Die Spitze der Evolution

MEISTERSTÜCK 1963 war die Geburtsstunde einer Legende. Seither wurde der Porsche 911 ­stetig weiterentwickelt. Der Turbo S der achten ­Generation strebt nach Perfektion. Zu sehr?

Es ist beeindruckend. Verfolgt man ­eines der unzähligen Beschleunigungsrennen, so gewinnt eigentlich immer der Porsche 911 Turbo S. Dabei spielt es beinahe keine Rolle, wer sich denn gerade als Gegner versucht. Egal ob Lamborghini Aventador SVJ, Ferrari 812 oder McLaren 720S – alle sehen sie zumindest bis Tempo 100 km/h kein Land. Von der Linie weg ist gegen den Über-­Elfer kein Kraut gewachsen.

Obwohl unsere Teststrecke in Vauffelin BE feucht und teilweise mit Laub bedeckt war, erledigte der 911 Turbo S den Sprint von 0 auf 100 km/h in gemessenen 2.77 Sekunden. Nach unserer Umrechnung zwecks Vergleichbarkeit resultiert daraus der angegebene Wert von 2.9 Sekunden. Es besteht allerdings kein Zweifel darüber, dass der Zuffenhausener diese Zeit – wie bei Porsche üblich – unter optimalen Bedingungen noch unterbieten kann.

Kein Turboloch
Im Zentrum dieser Performance steht der 3.8 Liter grosse Motor – obwohl er sich natürlich nicht in der Mitte befindet, sondern elfertypisch im Heck. Der Aufbau entstammt demselben Baukasten, wie es alle Aggregate der 718- und 911-Baureihe tun. In der Stadt oder auf der Landstrasse tuckert der Boxermotor knapp über Leerlaufdrehzahl vor sich hin, nur um dann nach Knopfdruck auf die Sport-Response-­Taste unverzüglich 650 PS und 800 Nm aus seinen sechs Zylindern zu drücken. Der doppelt aufgeladene Kraftprotz entfaltet seine Kraft äusserst linear. Und trotzdem mit einer Vehemenz, die einem ständig den Atem stocken lässt.

Dank der variablen Turbinengeometrie der beiden grösser gewordenen Lader ist das Turboloch quasi inexistent. Beide sind jeweils im Abgasstrang der Zylinderbänke integriert, sodass der gesamte Abgasstrom bei jeder Drehzahl optimal für die Aufladung nutzbar ist. Der Abgaskrümmer wiederum ist abgeleitet aus dem 911 GT2 RS und hilft zusätzlich, das Ansprechverhalten spürbar zu verbessern. Erstmals kommen auch Piezoinjektoren für eine zielgenauere und effizientere Einspritzung zum Einsatz.

Volles Durchlatschen
Diese Kombination und die Tatsache, dass
das Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe blitzschnell und sauber den passenden Gang bereitstellt, sorgen dafür, dass auch der Turbo S seine Kraftreserven nicht immer ganz im Zaun halten kann. Volles Durchlatschen auf Autobahnauffahrten muss bei Nässe insofern gut überlegt sein, weil das Pferd im Wappen dann nicht nur Zierde, sondern Ausdruck des Charakters ist. Beim wilden Ritt durch den Regen wollen die Zügel gut festgehalten werden.

Ebenso verhält es sich auf einer gewundenen Bergstrecke wie dem Gurnigel. Während der 911 ob der Anfahrt mit den langgezogenen Kehren nur müde lächelt und sie mit beinahe absurd hohen Tempi durchfährt, kann er in den schnellen Kurvenkombinationen auch bockig werden. Was vor allem dem stattlichen Gewicht von 1670 Kilogramm geschuldet ist. Durch die hecklastige Gewichtsverteilung (38:62) und die Tatsache, dass der Allradantrieb die Kraft vorwiegend nach hinten und nur mit einer minimen Verzögerung nach vorne schickt, kommt der Turbo S bei schnellen Richtungs- und Lastwechseln gerne auch mit dem Heck. Gefahr, dass es einem um die Ohren fährt, läuft man allerdings nie, weil beinahe noch schneller wieder Traktion aufgebaut wird als sie bei ruppiger Gangart verloren geht. Und trotzdem: Ein 718 GT4 ist hier unverfänglicher unterwegs.

Mit der hervorragenden Lenkung ist es zudem einfach, die Chose wieder in korrekte Bahnen zu bringen, sie ist zielgenau, gefühlvoll und akkurat. Allein, einigen Testern war sie auf sportlicher Hatz etwas zu leichtgängig und passte nicht zur sportlichen Abstimmung.

Kurzer Schweissausbruch
Denn selbst im Komfort-Modus ist das PASM-­Sportfahrwerk hart gefedert und werden Schläge gut spürbar in den Innenraum geleitet. Auf Sport getrimmt ist das Chassis bretthart, allerdings bleibt der Elfer im Vergleich zu anderen (Super-)Sportlern in sämtlichen Belangen verhältnismässig komfortabel. Doch so richtig nach ultrascharfem Sportwagen fühlt sich der Turbo S im Komfort-Modus eben gar nicht an – und das ist gut so. Die Lenkung ist zwar leichtgängig, verliert aber nichts von ihrer Genauigkeit. Die Feinfühligkeit der Gasannahme ist stark gedrosselt, um in der Stadt und beim Manövrieren nicht von der immensen Kraft überrumpelt zu werden. Das PDK trifft von butterweich bis knallhart stets die richtige Wahl. Insgesamt glänzt auch der 911 Turbo S mit einer Spreizung, wie sie bei den Sportwagen so wohl nur Porsche hinbekommt. Einzig der Gang könnte beim Parkieren etwas schneller einrasten. Die paar Zentimeter, die der 911 nach dem Abstellen noch rollt, können in Anbetracht des Basispreises von 271 600 Franken (Testwagen: 283 180 Fr.) kurz für Schweissausbrüche sorgen.

Fast ohne Fehl und Tadel
Abgesehen davon bleibt der Porsche beinahe ohne Fehl und Tadel. Die Verarbeitung ist erstklassig und der Materialmix aus Leder, Alcantara und Karbon könnte ansprechender nicht sein. Ebenfalls lobenswert: Selbst die vereinzelten Plastikteile sind haptisch schmeichelnd strukturiert. Aber natürlich sind die Plastik­hebel für Blinker und Tempomat und der Getriebestummel (Shift-by-Wire) nach wie vor kein Augenschmaus. Immerhin sind die Schaltwippen aus Metall, wenn sie auch etwas grösser hätten ausfallen dürfen. Ebenfalls nicht sonderlich gross ist der Stauraum von 128 Litern unter der Fronthaube. Oder das Platzangebot auf den beiden hinteren Notsitzen, auf die sich Erwachsene regelrecht hineinzwängen müssen.

Ungleich funktionaler ist der 10.9-Zoll-­Touchbildschirm für das Infotainment. Kritik  an der an und für sich logisch aufgebauten und übersichtlichen Menüführung gibt es für die eingeschränkte Zugänglichkeit der Shortcuts am linken Bildschirmrand. Und: Die Beschriftung ebendieser Schnellwahlflächen ist abermals in englischer Sprache – ein Detail, das bei allen Porsche-Modellen besteht, in dieser Preisklasse aber nicht sonderlich liebevoll wirkt. Hinter dem Lenkrad erstreckt sich beim neuen 911 ein breitgezogenes, digitales Element, in dessen Mitte der analoge Drehzahlmesser thront. Die Lösung ist schick, keine Frage, schränkt die Ablesbarkeit der beiden äusseren Anzeigen aber stark ein.

Eingeschränkte Sicht
Und wenn wir schon bei der Sicht sind: So gut die Rundumsicht im Normalfall auch ist – ist der Flügel ausgefahren, sieht man aus der Heckscheibe nicht mehr viel. Was aber dann natürlich der Aerodynamik zugutekommt. Durch die Neugestaltung des aktiven Bugspoilers und des ausfahrbaren Heckflügels wurde ein um 15 Prozent höherer Abtrieb gegenüber dem Vorgänger erreicht. Der maximale Anpressdruck beträgt rund 170 Kilogramm. Porsche Active Aerodynamic (PAA) ermöglicht zudem die Steuerung der Kühlluftklappen in der Bugverkleidung. Sie sind stufenlos verstellbar und regeln den Kühlluftdurchsatz durch die Wasserkühler. Damit besitzt das Topmodell drei aktive Aerodynamikkomponenten sowie zwei neue Fahrmodi. Auch bei einer Vollbremsung oder im Wet-Modus stellt sich der Heckflügel auf, sodass sich die aero­dynamische Balance in Richtung Hinterachse verschoben wird. Ein höherer Luftwiderstand und mehr Anpressdruck sorgen für einen potenziell kürzeren Bremsweg und mehr Fahrstabilität. Je nach aerodynamischer Einstellung sinkt der cW-Wert auf 0.33, was dem Verbrauch schmeichelt. Auf der AR-Normrunde fuhren wir den Turbo S mit 11.6 l/100 km, während des Testzeitraums waren es auch noch mehr als erträgliche 12.5 l/100 km.

Aber wer will es im vorliegenden Fall denn schon gemütlich? Lieber nochmals im Sport-Plus-Modus die Bremse durchtreten und gleichzeitig Vollgas geben. Der Elfer beisst sich bei etwas über 6000 U/min fest und schiesst dann mit einer Verbindlichkeit sprich Traktion los, von der die allermeisten Konkurrenten nur zu träumen vermögen. Und wir gleich mit.

FAZIT
Natürlich ist auch der Porsche 911 Turbo S nicht unfehlbar. Zu nennen wären der rudimentäre Spurhalteassistent – da hat Porsche definitiv Nachholbedarf gegenüber der Konkurrenz. Oder der etwas maue Auspuffklang. Und selbstverständlich kann man über den horrenden Preis klagen. Die italienischen oder englischen Konkurrenten sind allerdings auch nicht günstiger, im Gegenteil. Über all dem steht aber die Faszination darüber, wie präzise der 911 Turbo S ist. Die tiefe Sitzposition ist vorzüglich und die Ergonomie dank der physischen Tasten traditionell gut. Der Komfort ist gegeben, das überirdische Leistungsvermögen sowieso. Die Spurtreue beim Katapultstart ist dank einer nochmals verbreiterten Spur hervorragend, die Lenkung kristallklar. Der Porsche 911 Turbo S ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Vielleicht ist er sogar der am einfachsten zu fahrende (Super-)Sportler dieser Leistungsklasse überhaupt. Was ihn dann aber wiederum gegenüber der Konkurrenz etwas emotionslos und zu wenig radikal erscheinen lässt.

Die technischen Daten und  unsere Testdaten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe der AUTOMOBIL REVUE.

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