Jüngst wagte in der nicht wirklich autoaffinen «Sonntags Zeitung» (irgend-)ein Autor die These, dass die Sonderbehandlung von Ferrari in der Formel 1 endlich aufhören müsse. Er hat, neben vielen anderen Punkten, eines nicht verstanden: Ohne Ferrari gibt es keine Formel 1. Mercedes kann so oft hintereinander Weltmeister werden wie Audi einst in Le Mans gewann – ausser ein paar deutsche Schützenvereine und die Fans von Mercedes-Aboweltmeister Lewis Hamilton interessiert das niemanden. Ferrari hingegen kann siegen oder verlieren oder komplett untergehen oder wie einst mit Michael Schumacher dominieren – 99 Prozent, gut, vielleicht auch nur 98 Prozent der Zuschauer leiden mit oder freuen sich oder lächeln hämisch über das Unvermögen von Sebastian Vettel oder hoffen auf einen Coup von Charles Leclerc. Ob Lewis Hamilton, gewiss einer der grossartigsten Piloten aller Zeiten, zum 612. Mal gewinnt oder erst zum 90. Mal, das ist irgendwie egal. Toll für ihn, er bringt seit Jahren überragende Leistungen – und würde er für Ferrari fahren, würde er auch mit den ganz, ganz Grossen wie Juan Manuel Fangio, Ayrton Senna oder Schumacher verglichen. Sport ist aber nicht fair, Rennsport folglich auch nicht – und Ferrari lebt auch nicht nur von den Erfolgen, sondern mindestens so sehr von den Tragödien. Ohne diese Tragödien kann es keine Helden geben. Man darf dabei aber nicht vergessen: Mindestens so sehr wie die Formel 1 haben zum Ruhm der Marke auch die neun Siege bei den 24 Stunden von Le Mans (erstmals 1949, zuletzt 1965) und die acht Triumphe bei der Mille Miglia beigetragen.
Wilde Fahrer, aussergewöhnliche Leader
In Mugello (I) trat Ferrari zum 1000. Mal bei einem Formel-1-GP an. Vettel schaffte einen Punkt (vor George Russell auf Williams), Leclerc wurde Achter (weil Kimi Räikkönen eine Fünf-Sekunden-Strafe aufgebrummt erhielt). Eine absolute Katastrophe, weil seit Jahren alles eine Katastrophe ist bei Ferrari. 2019 war man noch vorne dabei, weil man sehr, sehr offensichtlich betrogen hatte (auch nicht zum ersten Mal), doch eigentlich läuft alles aus dem Ruder, seit Sergio Marchionne verstorben ist (2018), seit Luca di Montezemolo nicht mehr Ferrari-Chef ist (2014), seit Jean Todt in Maranello nicht mehr zum Rechten schaut (2008) und seit Enzo Ferrari tot ist (1998). Ferrari hatte nicht immer nur die wildesten, talentiertesten Fahrer, Ferrari hatte auch immer die aussergewöhnlichsten Leaderfiguren – heute heissen sie Harry Potter und irgendwas (wer kennt den Namen des aktuellen CEO von Ferrari?).
Klar, Ferrari liegt in so ziemlich jeder Wertung vorne. Die meisten GP, 1000, deutlich vor McLaren (872) und Williams (753). Ferrari zählt die meisten Polepositions (288, McLaren 155, Williams 128), Siege (238, McLaren 182, Williams 114), schnellsten Rennrunden (252, McLaren 158, Williams 132), Podiumsplätze (772, McLaren 488, Williams 312) – und natürlich sammelte Ferrari die meisten Weltmeistertitel in der Formel-1-Historie: 16 als Konstrukteur und 15 durch Fahrer (McLaren 8/12, Williams 9/7). Doch Ferrari zählt auch die meisten toten Fahrer (knapp vor Lotus), die schlimmsten Niederlagen (deutlich vor Sauber) und hatte die grossartigsten Fahrer: Alberto Ascari, Fangio, John Surtees, Phil Hill, Jacky Ickx, Gilles Villeneuve, Niki Lauda, Schumacher et cetera – leider fehlt hier Senna. Aber auch das gehört dazu: 1980 wurde Villeneuve als bester Ferrari-Pilot 14. in der Fahrer-WM (mit einem fünften Platz als beste Platzierung). 1973 war das Auto so schlecht, dass Ickx mitten in der Saison zu McLaren wechselte und man zwei Rennen ausliess. 1969 war Ferrari noch schlechter, wurde Konstrukteurs-Letzter. 1962 wollte man an den letzten zwei Rennen gar nicht mehr mitfahren. Was auch erklärt, weshalb Ferrari von den bisher ausgetragenen 1027 Grand Prix nur 1000 gefahren ist: Beim ersten Rennen 1950 in Silverstone (GB) waren die Italiener nicht dabei (weil sie schon damals hart über die Startgage verhandelten), bei Indy 500, das zwischen 1950 und 1960 auch zur WM zählte, fehlte die Italiener aus Prinzip (ausser 1952, doch Ascari schaffte es nur bis in die 25. Runde).
Emotionen und Palastrevolutionen
Was die Italiener einfach besser können als alle andern, immer noch: Emotionen. Es herrscht das ganz grosse Chaos, Opera buffa, es gab teaminterne Schlägereien und wilde Intrigen, die berühmteste sicher die Palastrevolution von 1961, als Ferrari auf einen Schlag seine ganze Führungsequipe verlor. Nur schon die Person Enzo Ferrari, ein Diktator, ein Frauenheld, ein Schlitzohr, war zu Lebzeiten für mehr Geschichten gut als die ganze Rennserie. So oft schon stand der Rennstall in Trümmern – und immer kamen die Italiener zurück, glorreich, glänzend, grossartig. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Hamilton über allen
Beim Grand Prix der Toskana in Mugello (I) hat Lewis Hamilton (Bild) mit seinem sechsten Saisonsieg, dem 90. insgesamt, einen weiteren Schritt getan, die Rekorde von Michael Schumacher zu egalisieren und zu brechen. Ein Sieg fehlt dem Briten noch, um mit dem Deutschen gleichzuziehen. Es ist noch eine Frage von Wochen, bis Hamilton seinen siebten Titel in der Tasche hat – oder genauso viele wie Rekord-Champion Schumacher.
In Mugello hätte wieder einmal nur Mercedes-Teamkollege Valtteri Bottas den angehenden Weltmeister gefährden können. Beim insgesamt dritten Start dieses durch Unfälle und Unterbrüche gekennzeichneten Grand Prix hatte der Finne aber das Nachsehen, als Hamilton dem Rest des Feldes mit einem phänomenalen Start enteilte. Bei derart vielen Zwischenfällen mit Neustarts wie am Sonntag ist es zweifellos von Vorteil, vorne zu starten und zu fahren und so vom Chaos dahinter verschont zu bleiben. Hamilton und Mercedes hatten ihren Kopf bei der Sache, nicht wie eine Woche zuvor in Monza (I). Ein Überraschungssieg wie jener von Pierre Gasly im Alpha Tauri-Honda wiederholte sich nicht. Alexander Albon im Red Bull-Honda hatte als Dritter hinter dem starken Mercedes-Duo das Nachsehen.
Bei Ferrari hätte man zum 1000-GP-Jubiläum zweifellos viel gegeben für einen Podestplatz. Aber die Realität ist derzeit brutal hart: Charles Leclerc auf Rang acht und Sebastian Vettel auf Platz zehn. Eigentlich wäre Kimi Räikkönen im Alfa Romeo mit Ferrari-Kundenmotor noch vor Leclerc klassiert gewesen, hätte der Finne nicht noch einen Platz wegen einer Fünf-Sekunden-Strafe für das Überfahren der Pitlinie verloren. Immerhin: Räikkönen holte damit seine ersten Punkte in diesem Jahr – in einem auf zwölf Überlebende reduzierten Feld. Es wäre auch eine Chance für das zweite Auto aus dem Haus Sauber in Hinwil ZH gewesen, aber Antonio Giovinazzi schied schon bei einer Massenkarambolage in Runde sieben aus.
Ferrari: die Starken…
… und die Schwachen