Familienfehde

ALTERNATIVE Die Plattform-Zwillinge VW Golf und Seat Leon sind sich so ähnlich wie noch nie. Kann der Lehrling den Meister gar übertreffen?

Der Volkswagen Golf und der Seat Leon waren stets auf unterschiedliche Kundengruppen ausgerichtet. Der Deutsche gab sich konsistent, nüchtern und konservativ, also typisch deutsch. Der Spanier hielt ihm sein südländisches Temperament entgegen, verspielt und polarisierend. Die Entwickler haben diese divergierenden Charakterzüge bei den fast gleichzeitig lancierten neuesten Ausführungen der Mittelklässler noch stärker ausgeprägt.

Der Golf in seiner achten Generation kann auf eine Modellgeschichte von 45 Jahren zurückblicken und weist eine unvergleichliche Reife auf. Die Änderungen gegenüber dem Vorgänger sind subtil, man findet wieder die nach vorn abfallende Motorhaube, die Proportionen bleiben gleich. Der Spanier tritt viel dynamischer auf, mit bauchigen Kotflügeln, Charakterlinien und markanten Kanten. Er scheut sich nicht, mit dem Stil des Vorgängermodells zu brechen. Während der Golf eine neue Lichtsignatur am Bug aufweist, findet man eine solche am Heck des Leon.

Technisch verwandt
Trotz aller spanischen Stilelemente ist unter dem Blech des Leon 4 die gleiche, technisch deutsche Handschrift verbaut wie bei den übrigen Plattformbrüdern des Konzerns. Auch im Innenraum profitiert der Seat von den jüngsten Technologien, wie sie im Golf Einzug halten. Die Zeiten, als sich die armen Verwandten von Seat und Škoda mit den ausgetragenen Kleidern von Volkswagen begnügen mussten, sind längst vorbei. Heute haben alle Marken im Konzern Zugriff auf die neuesten Entwicklungen der technischen Abteilungen – nicht immer nur zur Freude von VW.

Man ist versucht zu sagen, dass der Spanier unter diesen Bedingungen das Beste aus beiden Welten erhält. Umso mehr, als der Südländer bei der Preisgestaltung besonders aggressiv loslegt. Und der Preis ist nach wie vor eines der wichtigsten Argumente für den Kaufentscheid der Interessenten. Im Bestreben, auf ansehnliche Marktanteile zu kommen, schreiben die Spanier ihr Modell so günstig an, dass den Wolfsburgern angst und bange werden könnte. Wir müssen entsprechend der Frage auf den Grund gehen, was denn noch für den einst unantastbaren Golf spricht. Die Antwort kann in drei Schritten ermittelt werden. 

Optisch könnten der Golf und Leon unterschiedlicher nicht sein. Die Plattform ist aber die gleiche.

Fahrleistung: Für jeden etwas dabei

Beide Kontrahenten verwenden den MQB-Unterbau des Volkswagen-Konzerns und haben entsprechend Zugriff auf die gleiche Motorenpalette. Diese umfasst den Dreizylinder-Benziner mit 110 PS (1.0 TSI), die Vierzylinder mit 130 und 150 PS (1.5 TSI), die Mildhybrid-Modelle mit 110 (Dreizylinder 1.0 eTSI) und 150 PS (Vierzylinder 1.5 eTSI) und den Plug-in-Hybrid mit 204 PS (Vierzylinder 1.4 TSI). Dazu kommt beim Golf wie auch beim Leon noch der Vierzylinder-Diesel 2.0 TDI mit 150 PS. Der Urvater Golf kann ausserdem mit den Basistriebwerken 1.0 TSI mit 90 PS (Dreizylinder) und 2.0 TDI mit 115 PS aufwarten. Der Leon ist übrigens auch mit den Powerteams des Golf GTE und des GTI zu haben, diese findet man aber im Katalog der Marke Cupra.

Für das Duell der ungleichen Brüder wählten wir die von den Vorgängern bekannte Motorvariante eTSI mit 150 PS, kombiniert mit dem Siebenstufen-Doppelkupplungsgetriebe. Gleiche technische Plattform und gleicher Antriebsstrang resultieren natürlich in sehr ähnlichen Fahrleistungen. Das Temperament ist sehr ansprechend, auch wenn man nicht von Sportwagenwerten sprechen kann. Für den Golf ermittelten wir für den Paradesprint von 0 bis 100 km/h einen Wert von 9.4 Sekunden, der Leon brauchte nur 9.0 Sekunden. Der eTSI-Antrieb hat immer genug seiner maximal 250 Nm (zwischen 1500 und 3500/min) in petto, um spielend mit den knapp 1500 Kilogramm der beiden Wagen umzugehen. Golf wie Leon machen ausserdem viel Spass im Kurvengeschlängel. Der Deutsche ist eine Spur komfortabler, was dem etwas kurvenwilligeren Spanier einen leichten Vorteil bringt. Er reagiert spontaner auf Lenkbefehle und weist die geringere Karosserieneigung auf. Die Kehrseite der Medaille ist eine kaum wahrnehmbare Stabilitätseinbusse auf schlechten Strassen.

Der VW Golf 8 hält sich optisch einigermassen nahe an seinen Vorgänger während Seat bei der Gestaltung des Leon ziemlich alles über den Haufen geworfen hat.

Innenraum: Stärken und Schwächen

Beim Golf ist das Grössenwachstum zum Generationenwechsel von nur zwei Zentimetern kaum der Rede wert (von 4.26 auf 4.28 m), aber der neue Leon weist eine Länge von 4.37 Metern auf, ein Plus von neun Zentimetern gegenüber seinem Vorgänger. Diese gehen nicht zuletzt auf einen längeren Radstand von 2684 Millimetern zurück; beim Golf misst dieser 2636 Millimeter. Die Grösse bringt dem Leon vor allem bis zu sechs Zentimeter mehr Beinfreiheit auf der Rückbank ein. Die übrigen Innenabmessungen einschliesslich Laderaumvolumen sind fast identisch und in dieser Klasse sehr konkurrenzfähig. Die Ellbogenfreiheit misst 148 Zentimeter, der Kofferraum 380 Liter. Das Beladen des Golf geht dank der niedrigeren Ladekante von 68 Zentimetern viel einfacher als beim Leon (73 cm).

Das Raumgefühl ist bei beiden Kontrahenten ausgezeichnet und kann auch dem aufgeräumten Armaturenbrett zugeschrieben werden. Die Verarbeitung ist hier wie auch da gut, die oberen Bereiche verwenden aufgeschäumte Kunststoffe, die übrigen Plastikteile wirken nicht billig. Die Armaturenbretter verfügen über zwei 10 Zoll grosse Touchscreens (8.5 Zoll für die Basisversionen). Einer übernimmt die Aufgabe als Instrumentenanzeige, der mittige Bildschirm dient der Ansteuerung des Infotainments. Im Golf gehen die Touchscreens dank einer lackierten Blende optisch fliessend ineinander über, im Leon sind sie konventionell separat verbaut. Die Anzeigen stellen quasi eine Innovation in der Mittelklasse dar, denn sie stützen sich nicht nur auf die Touchscreens ab, sondern auch auf Tasten mit Berührungsoberflächen. Das sorgt für ein von physischen Schaltern befreites Armaturenbrett. Die moderne Präsentation in allen Ehren, aber der einfachen Fahrzeugbedienung dienlich ist der Wechsel leider nicht. In diesem markanten Kritikpunkt waren sich alle Mitglieder des AR-Testteams einig.

Kritik verdiente sich auch die langgezogene Berührungsoberfläche unterhalb des mittigen Bildschirms. Die Leiste ist nicht beleuchtet, was das Ablenkungspotenzial bei Nachtfahrten im Golf wie im Leon noch erhöht. Die — höflich ausgedrückt — enge technische Verwandtschaft der beiden Modelle macht sich also positiv genauso bemerkbar wie negativ. Die Menüfolge der im VW und im Seat etwas unterschiedlich angeordneten Touchscreens ist ebenfalls identisch und leider nicht intuitiv. Da hilft auch die mögliche Personalisierung der Ikonen und Anzeigen nicht viel. Ansonsten hielten wir einige Differenzierungen im Innendesign der beiden ungleichen Brüder fest, wie die Form der Luftaustrittsdüsen (langgezogen im Golf, achteckig im Leon), die Ablageflächen oder die Stimmungen der Innenraumbeleuchtung: Im Leon erstreckt sich die LED-Leiste über die ganze Breite des unteren Windschutzscheibenrahmens, im Golf ist sie in der Mittelkonsole.

Auf der anderen Seite ist beim Leon der Zugang zum Kofferraum deutlich mühsamer.
Beim Platz auf den Rücksitzen kann der Golf nicht mit dem Leon mithalten.

Budget: Erst auf den zweiten Blick

Man kann schon fast von einem Paradox sprechen, wenn der Golf mit seinem Basispreis von 22 900 Franken billiger angeschrieben ist als sein spanischer Bruder, für den man mindestens 24 950 Franken aufwenden muss. Aber das Täuschungsmanöver kann die Wahrheit nicht verstecken: Sobald auch nur einige wenige Optionen hinzukommen, schiesst der Preis schnell in die Höhe. Ein Beispiel gefällig? Unser Golf-Testwagen kostete in der Grundversion 1.5 eTSI 39 200 Franken, der gleich motorisierte Leon bloss 31 800 Franken. Dem wollen die Wolfsburger einen besseren Werterhalt ihres Flaggschiffs entgegenhalten, was sich aber als trügerische Hoffnung erweist. Der Leon stärkt kontinuierlich seinen guten Ruf, während beim Golf schon einige Fragezeichen aufgetaucht sind. Trotzdem gibt es Menschen, die dem Mittelklässler von Volkswagen unerschüttert die Treue halten. Ihnen genügt es, dass die Leasingraten den Preisunterschied pro Monat auf einen leichter verdaulichen Betrag herunterschrauben. Der Rest der Kostenrechnung lenkt wieder auf den Gleichstand ein, sei das bei der Garantie oder bei den Werkstattkosten. Quasi identisch ist auch der Verbrauch: Dank des Mildhybrids mit neun kW und 50 Nm wird Bremsenergie beim 1.5 eTSI in die kleine Batterie zurückgespeist und steht dann für die Wiederbeschleunigung zur Verfügung. Auf unserer Normrunde ermittelten wir 5.0 l/100 km für den Leon und 4.8 l/100 km für den Golf. Bei den Betriebskosten halten sich der Seat wie auch der VW vornehm zurück.

Die technischen Daten und die AR-Testdaten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe der Automobil Revue.

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