge auf die gesetzlich vorgegebenen Masse von Zermatt angepasst. Die Unternehmen aus Zermatt, die einen Stimbo kaufen, können sich darauf verlassen, dass ihr Fahrzeug während des gesamten Lebenszyklus korrekt gewartet und gepflegt wird. Das ist ein starkes Argument für ein Fahrzeug, das für den Einsatz im professionellen Rahmen gedacht ist.
Was könnte den Erfolg beeinträchtigen?
Ich bin der Ansicht, dass Stimbo durch die Entwicklung der Elektromobilität sicherlich von neuen Technologien profitiert, dass aber auch neue Konkurrenten erscheinen könnten. Einige Unternehmen könnten versuchen, in Zermatt billige, in Masse produzierte Fahrzeuge zu verkaufen.
Und wie sehen die Zukunftspläne aus?
Als Pionier in Sachen Elektromobilität schaut Stimbo weiterhin nach vorne: Wir halten uns stets auf dem Laufenden, was neue Technologien betrifft. Wir achten immer genau darauf, was wir verbessern, aber auch darauf, was wir bei gleich bleibender Fertigungsqualität günstiger anbieten könnten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung der Technik in unseren Autos im Verlauf der letzten Jahre. Wir haben mit dem Gleichstrom-
motor begonnen, gingen dann zum Wechselstrommotor über und kamen schliesslich zum Permanentmagnetmotor.
Schweizer Automobilhersteller: Teil 5
Im Rahmen der Serie über Schweizer Automobilhersteller wird die AUTOMOBIL REVUE als nächstes das Unternehmen Designwerk vorstellen. Das Unternehmen wurde 2007 gegründet und treibt die Elektromobilität dank innovativer Projekte voran. Lesen Sie den fünften Teil unserer Serie über Schweizer Automobilhersteller in der AR 13 vom 1. April 2021.