Traum vom Unmöglichen

FORMEL 1 Lewis Hamilton hat es wahr gemacht. Der Brite wird zum siebten Mal Weltmeister und ist damit gleichauf mit Michael Schumacher.

Die Botschaft von Lewis Hamilton als frisch gekrönter siebenmaliger Weltmeister letzten Sonntag auf der nassen und tückischen Strecke des Istanbul-­Parks war keine Kommunikationsaktion. Sie kam von Herzen und ganz tief aus seinen alten wie auch jüngsten Erinnerungen: «An alle Jungen, hört nicht auf die, die euch sagen, ihr werdet es zu nichts bringen. Träumt vom Unmöglichen und macht es wahr. Ihr müsst dafür hart arbeiten, euer Ziel verfolgen, nie aufgeben und niemals an euch zweifeln.» Aufgegeben und gezweifelt hat Hamilton auf seinem Karriereweg nicht, auch nicht am Sonntag, als er beim kuriosen Grand Prix der Türkei von Platz sechs startend für einmal nicht der Favorit war. Um diese Rolle hatte ihn – wie auch die Konkurrenz – der neue, glatte Asphalt im Istanbul-Park gebracht: Die Formel 1 glich mehr einem Eislaufwettbwerb. «Wir standen nicht auf unserem gewohnten Startplatz, aber wir haben viel gelernt. Man macht eben nicht immer alles perfekt. Zu ­einem gewissen Zeitpunkt fragte ich mich, ob mir dieses Rennen entgleiten würde. Aber ich habe Gas gegeben und daran geglaubt, dass ich wieder in meinen Rhythmus finde. Und das habe ich geschafft», erklärte Hamilton seine aussergewöhnliche Triumphfahrt. Das Ergebnis war sein 94. Sieg, einer der schönsten in seiner beeindruckenden Sammlung. 50 lange Runden hatte er seine zum Schluss fast völlig zerschlissenen Intermediate­reifen an seinem Mercedes. Das reichte zur Krönung, zum siebten Weltmeistertitel des Briten, der damit mit dem bisherigen Rekordchampion Michael Schumacher gleichgezogen hat.

Die Dreistigkeit des Jungen
Nicht aufgeben oder zweifeln: Das sagte sich aber auch schon Klein-Lewis. 1995, als zehnjähriger Bub und als frisch gebackener britischer Kartmeister, sprach er auf der Galaveranstaltung anlässlich der Preisverleihung keck Ron Dennis an, den strengen Chef des Formel-1-Teams von McLaren. Die Legende besagt, dass Hamilton Dennis sagte, er werde eines Tages Rennfahrer bei McLaren sein. «Ich erinnere mich nicht daran, ihm so etwas gesagt zu haben», korrigierte sich Lewis Hamilton elf Jahre später, nachdem er 2006 die GP2-Meisterschaft gewonnen hatte und in die Formel 1 aufgestiegen war – natürlich als McLaren-Pilot. «Ich erinnere mich, dass ich zu Ron gegangen bin und überrascht war, dass er etwas Zeit für mich hatte. Denn meistens haben solche Topleute keine Zeit für niemanden. Er gab mir zehn bis 15 Minuten, und das war ziemlich speziell. Ich hatte mein Autogrammheft dabei, darin hatten sich schon zahlreichen grossen Namen verewigt.» Einen, den Hamilton nur zu gerne getroffen hätte, war Formel-1-Idol Ayrton Senna.

Schnell die Karriereleiter empor
Ron Dennis gefiel die Persönlichkeit und Dreistigkeit des Jungen. «Als Junge war ich etwas schüchtern», gibt Hamilton zu, «aber ich hatte niemals Angst, etwas Aufregendes zu unternehmen.» Einschüchtern lässt er sich von grossen Namen nicht, eher begeistern: «Wenn ich einen Kinostar wie zum Beispiel Eddie Murphy treffen würde, das wäre … wow!» Nach dem Treffen mit dem McLaren-Chef gründete das Team aus Woking (GB) ein Ju­nior-Kartteam, bei welchem Hamilton schon früh spätere Rennkonkurrenten traf, unter ihnen auch seinen F1-Intimfeind Nico Rosberg.

Hamilton stammt aus bescheidenen Familienverhältnissen, sein Vater hat mit zahlreichen Jobs die Kartkarriere seines Sohnes finanziert. Er wäre nicht weit gekommen ohne diese Unterstützung: «Ich fing als Sechsjähriger an, die Formel 1 im Fernsehen zu verfolgen. Meine Eltern waren geschieden und ich verbrachte meine Wochenenden mit meinem Vater. Es war toll, diese Rennen mit Senna zu sehen. Ich war aber nicht ein Riesenfan, das kam nach und nach, als ich ungefähr 13 war.» 2002, nach dem Rennwagendebüt, wurde Hamilton gleich Dritter der englischen Formel-Renault-Meisterschaft, nur ein Jahr später war er Champion. Darauf folgte die Formel 3, wo er im Jahr 2004 Fünfter war und wiederum ein Jahr später den Titel gewann. Weiter ging es in der GP2, im führenden ART-Team von Frédéric Vasseur, dem heutigen Chef des Formel-1-Teams Alfa Romeo Racing, wo Hamilton sofort den Titel holte. Die Tür zur Königsklasse des Autorennsports stand somit weit offen – schon zu Kartzeiten hatten die Hamiltons jeweils auf der Rückfahrt von den Rennen im Auto den Queen-Klassiker «We Are the Champions» angestimmt.

Zu schnelle Siege
Nicht alle Fahrer haben das Glück, ihr Forme-1-Debüt gleich im besten Team zu geben, was natürlich die Entfaltung von Hamilton begünstigte. 2007 als Neuling neben dem bei McLaren als Messias gefeierten Fernando Alonso brauchte der junge Engländer nicht lange, um sein enormes ­Potenzial unter Beweis zu stellen: Rang drei beim Saisonauftakt in Australien, danach viermal Zweiter – und schon folgten in Kanada und den USA die ersten GP-Siege, im sechsten und siebten Rennen seiner Karriere. Diese Siege kamen aber zu schnell, sie brachten das Team durcheinander, das vom Talent des Neulings überwältigt war. Alonso fühlte sich gekränkt, die Rivalität uferte aus, beide Fahrer klauten sich die Punkte, weshalb Kimi Räikkönen mit Ferrari als lachender Dritter den Titel holte.

Damals hat Hamilton noch etwas gelernt, das sich später als Stärke erweisen sollte. 2007 beim China-GP vergab er den Titel wegen eines dummen Fahrfehlers bei der Boxeneinfahrt. Etwas, woran er sich am vergangenen Sonntag in der Türkei erinnerte: «Was ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ist, dass meine erste Intuition meistens die Richtige ist, weshalb ich keine Zeit mehr damit verliere, mir Fragen zu stellen. Am Sonntag spürte ich, dass meine Reifen bis ins Ziel halten würden, und es kam deshalb nicht in Frage, dass mich das Team in die Box beorderte. Ich habe nicht vergessen, dass ich so 2007 alles verloren hatte.»

Debüt: Hamilton mit McLaren-Boss Ron Dennis.

Potenzial für Überraschungen
Den Grand Prix der Türkei kann man kurz zusammenfassen: Da war Lance Stroll, der nach seiner ersten Poleposition auch lange in Führung lag, oder es gab Max Verstappen, der über das Wochenende zwar Schnellster war, aber scheiterte, weil er zu ungeduldig war. Mit anderen Worten: Das Rennen im Istanbul-Park hatte Potenzial für Überraschungen – aber am Ende gewann wieder Lewis Hamilton im Mercedes und sicherte sich den Titel. Ausnahmsweise wurden die normalerweise überlegenen Mercedes-Rennwagen während der Trainings und der Qualifikation zu diesem kuriosen GP der Türkei von der Konkurrenz beherrscht, die gewohnte Hierarchie wurde über den Haufen geworfen. Schuld daran war der neu asphaltierte Belag der Rennstrecke, die den Reifen nur wenig Grip bot. Das Resultat: Die Autos kreiselten über das ganze Wochenende haufenweise unkontrollierbar von der Strecke.

Stroll machte den Fehler, zu gehorchen
Auf dem glatten und kalten Asphalt in den Trainings am Freitag und auf regennasser Strecke in der Qualifikation am Samstag hatten die Autos von Racing Point und Red Bull einen Vorteil, weil es ihnen gelang, die Reifen im richtigen Temperaturfenster aufzuwärmen. Der rosarote Mercedes von Racing Point bestätigte die Stärken des Vorreiter-Mercedes W10 von 2019, weshalb Stroll zu seiner Premieren-Poleposition kam. Nach dem gelungenen Start sah der Kanadier schon wie der sichere Sensationssieger aus. Aber als auf der abtrocknenden Strecke die Intermediatereifen abbauten, rief das Racing-Point-Team seinen Leader zurück an die Box. «Warum?», fragte Stroll, der keinen Bedarf für einen Reifenwechsel sah. Dass er gehorchte, war ein Fehler. Seine neuen Intermediates fingen sofort an zu körnen, worauf der vermeintliche Sieger auf den frustrierenden neunten Platz zurückfiel. Sein Ärger war umso grösser, weil Teamkollege Sergio Pérez draussen blieb, die Führung übernahm und das Rennen als Zweiter hinter Hamilton und vor Ferraris Sebastian Vettel (Bild) beendete.

Der andere grosse Verlierer des GP der Türkei war Max Verstappen. Ihm wurde eine Fehlentscheidung seines Teams während des Qualifyings zum Verhängnis, obwohl ihm die Poleposition dank seiner Dominanz so gut wie sicher war. Als zweiter in der Startaufstellung zwischen den Racing Point startete Verstappen auf der schlechten Fahrbahnseite und blieb beim Start praktisch stehen. Nach seiner Aufholjagd verlor er hinter Pérez die Geduld, versuchte deshalb ein waghalsiges Überholmanöver, das in einem doppelten Dreher bei 250 km/h und vier platt gebremsten Reifen endete und ihn zu einem weiteren Boxenstopp zwang. Verstappens Teamkollege Alexander Albon war auch Leidtragender dieses Drehers, welcher ihn um einen Podiumsplatz brachten. Auch Ferraris Charles Leclerc, der sich einen langen Zweikampf mit Perez lieferte, schaffte es nicht auf das Siegertreppchen, denn er wurde in der letzten Kurve von Vettel überholt.

Für das Team von Alfa Romeo mit Sauber-Autos endete der 500. GP mit einer Enttäuschung: Kimi Raikkönen und Antonio Giovinazzi hatten es am Samstag vor dem Jubiläum zum ersten Mal in dieser Saison bis ins Q3, das Finale der Qualifikation, geschafft. Aber im Rennen musste sich Räikkönen wegen eines zehn Sekunden langen Boxenstopps mit dem 15. Platz begnügen, und Giovinazzi wurde das Opfer eines Getriebeschadens.

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