Man kann davon ausgehen, dass Elektroantriebe in den nächsten zehn Jahren fester Bestandteil der Automobilwirtschaft werden – und dass ihre Bedeutung noch weiter zunimmt, wenn sie die Käuferschaft vollends zu überzeugen vermögen. Und zwar aus den Gründen, die wir alle kennen: keine lokalen Emissionen, einfache Konstruktion, hohe Durchzugskraft und ausgezeichnete Effizienz. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für ihren Erfolg, nämlich die Umkehrbarkeit des Vortriebs und die Rückgewinnung der Bremsenergie.
Ein Verbrennungsmotor verbraucht beim Beschleunigen Benzin oder Diesel, beim Bremsen aber kann man Treibstoff nicht wieder in den Tank zurückpumpen. Beim Abbremsen eines Fahrzeugs mit Verbrennungsmotor wird die kinetische Energie durch die Reibungsbremsen in Wärme umgewandelt, die nicht genutzt werden kann und daher komplett verloren geht. Der Grund liegt darin, dass die Prozesse des Verbrennungsmotors nicht umkehrbar sind. Bei Elektrofahrzeugen ist das anders: Die kinetische Energie des Fahrzeugs kann wieder in nutzbare elektrische Energie zurückverwandelt werden. Da die Motoren in vollelektrischen Fahrzeugen reversibel arbeiten, können sie je nach Bedarf als Motor (Umwandlung von elektrischer in kinetische Energie) und als Generator (Umwandlung von kinetischer in elektrische Energie) eingesetzt werden. Aus diesem Grund wird ein Ingenieur niemals den Begriff Motor, sondern eher die Begriffe Elektromotor-Generator oder Elektromaschine verwenden.
Aber wie funktioniert das in der Praxis? Sobald sich der Wagen in der Verzögerungs- oder Bremsphase befindet, erhöht die Bordelektronik über das Bordnetz mehr oder weniger stark die Spannung des Generators. Diese Spannung variiert je nach dem vom Fahrer gewünschten und/oder vom Auto abhängigen Rekuperationsgrad. Dadurch wandelt der Generator die kinetische Energie des Fahrzeugs in elektrische Energie um, die dann in der Batterie gespeichert wird. Anschliessend wird sie in der Beschleunigungsphase von der Maschine, die dann im Motorbetrieb arbeitet, wieder genutzt.
Ungeahnte Möglichkeiten
Natürlich eröffnet diese Technologie ungeahnte Möglichkeiten, nicht nur hinsichtlich der Energieeffizienz, sondern auch in Bezug auf die Bremsqualität und damit die Dynamik: «Durch den Elektroantrieb können die Räder unabhängig voneinander abgebremst werden», erklärt Frederic Vizzini, Experte und Projektleiter für die Weiterentwicklung der Antriebstechnik bei AW Europe. Beim E-Fahrzeug können nicht nur einzelne Räder stärker beschleunigt werden, sondern es kann theoretisch eines abgebremst und ein anderes beschleunigt werden, wenn das Fahrzeug über zwei E-Maschinen pro Achse verfügt. «Mit nur einem Elektroaggregat pro Achse», so Vizzini, «ist es natürlich nicht möglich, das linke Rad stärker zu bremsen als das rechte, ausser das Fahrzeug verfügt über ein mechanisches Torque-Vectoring-System, bei dem der Torsen-Effekt passiv statt aktiv erfolgt, was eine kompliziertere Steuerung der Traktion erforderlich macht. Mit zwei Maschinen pro Achse (eine Technologie, die zum Beispiel im Audi E-Tron S eingesetzt wird – Red.) erfolgt die Drehmomentverteilung aktiv und daher sehr präzise.»
Je näher das Elektroaggregat an dem von ihm angetriebenen Rad platziert wird, desto besser ist seine Leistung. Logischerweise sind die Reibungsverluste im Getriebe umso geringer, je kürzer der Antriebsstrang ist. Frederic Vizzini meint: «Ideal wäre es, die Elektromaschinen direkt in den Rädern zu verbauen, aber das wirft andere Probleme bezüglich der Fahrdynamik auf (zu viel ungefederte Masse – Red.). Darum und weil ein E-Aggregat viel kompakter ist als ein Verbrennungsmotor, wird eine vorn eingebaute Elektromaschine nie die Hinterräder antreiben und umgekehrt.»
Eine paradoxe Eigenschaft
Es versteht sich von selbst, dass die Rekuperationsleistung davon abhängt, wie die Elektromaschine dimensioniert ist. «Dazu muss man aber wissen, dass die Leistung des Elektromotor-Generators im Motorbetrieb nicht unbedingt mit der Maschine im Generatorbetrieb gleichzusetzen ist», so Vizzini. Und weiter: «Häufig ist die Leistung der Antriebskomponente geringer als die des Generators. Mit anderen Worten: Es ist dadurch möglich, mehr Energie zurückzugewinnen als das Fahrzeug selbst erzeugt. Dies ist beim Einsatz im Automobil wichtig, weil aus Gründen der Sicherheit die erforderliche Leistung beim Bremsen grösser sein muss als beim Beschleunigen.»
Ein weiterer Faktor, der ein Problem beim regenerativen Bremsen darstellt, ist die Batterie selbst. Je stärker ihre Leistung ist (man darf hier Leistung und Kapazität nicht verwechseln), desto mehr Energie kann sie aufnehmen. «Darüber hinaus», so Frederic Vizzini, «ist auch der Ladezustand der Batterie wichtig. Wenn die Batterie voll ist, ist sie nicht in der Lage, die vom Generator erzeugte elektrische Energie aufzunehmen. Ganz einfach, weil sie nirgendwo gespeichert werden kann. Beim Abbremsen muss das Fahrzeug in diesem Fall auf seine Standardbremse, also die Reibungsbremsung, zurückgreifen. Deshalb sollte man, vor allem wenn man in den Bergen wohnt, den Ladevorgang bei seinem Elektrofahrzeug anhalten, bevor der Ladezustand 100 Prozent erreicht. Dadurch spart man nicht nur bei der Stromrechnung, sondern kann auch die Bremsbeläge schonen.»
Die Rückkehr der Trommelbremse?
Der reduzierte Bremsbedarf von Elektrofahrzeugen könnte zum völligen Verschwinden der bisher üblichen Bremsanlagen führen, wie Anton Dehn, Manager VTD-Brakes im Technical Center von Hyundai Motor Europe, erklärt: «Es gibt bereits Versuchsfahrzeuge, die keine Reibungsbremsen an der Hinterachse benötigen.»Wenn diese Konzepte in die Produktion gehen, könnten Bremssättel und -kolben bei Reibungsbremsen möglicherweise wegfallen und weniger zupackende Komponenten wie Bremsbacken und -zylinder, also Trommelbremsen, wieder aufleben. Für Frederic Vizzini wird dieses technologische Comeback durch die nachlassende Dynamik begünstigt: «Die Automobilindustrie bewegt sich unaufhaltsam in Richtung einer niedrigeren Höchstgeschwindigkeit.» Zur Veranschaulichung dieses Trends kündigte Volvo kürzlich an, dass seine Fahrzeuge ab 2021 auf 180 km/h begrenzt werden. Beim VW ID 3 und ID 4 ist die Höchstgeschwindigkeit sogar auf 160 km/h begrenzt. Dies erklärt, warum bei beiden Trommelbremsen an der Hinterachse verbaut werden.
Partikelfreie Bremsen
Die Wolfsburger haben diese Wahl aber wohl auch aus Umweltgründen getroffen. «Konstruktions-bedingt können bei Trommelbremsen die emittierten Partikel mehr oder weniger aufgefangen werden», sagt Anton Dehn. Während bei Elektrofahrzeugen oft behauptet wird, dass sie lokal keine Partikel ausstossen, stimmt dies nur bedingt, da sie Emissionen durch Bremsstaub verursachen. Diesem Aspekt, der natürlich nicht nur Elektrofahrzeuge betrifft, schenken die europäischen Behörden besondere Aufmerksamkeit. Im Vorgriff auf die Gesetzgebung arbeiten Lieferanten und Hersteller von Bremssystemen zurzeit mit Nachdruck an neuen Konstruktionen. So liegen Pläne für Partikelfilter zur Behandlung der von Bremsbelägen emittierten Stäube bei einigen Lieferanten und Herstellern bereits in der Schublade.
Neben solchen Systemen könnte die Industrie auch ältere Technologien wieder aufleben lassen. Die erste Generation des Lotus Elise hatte sehr leichte Bremsen aus Aluminium mit Siliziumkarbid, die nicht durch Reibung, sondern durch Massenübertragungstechnologie funktionierten. Mit anderen Worten: Die Beläge verbreitern sich mit der Zeit auf Kosten der Scheibe, die gleichzeitig kleiner wird. «Der grosse Vorteil dieser Technologie ist, dass sie keinerlei Emissionen verursacht. Es ist eine Technologie, die schon vor etwa zwanzig Jahren aufkam», sagt Vizzini, «aber sie könnte wieder in Mode kommen, zum Beispiel als effektivere Alternative zu Trommelbremsen.»
Brake by Wire
Vorerst brauchen leistungsstarke Elektrofahrzeuge weiterhin «effizientere Bremsen, nicht zuletzt wegen des Gewichts», erklärt Anton Dehn. Um dieser Nachfrage im oberen Segment gerecht zu werden, arbeitet der italienische Bremsspezialist Brembo an neuen Systemen, die nicht mehr über einen Hydraulikkreislauf, sondern komplett elektronisch gesteuert werden. Das bedeutet, dass ein Sensor hinter dem Bremspedal ein Signal an einen Geber sendet, der sich direkt hinter dem Bremssattel befindet. Dieses als Brake by Wire bekannte System soll «die hydraulische Bremse, die derzeit das gängigste Bremssystem ist, ersetzen», so ein Unternehmenssprecher. Damit dürften auch die guten alten Bremskolben ausgedient haben.