Otto Wild aus dem aargauischen Muri muss eine spannende Persönlichkeit gewesen sein. Schon 1927 liess er sein erstes Unternehmen ins Handelsregister eintragen, die Otto Wild AG für die Fabrikation von Teilen für den Eisen-, Kessel- und Maschinenbau. Den Zweiten Weltkrieg scheinen Wild und seine Firmen gut überstanden zu haben, denn unmittelbar nach Kriegsende trat der damals schon nicht mehr ganz junge Unternehmer auf BMW bei verschiedenen Bergrennen an. Doch er wollte mehr, sah auf dem Autosalon von Paris im Herbst 1950 einen Ferrari 275 S mit einer Touring-Barchetta-Karosse in schwarzer Lackierung mit grünem Interieur – und bestellte sich genau dieses Farbschema für einen der ganz neuen 340 America, den ersten Ferrari mit dem von Lampredi konstruierten V12-Big-Block. Wild wollte
mit seinem neuen Ferrari 1951 bei der Mille Miglia antreten (28./29. April), doch das Fahrzeug (Nr. 0114A) wurde nicht rechtzeitig fertig. Er fuhr noch ein paar Bergrennen mit seinem auffälligen Fahrzeug, bestellte sich 1953 einen weiteren Ferrari, einen 342 America (Nr. 0232AL, Karosserie von Vignale), verkaufte die Nummer 0114A 1955 an seinen Schwager Ernst Hafner – weil er sich einen neuen Mercedes 300 SL anschaffen wollte.
Immer in der Schweiz
Und warum erzählen wir all dies, wenn es doch hier um einen Lamborghini Miura gehen soll? Es soll aufgezeigt werden, dass Otto Wild über einen ausgezeichneten automobilen Geschmack verfügte. Denn er war es auch, der am 16. Juli 1968 beim damaligen Lamborghini-Importeur Karl Foitek den von ihm bestellten blauen Miura abholte. Wild bezahlte auch die geforderten 58 000 Franken, handelte aber mit Foitek noch einen besonderen Deal aus: Er konnte das Fahrzeug innerhalb von zwölf Monaten wieder zurückgeben, wenn es weniger als 10 000 Kilometer auf der Uhr hatte und sich noch in einwandfreiem Zustand befand. Tatsächlich nahm Wild diese Option Ende März 1969 in Anspruch – und tauschte den blauen Miura P400 mit Chassisnummer 3604 gegen den metallic-grünen Miura P400 S mit Chassisnummer 4003 ein. Mit dem er allerdings kurz darauf einen Unfall hatte – und sich deshalb schon im Dezember 1969 den nächsten Miura anschaffte, wieder einen P400 S, Chassisnummer 4332, lackiert in Verde Miura. Diesen Wagen behielt er wohl bis 1976. Otto Wild verstarb 1980.
Der erste Miura von Wild ging also an Foitek zurück. Doch der umtriebige Österreicher hatte bereits einen Kunden zur Hand, den Bieler Rolf Tschudin, der wiederum einen 66er Ferrari 330 GT eintauschen wollte. Foitek verlangte für den Miura 46 200 Franken, bezahlte für den Ferrari 22 000 Franken – und alles war gut. Tschudin behielt den Lamborghini drei Jahre, dann wechselte die Nummer 3604 über Foitek wieder den Besitzer und ging Ende 1972 an einen Thomas Maier, wohnhaft im luzernischen Rickenbach. Und dann – nichts mehr, fast 50 Jahre lang bleibt das Fahrzeug zwar in der Schweiz, aber verschwunden. Um vor wenigen Wochen wie Phoenix aus der Asche als Angebot für die grosse Herbstauktion der Oldtimer-Galerie in Toffen BE am 17. Oktober aufzutauchen.
All diese Geschichten
Ach, es ranken sich so viele wunderbare Geschichten um den Miura. Der erste Prototyp, Chassisnummer 0502, wurde an einem Rotlicht von einem Lastwagen überfahren. Das fünfte Exemplar, Chassisnummer 0979, kam als erster Miura in die USA. Dort wurde er vom saudi-arabischen Prinzen Turki ibn Faisal gekauft – der dann so überstürzt aus Amerika abreisen musste, dass er den Miura mit laufendem Motor und seinem Chinchilla-Pelzmantel auf dem Beifahrersitz vor dem Flughafen in Washington stehen liess. Und ihn nie wieder abholte. Oder da war der einst berühmte griechische Sänger Stamatis Kokotas, der von Aristoteles Onassis einen Miura geschenkt erhielt, diesen so schnell und heftig bewegte, dass der Motor explodierte, das Fahrzeug darauf in die Tiefgarage des Hotel Hilton in Athen stellte – und über 30 Jahre lang vergass. Es gab Miura, die fielen in Flüsse, mit einem anderen bretterte ein früherer Kampfpilot durch die afrikanische Savanne, mehr als einer musste verkauft werden, damit der Besitzer die Scheidung bezahlen konnte. Unter den Besitzern waren Drogenhändler, Opernsängerinnen, Rennfahrer, Filmstars. Vielleicht auch Frank Sinatra, aber das weiss man nicht so genau, aber er sagte mit grösster Wahrscheinlichkeit den Satz; «Wenn du jemand sein willst, kaufst du einen Ferrari – wenn du jemand bist, einen Lamborghini.» Jay Leno erhielt sein gutes Stück geschenkt.
All dies passt zu einem der wohl faszinierendsten Sportwagen aller Zeiten. Um dessen Entstehung ranken sich auch ganz viele Mythen, wie ja auch schon der Aufstieg von Ferruccio Lamborghini vom Heizkessel-, Klimaanlagen- und Traktorenproduzenten zum Autohersteller nicht wirklich geradlinig verlief. Es gibt manche Version der Geschichte, wie Lamborghini zu den Autos kam, oft wird geschrieben, dass der Entscheidung ein Krach mit Enzo Ferrari vorausgegangen sei, doch Ferruccio war viel zu sehr Geschäftsmann, als dass er nicht den Business-Case gesehen hätte. Als im November 1961 die halbe Führungsriege Ferrari verliess, sah er seine Chance – um dann in den zwei folgenden Jahren am eigenen Portemonnaie zu spüren, dass es gar nicht so einfach ist, ein anständiges Automobil zu konstruieren. Der erste Versuch, der 350 GTV, war gar nichts, erst der 350 GT von 1964 funktionierte.
Das wilde Trio
Es soll aber schon Anfang des Jahres 1965 gewesen sein, als sich der damals 29-jährige Gian Paolo Dallara, Chefkonstrukteur bei Lamborghini, der gleichaltrige Paolo Stanzani, Assistent von Dallara und Produktionsleiter bei Lamborghini, und der Neuseeländer Bob Wallace, Renn- sowie Testfahrer bei Lamborghini, eines schönen Feierabends zusammensetzten und über das Leben allgemein sowie die Zukunft von Lamborghini im Speziellen sprachen. Zwar hatten sie eben erst den 350 GT zum Laufen gebracht und arbeiteten schon fleissig an den verbesserten 400 GT sowie 400 GT 2+2, doch die drei Männer wussten ja auch, was auf der Rennstrecke gerade angesagt war. Und, Hand aufs Herz, ein hübscher Gran Turismo wie der 350 GT mochte ja ganz nett sein, aber nett ist zu wenig für einen Lamborghini.
Sie zeichneten ein Layout eines neuen Sportwagens, und diese Zeichnungen waren ziemlich radikal. Nein, sie waren extrem radikal. Noch nie hatte jemand auch nur im Ansatz versucht, so ein Fahrzeug auf die Strasse zu bringen. In erster Linie ging es um den Einbau des Motors: Nicht vorne in Längsrichtung sollte der bekannte 3.9-Liter-V12 liegen, sondern in der Mitte, noch vor der Hinterachse, quer. TP nannten die drei jungen Enthusiasten diese Konstruktion, transversale posteriore (damit wissen wir jetzt auch, woher die Bezeichnung LP bei den neuen Lamborghini kommt). Die Maschine lag so nah an der Schottwand zum Passagierraum, dass die beiden Passagiere den Motor quasi riechen konnten. Das Trio baute ein Rolling Chassis, und allein schon diese Arbeit war ein Meisterwerk. Ein Gehäuse, in dem Kupplung, ein selber entwickeltes Fünfgang-Getriebe und ein ZF-Differenzial untergebracht waren, wurde direkt an den Motor angeflanscht und zusammen mit dem Kurbelgehäuse des Motors gegossen. Die Schaltzüge des Getriebes verliefen mitten durch den Motorblock. Motor, Getriebe und Differenzial wurden aus der gleichen Ölwanne geschmiert (eine ähnliche Konstuktion hatte Sir Alec Issigonis 1959 schon für den Mini verwendet). Bei (mindestens) drei Miura-Modellen hat sich die Kurbelwelle noch gegen den Uhrzeigersinn gedreht.
Eine wilde Konstruktion von gelochten und gebogenen Stahlprofilen sowie abenteuerlich miteinander verschweissten Stahlblechen bildeten den Unterbau, eine selbsttragende Konstruktion mit einem Radstand von nur 2.46 Metern, die im Bereich des Passagierraums ein Monocoque bildete. Der Kenner erkannte sofort, dass da die Luftfahrt einen grossen Einfluss hatte – was nicht weiter verwundert, denn Dallara hatte ja nicht ein Automobilingenieurstudium absolviert, sondern eines in Flugzeugtechnik. Das Fahrwerk mit den doppelten Dreiecksquerlenkern, Federbeinen, Stabilisatoren vorne und hinten sowie Scheibenbremsen rundum wurde einigermassen unverändert vom 350 GT übernommen. Neu war einzig eine moderne Zahnstangenlenkung.
Der V12 selber, dessen Grundkonstruktion noch von Giotto Bizzarini stammte, erhielt vier Fallstrom-Dreifachvergaser von Weber. Bei 7000/min kam die Maschine auf 350 PS, vielleicht auch auf nur 325 PS – da gehen die Angaben etwas auseinander. Als Dallara, Stanzani und Wallace dieses Rolling Chassis wahrscheinlich im Sommer 1965 erstmals Ferruccio Lamborghini vorstellten, erwarteten sie ein grosses Donnerwetter, weil sie ja wussten, dass der Chef so gar nicht auf Rennsport stand. Auch der Idee eines Supersportwagens für die Strasse würde er wohl nichts abgewinnen können. Ferruccio war zwar nicht begeistert von der Eigeninitiative des Trios, doch er erkannte das Potenzial des Tipo 105, wie er den Entwurf in die Bücher eintragen liess, und gab grünes Licht für die weitere Entwicklung.
Im Herbst 1965 stand das Rolling Chassis auf der Turiner Motorshow. Und wer auch nur ein bisschen Ahnung hatte, was da von Lamborghini geschaffen worden war, musste begeistert sein. Wie viele Vorbestellungen es gab, weiss man nicht mehr, doch der Publikumserfolg ermunterte Lamborghini, für den Tipo 105 sofort einen Designer zu suchen. Schwer war das nicht, denn die italienischen Studios standen bereits Schlange in Sant’Agata: Diese Chance wollte sich niemand entgehen lassen. Den Zuschlag erhielt Nuccio Bertone, anscheinend weil er Ferruccio Lamborghini gesagt haben soll: «Ich kann Ihnen den Schuh machen, der zu Ihrem Fuss passt.» Bertone übergab das Projekt seinem erst kurz zuvor ernannten neuen Designchef, dem damals erst 27-jährigen Marcello Gandini.
Dieses ewige Design
Was Gandini dem Rolling Chassis überstülpte, war mindestens so sensationell wie die Konstruktion des unterdessen P400 genannten Wagens. Innert nur vier Monate entstand nicht nur das Design, sondern in Grugliasco bei Turin auch die Karosserie, die zum grössten Teil aus Alu gefertigt wurde. Fertig wurde der erste Wagen erst wenige Tage vor dem Genfer Salon 1966. Ach, was soll man noch schreiben über dieses Design? Der Miura ist sicher eines der schönsten, aufregendsten, herrlichsten Fahrzeuge aller Zeiten. 4.36 Meter lang, 1.76 Meter breit und nur 1.05 Meter hoch – ein Traum, auch heute noch. Beim Serienmodell betrug der Radstand 2.50 Meter, doch auch das ist immer noch kurz, und der Lamborghini erscheint deshalb gleichzeitig filigran wie auch sehr aggressiv.
Dallara und Stanzani hatten das Lamborghini-Werk in Sant’Agata unterdessen auf ein Qualitätsniveau gebracht, das es in der italienischen Automobilindustrie vorher noch nie gegeben hatte. Die Miura waren zwar delikate Maschinen, doch der V12 war standfest, die Verarbeitung sehr sauber. Die ersten Miura wurden mit einer Stahldicke von 0.8 Millimetern gefertigt, doch noch vor dem Anlauf der Serienproduktion (das erste Fahrzeug wurde erst am 29. Dezember 1966 an den Händler Lambocar in Mailand ausgeliefert) wurde die Stahldicke auf 0.9 Millimeter verbessert, und ab dem 125. Exemplar waren es dann gar 1.0 Millimeter. Auch wurden bei den Produktionsmodellen die Dachlinie um einen Zentimeter erhöht (der Wagen war trotzdem nur 1.06 Meter hoch) und dafür die Sitze um einen Zentimeter tiefer gelegt. Viel Platz hatte man aber trotzdem nicht im Miura, und nur wenige Zentimeter hinter dem Ohr das Fahrers befand sich die Auslassnockenwelle – das Vieh machte einen gigantischen Lärm. Etwas optimistisch nannte Lamborghini ein Leergewicht von unter 1000 Kilogramm (es waren wohl eher 1.2 Tonnen), einen Wert von 5.0 Sekunden für den Paradesprint von 0 auf 100 km/h (die AUTOMOBIL REVUE schaffte 1967 tatsächlich einen Wert von 5.1 Sekunden, während die «Motor Revue» auf 6.5 Sekunden kam) und eine mögliche Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h.
Die AUTOMOBIL REVUE blieb in einem ersten Kurztest in der Ausgabe vom 2. Februar 1967 gewohnt zurückhaltend: «Dem Konstrukteur ist es mit diesem Fahrzeug gelungen, den Komfort eines Gran-Turismo-Wagens für den Normalgebrauch mit den Leistungsmerkmalen eines ausgesprochen sportlichen Boliden zu verbinden und die Vorteile des den Rennwagen vorbehaltenen Zentralmotors voll auszunutzen.»
Vom P400 wurden zwischen 1966 und 1969 offiziell 474 Exemplare gebaut – ein grossartiger Erfolg. Ferruccio Lamborghini hatte mit maximal 50 Stück gerechnet. Die Version S wurde im November 1968 auf der Turiner Motorshow präsentiert und kurz darauf auf den Markt gebracht. Sie ist äusserlich an den verchromten Scheibenrahmen erkennbar, die Scheiben liessen sich jetzt elektrisch versenken, aber nur gegen Aufpreis. Unter dem Blech gehörten die jetzt innenbelüfteten Scheibenbremsen, die überarbeitete Hinterachse, ein steiferes Chassis und stärkere Antriebswellen zu den wichtigsten Veränderungen. Doch vor allem erhielt der P400 S etwas mehr Leistung, 370 PS waren es nun. Auf dem Genfer Salon 1971 stand der P400 SV mit weiter gesteigerter Leistung: 385 PS bei 7850/min. Von aussen sind die sehr begehrten SV am Wegfall der Augenwimpern rund um die Scheinwerfer erkennbar sowie an den sanft ausgestellten, hinteren Kotflügeln.
Weitere Bilder finden Sie auf www.automobilrevue.ch
Die grosse Herbst-Auktion in Toffen
Am 17. Oktober 2020 beginnt um 13.30 Uhr die grosse Herbstauktion in der Oldtimer-Galerie in Toffen BE. Zum ersten Mal nach der langen Corona-Pause ist wieder Publikum zugelassen, wenn auch nur beschränkt und auf Voranmeldung. Es wird eine feine Veranstaltung werden, neben dem hier beschriebenen Lamborghini Miura P400 (Schätzpreis ca. 1.5 Mio. Fr.) kommen auch ein wunderbarer Alfa Romeo 1900C SS von 1955, ein Aston Martin DB4, diverse Ferrari, jede Menge Jaguar, ein ganz feiner Maserati Bora und noch so manch ein Porsche (wie etwa der 928 S4 im Bild unten) unter den Hammer.
Bedingungen für Publikum und komplette Angebotsliste auf www.oldtimergalerie.ch