Aus 50 wird 30 – obwohl es nichts bringt

1989 eingeführt, um Siedlungen vom Verkehr zu entlasten und damit die Sicherheit und Wohnqualität der Bewohner zu erhöhen, breitet sich das Tempo-30-Regime immer flächendeckender aus. Und folgt dabei nicht nur hehren Zielen.

Die Änderungen der Strassengesetzgebung per 1. Januar 2021 betreffen auch die Tempo-30-Zonen. So können für Velofahrer fortan, wenn gewollt, Vortrittswege (Fahrradstrassen) geschaffen und mit Piktogrammen markiert werden. In diesem Fall wird der geltende Rechtsvortritt aufgehoben. Ebenfalls dürfen Orientierungsmarkierungen für Fussgänger angebracht werden, etwa Fussabdrücke, die den sichersten Überquerungsort anzeigen. Grundsätzlich dürfen Fussgänger die Strasse in ­einer Tempo-30-Zone überall überqueren, haben jedoch im Gegensatz zu einer Tempo-20-Begegnungszone kein Vortrittsrecht. Die neue Massnahme soll mithelfen, den Veloverkehr vom übrigen Verkehr zu entflechten. Ob sie auch hilft, die Sicherheit in Tempo-30-Zonen zu verbessern, bleibt fraglich. Schliesslich kann auch ein Velo ordentlich verletzen, wenn es in einen hineinkracht. Wenn sich fortan aufgrund dieser neuen Verordnung vor allem in Ballungsgebieten sehr viel mehr Fahrräder und Fussgänger in Tempo-30-Zonen begegnen, wächst die Chance auf einen Crash definitiv.

Tempo 30 ist politisch äusserst sexy. Weil es angeblich den Lärm und die Emissionen reduziert, für einen idealen Verkehrsfluss sorgt und die Sicherheit erhöht. Vor allem der Aspekt, dass es viel günstiger vor Lärm schütze als Flüsterbeton oder Lärmschutzwände, sorgt dafür, dass Tempo 30 immer öfter und leichter den Weg aus den Wohnquartieren auf die verkehrsorienterten Hauptstrassen und Ortsdurchfahrten findet. Wie Pilze schiessen die 30er- und 20er-Begegnungszonen aus dem Boden. Von Letzteren gibt es schweizweit aktuell rund 1000. In Basel, Bern und Zürich gilt heute schon auf mehr als der Hälfte aller Strassenkilometer Tempo 30. Allein im Kanton Bern gibt es rund 700 30er-Zonen, Tendenz steigend. Angesichts dessen, dass viele grosse Schweizer Städte rot-grün regiert werden, wird sich daran nichts ändern. Im Gegenteil: Tempo 30 könnte (und soll in letzter Instanz wohl) zum neuen Tempo 50 werden.

Lärmschutz ja, aber ganz anders

Grundsätzlich können Tempo-30-Zonen gemäss Bundesratsbeschluss von 1989 nur innerorts auf siedlungsorientierten Strassen angeordnet werden. Die zur Gewohnheit gewordene Ausnahme bestätigt indes die Regel. Da steht im Gesetz: «Tempo-30-Zonen können auf allen nutzungsorientierten Strassen eingerichtet werden.» Und: «Abschnitte von Haupt- und verkehrsorientierten Nebenstrassen können ausnahmsweise bei besonderen örtlichen Gegebenheiten in eine Tempo-30-Zone miteinbezogen werden, wenn die Voraussetzungen nach Art. 108 SSV (SR 741.21) für eine Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h erfüllt sind.» Diese sogenannten Voraussetzungen müssen nichts mit Sicherheit oder Wohnqualität zu tun haben. Haben sie meist auch nicht. Oft dient der – unbestritten – gesundheitsschädigende Lärm als Grund. Wobei dieser Lärm durch eine Temporeduktion nicht wirklich geringer wird. Durch eine Reduktion der Zahl der Lärmverursacher, also der Motorfahrzeuge, gelingt das schon eher. Ergo könnte man davon ausgehen, dass es in der Intention der Politik liegt, Motorfahrzeugen und ihren Lenkern mit Tempo 30 sukzessive und salamitaktikartig die Innenstadt zu verleiden. Ganz nach dem Motto: Wenn man letztlich zu Fuss, mit dem ÖV oder dem Velo viel schneller ans Ziel kommt, lässt man die eigenen PS vielleicht zu Hause. Folge: Weniger Fahrzeuge – weniger Lärm. 

Freilich macht Corona dem ÖV gerade einen fetten Strich durch die Rechnung. ÖV ist zurzeit so sexy wie akuter Harndrang während des Gottesdienstes in der proppenvollen Kirche. SVP-Nationalrat Gregor Rutz hat eine klare Meinung zu Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen: «Der Verkehr konzentriert sich nur auf Hauptverkehrsachsen, wenn man vorwärtskommt.» Mit dem Tempo 30 sei das nicht Fall. «Es ist nicht nur eine Frage der Sicherheit, sondern auch ein Anliegen von Wirtschaft und Gewerbe, dass der Verkehr auf Hauptachsen fliessen kann», so Rutz. Sonst verlagere er sich wieder in die Wohnquartiere.

Gleicher Lärm und höhere Emissionen

Dass Tempo 30 weniger Lärm und weniger Emis­sionen verursache (lässt man das noch nicht mehrheitsfähige E-Auto einmal weg), ist Quatsch. Viele Studien haben längst aufgezeigt, dass dem nicht so ist. So untersuchte die Technische Universität (TU) Wien die Emission von Kohlendioxid und -monoxid, den Spritverbrauch, die Partikel, Stickoxide und Kohlenwasserstoffe in Tempo-30-Zonen. Bernhard Geringer, Professor an der TU Wien, erklärt: «Tempo 30 ist keine sinnvolle Massnahme zur Verbesserung der Luftqualität oder der Verbrauchsverringerung in Städten.» Denn bei niedrigerem Tempo und höheren Emissionen wird in derselben Zeit weniger Weg zurückgelegt. «Auf die Dauer des Weges gerechnet, fallen bei Tempo 30 höhere Treibstoffverbräuche und mehr Emissionen an als bei Tempo 50. Der kleine Vorteil des niedrigeren Energieaufwandes beim Erreichen der Geschwindigkeit geht verloren.» Verkehrsberuhigungsmassnahmen wie seitliche Einengungen oder punktuelle Fahrbahnerhöhungen steigerten den Emissionsausstoss sogar deutlich. Zudem werde durch Tempo 30 auf Hauptverkehrsstrassen oft die Lichtsignalkoordinierung gebrochen. Das führe zu zusätzlichen Brems- und Anfahrtsvorgängen und so zu einer Zunahme der Lärm- und Schadstoffemissionen. «Nur unter günstigsten Strassenbedingungen ohne Verengungen und fliessendem Verkehr», so Gehringer, «hätte der Schwerverkehr einen CO2-Vorteil von bis zu 18 Prozent. Der Personen-Individualverkehr kommt auf eine Erhöhung der Treibhausgase von sechs bis acht Prozent.»

Aus gleichen Gründen geht auch die Lärmrechnung nicht auf. Das Motorengeräusch ist abhängig von der Drehzahl, und beim Beschleunigen in niedrigen Gangstufen resultieren hohe Drehzahlen. Diese können mit Tempo 30 weder in der Stadt noch in den Quartieren verhindert werden. Neue Hybrid-, Elektro oder Wasserstoffautos müssen seit 1. Juli 2019 bis Tempo 20 ein akustisches Warnsignal zum Schutz von Fussgängern von sich geben. «Hier wünschen wir uns, dass solche Autos den Minimal Noise künftig in Relation mit dem Umgebungsgeräusch abgeben», sagt Dominik Bucheli von Fussverkehr Schweiz. So entstünde zumindest in Wohnquartieren mehr Ruhe. Noch aber gibt es hier selbst für Stromer und Hybride keinen wirklichen Lärmvorteil. Kommt hinzu, dass sich am massgeblichen Abrollgeräusch der Reifen nichts ändert. Messungen in Berlin haben ergeben, dass der Lärmunterschied zwischen Tempo 50 und Tempo 30 bei weniger als zwei Dezibel liegt – für das menschliche Ohr nicht unterscheidbar.

Schon eine Minute ergibt acht Stunden

Was den Verkehrsfluss vor allem auf den Hauptverkehrsachsen angeht, ist der Vergleich von Tempo 30 mit Tempo 50 relativ zur Tageszeit, zur Anzahl Ampeln, Kreuzungen und sonstiger verkehrsbedingter Störungen zu betrachten. Ohne Halt benötigt man für fünf Kilometer bei Tempo 50 sechs Minuten. Bei Tempo 30 dauert dieselbe Fahrt zehn Minuten. In der Realität zwingen einen aber Trödler, Abbieger oder eben Kreuzungen und Ampeln immer wieder zum Stoppen. Die Differenz zwischen Tempo 50 und 30 wird dadurch kleiner. Ein Test des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs (ADAC) zeigte Folgendes: Für eine 3.5 Kilometer lange Versuchsstrecke in der Stadt ergab sich mit Tempo 30 eine eine um zwei Minuten längere Fahrzeit als mit Tempo 50, also 25 Prozent Zeitverlust. Unter Berücksichtigung sämtlicher Parameter kommt der ADAC zum Schluss, dass Tempo 30 auf verkehrsorientierten Strassen nicht sinnvoll sei: «Durch Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen des innerstädtischen Strassennetzes erhöhen sich die Reisezeiten merklich.»

Selbst wenn ein Pendler aufgrund von Tempo 30 statt Tempo 50 nur eine Minute länger pro Arbeitsweg unterwegs ist, ergibt das mit Hin- und Rückfahrt an 230 Arbeitstage pro Jahr rund acht Stunden – einen vollen Arbeitstag also. Zu verkehrsarmen Zeiten wie sonn- und feiertags und auch nachts wird es noch krasser. Was von Autofahrern hier gut akzeptiert ist, sind kurze Tempo-30-Abschnitte auf Hauptstrassen, wenn ein nachvollziehbarer Grund (zum Beispiel Schule, Altersheim, unübersichtliche Stelle) ersichtlich ist. 

Oft vor allem eine Geldmachmaschine

Akzeptiert ist Tempo 30 auch in Wohnstrassen, an denen tatsächlich gewohnt wird. Oft werden aber in Tempo-30-Zonen gleich noch Strassen integriert, die sich gefühlt vorab dazu eignen, um die sich inflationär vermehrenden, mobilen Blitzer zu platzieren. Tempo-30-­Zonen sind ergiebig, wenn es darum geht, Bussen zu kassieren, besonders nachts und zu verkehrsarmen Zeiten – und wenn die Strassen (wie oft der Fall) nicht so gestaltet sind, dass sie intuitiv ein Tempo-30-Regime vermitteln. Gemäss ­einer Pilotstudie der BFU mit 1.6 Millionen Fahrzeugen halten sich heute 64 Prozent der Verkehrsteilnehmer an Tempo 50 – an Tempo 30 halten sich nur 46 Prozent. Wer im 30er mit 41 km/h geblitzt wird, zahlt 250 Franken. Ab 16 km/h zu viel sind es 400, ab 18 km/h 600 Franken. Ab 20 km/h über dem Limit, also mit 50 km/h auf einer 30er-Strasse, auf der vielleicht lange Tempo 50 galt, sind der Ausweis weg und 30 Tagessätze Geldstrafe fällig. Mit Sicherheit hat das oft nichts mehr zu tun – bestenfalls mit der Absicherung der Gemeindefinanzen.

2 Kommentare

  1. Der Hinweis, der in Ihrem Beitrag fehlt, heisst, ganz einfach und schlicht: Weil das Verkehrsaufkommen massiv gestiegen ist oder weil die Bebauungsplanung zeigt, dass das Verkehrsaufkommen in den nächsten Monaten und Jahren steigen wird. Das heisst, es tummeln sich immer mehr Menschen, Velofahrer, Autos und Kinder auf und neben den Strassen. Strassen auf denen einst, wenige Fahrzeuge pro Tag gemessen wurden, haben eine massive Steigerung erfahren oder werden sie haben, weil eine Bebauungsplanung das ergibt. Ich kennen in meiner Umgebung genug Strassen, auf denen früher 80 km/h erlaubt war, aber wegen der steigenden Anzahl an Fahrzeugen, dem Verkehrsaufkommen pro Tag, auf 50 km/h reduziert wurden. Gleiches gilt für vorher 50 km/h und jetzt 30 km/h. Um Gefahren für alle Beteiligten abzuwenden. Eine Verkehrsplanung muss ja alle Aspekte die mit der Strasse zu tun haben berücksichtigen. Nicht nur die „Autofahrer“. Sonder auch die dort lebenden Menschen und eben die Anzahl der Menschen die sich dort tummeln und aber auch dort durchfahren.

    Machen Sie sich einfach mal die Mühe und gehen auf die Gemeindeämter und schauen Sie sich dort die Bebauungsplanung und die Verkehrsplanung an. Da werden Sie erschrocken sein, was für Zahlen dort vorliegen. Da gibt es Strassen die haben Zuwächse an Verkehrsaufkommen von 1’000 % und mehr pro Jahr. Einfach weil in der Nähe eine Überbauung gebaut wurde. Natürlich, kann man sich nicht einfach eine „einzelne“ Strasse herauspicken und die alleine betrachten. Denn alle Strassen sind im Verbund zu sehen. Ändert sich die Verkehrsplanung an einer anderen Stelle in der Stadt, kann dass fatale Folgen auf kleine Nebenstrassen haben. Und schwups hat man den Berufsverkehr in einer Wohnstrasse, weil die Autofahrer, „clever wie sie sind“, natürlich die Schlupflöcher suchen und finden. Und dann wird mit 50 km/h durch eine Wohnstrasse gebrettert. Bis dann die Stadtplanung dort 30 km/h vorschreibt. Der Grossteil der Reduzierung von Geschwindigkeiten auf Strassen ist nicht auf die von Ihnen genannten Argumente zurück zu führen, sondern auf die Sicherheit für alle Beteiligten Menschen und das steigende Verkehrsaufkommen, dass dynamisch an verschiedenen Stellen wächst wie verrückt. Autos müssen raus aus den Städten und Wohnquartieren.

  2. Ausgezeichneter Überblick über die Wirkungen von Tempo 30, insbesondere auch auch Hauptverkehrsachsen. Vor diesem Hintergrund ist es noch unverständlicher, dass die bfu, die sich über Jahrzehnte für ein ausgewogenes 50-30-Temporegime stark gemacht hat, nun auch ins Lager flächendeckend Tempo 30 gewechselt hat.

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