Die den Überblick behalten

IM BILD Die Operator in der Verkehrsmanagementzentrale Emmenbrücke sind die Dirigenten des Autobahnverkehrs. Sie sorgen für die Musik auf dem Netz – und im Idealfall für einen flotten Takt.

Warum in drei Teufels Namen ist hier Tempo 80 limitiert? Ist ja freie Bahn! Die haben doch einen am Helm!» Haben Sie sich auf der Autobahn auch schon so oder ähnlich künstlich aufgeregt? Gefaucht wie ein tollwütiger Neandertaler über diese anonymen Brothirne, Ballaballas und Vollpfosten? Soll ja vorkommen. Nun, mit «die» sind die Operator in der Verkehrsmanagement­zentrale (VMZ) in Emmenbrücke LU gemeint. Die Damen und Herren, die an sieben Tagen rund um die Uhr den Verkehr auf den 2254.5 Kilometern Nationalstrasse orchestrieren. Es sei hier verbrieft und versiegelt festgehalten: Die sind weder Ballaballas noch Brothirne noch Vollpfosten und haben schon gar nichts am Helm. Es sind alles nette, clevere, erfahrene Menschen, die einen prima Job machen. Ohne die kämen wir überhaupt nicht mehr vorwärts auf der Autobahn. 

Wie also erklären sich die sich gefühlt wie Kanninchen vermehrenden Tempo-80-Limits auf der Autobahn, wenn der Verkehr doch rollt? VMZ-Chef Jörg Dreier sagt es so: «Wenn wir rechtzeitig Tempo 80 signalisieren, können wir einen Stau unter Umständen verzögern oder sogar verhindern.» Man muss sich dazu Folgendes vorstellen: Als Autofahrer hat man genau eine Perspektive auf die Strasse vor sich – jene durch die Windschutzscheibe. Den Damen und Herren in Emmenbrücke stehen Tausende Einsichten aufs Strassennetz zur Verfügung, um zu erkennen, wie der Verkehr 23, 71, 94 oder154 Kilometer weiter vorne oder hinten rollt, wie dicht und flüssig. Daraus können sie mit Hilfe hoch entwickelter Algorithmen bemessen und folgern, was sich zusammenbraut. Und entsprechend reagieren.

Besonders zur Rushhour rollt der Verkehr auf den helvetischen Nationalstrassen heutzutage – sofern nicht gerade Lockdown herrscht – auf extrem dünnem Eis. «Früher mochte es wesentlich mehr leiden. Wenn es zu einem Stau kam, hat er sich schneller aufgelöst», sagt Dreier. Das sei heute nicht mehr der Fall. Die Verkehrsdichte ist meist so hoch, dass es rein nichts mehr erträgt. Ein Unfall, eine Spuraufhebung oder ein anderes Ereignis – und schon haspelt sich der Stau auf wie das Garn auf der Spule des Spinnrades.

Im Gegensatz zu früher löst sich die Komplikation nicht mehr wirklich auf. «Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die maximale Leistungsdichte der Strecke nach dem Zusammenbruch des Verkehrsflusses um zehn bis dreissig Prozent niedriger ist als vor dem Zusammenbruch», so VMZ-Chef Dreier. Diese Nachhaltigkeit, die in diesem Fall keiner will, ist viel effektiver geworden. Schlicht, weil von hinten viel mehr Nachschub anrollt. Dieser Umstand lässt sich natürlich auch auf das rasante Bevölkerungswachstum zurückführen. Item: Studien gehen davon aus, dass künftiges, dann auch autonomes Fahren nicht für weniger, sondern ganz im Gegenteil für viel mehr Individualverkehr sorgen wird. Selbst wenn autonome Fahrzeuge die Grenze zum öffentlichen Verkehr zusehends auflösen sollten. Und der daraus resultierende Mehrverkehr muss über die Strasse abgewickelt werden.

Leiten, lenken, steuern, informieren
3500 Kameras sind entlang der helvetischen Nationalstrassen bis dato montiert und senden live rund um die Uhr. Und es werden immer mehr. Jeder Verkehrsoperator stellt sich seine eigenen Kameragruppen zusammen, die ihn bei der Überwachung des jeweiligen Autobahnabschnittes am effektvollsten unterstützen. Zum Beispiel des Mittellandes, der Ostschweiz oder des Tessins samt Gotthard und Schwerverkehr. Seit die VMZ 2008 das Regime über die Nationalstrassen von den Kantonen übernommen hat, ist die nationale Leitzentrale auch für das operative Schwerverkehrsmanagement auf der Nord-Süd-Achse verantwortlich. Die Warteräume für die Brummis sind ein ganz wesentlicher Bestandteil der Arbeit der Verkehrsmanager. Sobald Staugefahr in Sicht ist, wird der alpenquerende Güterverkehr auf die Abstellplätze zwischen Basel und Chiasso geleitet und in zeitlich sicheren Abständen dosiert wieder in den Verkehr eingeschleust. Dies trägt signifikant zur Sicherheit und zu einem flotten Rhythmus des Gesamtverkehrs bei.

Das Leben führt Regie
Urs Kottmann ist ein Routinier am Desk und von Anfang an als Verkehrsoperator im VMZ dabei. Träumt man nicht von vorbeifahrenden Autos, wenn man täglich acht Stunden – am Wochende sogar zwölf – auf 72 Autobahnbilder starrt? «Nein, man gewöhnt sich daran.» Und ausserdem verliert jeder Alltag seine Eintönigkeit, wenn verrückte oder aussergewöhnliche Sachen passieren. Letzteres ist hier der Fall. Immerhin führt auf der Autobahn das reale Leben Regie, einen spannenderen Film als den Alltag gibt es nicht. «Einmal war da einer, der ein Schiff hinter sich hergezogen hat», erzählt Urs Kottmann. Quer! Ein anderes Mal habe er live miterlebt, wie ein Tankwagen explodiert sei. Und jüngst machte ein Primarlehrer Schlagzeilen, der nahe am Abzweiger Solothurn ein Auto auf den Pannenstreifen abdrängte, ausstieg und zum Infight überging. «Kein Tag ist wie der andere, es passieren immer wieder neue Ereignisse, auf die man reagieren muss», sagt Kottmann. Natürlich nicht nur derart wildes Zeug.

Wenn ein Ereignis passiert, ist Teamwork gefragt. Die Verkehrsmanager arbeiten mit verschiedenen anderen Stellen und Organisationen, etwa den regionalen Verkehrszentralen, dem ÖV, Via­suisse oder der Polizei, zusammen. Ad hoc werden je nach Fall geeignete Massnahmen vereinbart. Die wichtigsten Partner für das Management der Nationalstrassen sind neben der Polizei die fünf Filialen des Bundesamts für Strassen (Astra) und die elf Gebietseinheiten der Kantone. Die Hauptaufgabe der Filialen ist der Bau, Ausbau und Unterhalt der Nationalstrassen. Sie stellen die Verkehrserfassungs- und Leitsysteme mit Wechselsignalen und Wechseltext hin, planen und koordinieren die Baustellen und so weiter. Die Gebietseinheiten ihrerseits kümmern sich um den Winterdienst, die Reinigung der Fahrbahnen, die Grünpflege, den Unterhalt der elektromechanischen Installationen oder die Behebung kleinerer Strassenschäden. Die Polizei schliesslich ist für die sicherheitsrelevante Erstintervention bei Unfällen, Pannenfahrzeugen oder Naturereignissen zuständig. Je nachdem ergeben sich dann für die VMZ in Emmenbrücke Verkehrsmanagementmassnahmen wie zum Beispiel die Freigabe von Pannenstreifen, Überleitung und Gegenverkehr in Tunneln oder auf der Strecke oder auch Umleitungen auf das untergeordnete Strassennetz. «Da gibt es keine eintönige Routine», sagt Urs Kottmann. Freilich gebe es natürlich wie in jeder Bereitschaftszentrale Tage, an denen wenig oder nichts los sei. Genau dann ist eigentlich alles just so, wie es sein soll. Während des Lockdowns etwa, als die totale Harmonie auf der Autobahn herrschte, konnte man im VMZ gar einen Mitarbeiter pro Schicht auf Pikett zu Hause lassen. Inzwischen herrscht nahezu wieder das gleiche Verkehrsgetümmel wie früher.

Um den Verkehr zu beeinflussen, können die Operator in Emmenbrücke leiten, lenken, steuern und informieren. Leitende Massnahmen sind variable Geschwindigkeitslimiten, Gefahrensignalisationen, Pannenstreifenumnutzungen und Fahrstreifenbewirtschaftungen. Lenken heisst den Verkehr über Alternativrouten umleiten oder Umfahrungsempfehungen herausgeben. Gesteuert wird durch die Dosierung des Zu- oder des Abflusses. Informiert schliesslich wird mittels Verkehrsmeldungen und Wechseltextanzeigen.Wie gelenkt, geleitet, gesteuert und informiert wird, bleibt am Ende des Tages eine Ermessensfrage. Indes gibt es zwölf Handlungsgrundsätze des Astra zum Umgang mit diesem Ermessenspielraum.

Jörg Dreier ist der Chef der VMZ in Emmenbrücke.

Das Programme wird spannender
Rund 180 000 Meldungen gelangten 2018 aus Emmenbrücke via Viasuisse über das Radio Data System (RDS), den Traffic Message Channel (TMC), das Internet oder Wechselanzeigen auf der Strasse zum Verkehrsteilnehmer. «Informieren ist eine unserer Hauptaufgaben», sagt Urs Kottmann. Er und seine Kollegen sorgen für das Rohmaterial jeder Verkehrsmeldung, die Viasuisse dann aufbereitet und verbreitet. Der Stoff wird ihnen nicht ausgehen. Jörg Dreier sagt: «Man sieht immer mehr haarsträubende Manöver. Insofern ist es eigentlich ein Wunder, dass nicht mehr Unfälle passieren.» 

Das Optimum zu optimieren ist der Auftrag

Die Fahrleistung auf den Nationalstrassen nahm 2019 gegenüber 2018 um rund 100 Millionen auf 27.8 Milliarden Fahrzeugkilometer zu. 18 Prozent davon entfielen auf den Güterverkehr. Nach einer leichten Abnahme 2018 nahmen die Staus 2019 auf 30 230 Stunden zu. 2017 waren es 25 853, 2014 noch 21 541 Stunden. Für die kommenden vier Jahre hat das Bundesamt für Strassen (Astra) in einer Roadmap 19 Massnahmen definiert, um den Verkehr flüssiger zu gestalten. Schnellstmöglich sollen von einer Regelungs- und Steuerungslogik bediente weitere Geschwindigkeitsharmonisierungs- und Gefahrenwarnanlagen (GHGW, Bild unten) realisiert werden. Bis 2026 will man zusätzliche 800 Autobahnkilometer mit GHGW bestücken. Zudem sollen bis 2026 über die ganze Schweiz verteilt mehr als 100 neue Rampendosierungsanlagen (Tropfenzähler bei Einfahrten) hinzukommen. Temporäre Umnutzungen von Pannenstreifen (PUN) könnten sehr viel dazu beitragen, den Verkehr zu verflüssigen. Das hat der 2010 lancierte Pilotversuch zwischen Morges VD und Ecublens VD längst aufgezeigt. Freilich obliegen solche Umnutzungen denselben Auflagen wie Neubauten und sind insofern kaum je permanent realisierbar. Heuer wurde die PUN zwischen Villars-Ste-Croix VD und Cossonay VD und zwischen Winterthur-Ohringen ZH und Oberwinterthur ZH in Betrieb genommen. In den Agglomerationsräumen werden jetzt weitere 250 Kilometer auf ihre bauliche Machbarkeit betreffend PUN geprüft. Thema sind auch Ausfahrtsverlängerungen. Am meisten zu mehr Verkehrsfluss beitragen können freilich die Automobilisten selber durch ihr Verhalten und, mindestens zum Teil, ihr Können am Steuer. Schauderhaft, was man da bisweilen zu sehen kriegt! «Oft hat Stau nichts mit Kapazitätsgrenzen der Strasse zu tun, sondern mit falschem Fahrverhalten», formuliert es VMZ-Chef Jörg Dreier. Mit ein bisschen mehr Rücksicht und Anstand könnten Staus teilweise verhindert und verkürzt werden. Allein der Faktor Mensch als Schwachstelle ist erst minimierbar, wenn die Autos zumindest auf der Autobahn so autonom fahren wie ein Autopilot heute fliegt. Das dauert noch. Deshalb versucht man es anders. In einem Autobahn-Knigge etwa serviert das Astra Tipps und Anregungen für ein korrektes und rücksichtsvolles Verkehrsverhalten auf www.astra.admin.ch/knigge. Vier neue, ab 1. Januar 2021 geltende Verkehrsregeln sollen zudem für mehr Sicherheit und mehr Takt on the Road sorgen.

  1. Das Reissverschlussprinzip bei Spurabbau. Damit will man verhindern, dass bei Spurabbauten zu früh auf die verbleibende Spur gewechselt wird, wie es heute oft geschieht.
  2. Rettungsgasse bilden – bei dreispurigen Strassen zwischen der linken und den beiden rechten Spuren.
  3. Rechtsvorbeifahren. Während Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen bisher nur im parallelen Kolonnenverkehr erlaubt war, ist dies künftig auch zulässig, wenn sich nur auf dem linken oder bei dreispurigen Autobahnen mittleren Fahrstreifen eine Kolonne gebildet hat. Rechtsüberholen, also Ausschwenken auf den rechten Fahrstreifen und unmittelbares Wiedereinschwenken, bleibt freilich verboten.
  4. Die Höchstgeschwindigkeit für leichte Motorfahrzeuge mit Anhängern bis 3.5 Tonnen wird von 80 km/h auf 100 km/h erhöht. 

Das Astra untersucht unter anderem auch die Entlastungswirkung von Carpool-Parkplätzen zur Förderung von Fahrgemeinschaften an Autobahneinfahrten. Eine bessere Auslastung, heute sitzen in der Rushhour (6–9, 16–19 Uhr) im Schnitt 1.1 Personen (!) in einem Auto, könnten den Verkehr massiv entlasten. Auch wenn Corona hier gerade nicht hilft. Vorstellbar, dass gut gefüllte Autos mit mindestens drei Personen künftig etwa am Zoll oder bei einer Einfahrtsrampe bevorteilt werden. Ein eigener Fahrstreifen wie in anderen Ländern dagegen ist eher unrealistisch.

Fotos: Joshua Schenk, Adobe Stock

1 Kommentar

  1. Ich habe im ASTRA gearbeitet. Die täglichen Leistungen der VMZ für einen flüssigen Verkehr wurden anfangs im Amt belächelt und wollten nicht wahrgenommen werden. Es ist sehr erfreulich, dass diese Institution jetzt offenbar ihre berechtigte Akzeptanz erhalten hat und auch beim breiten Publikum bekannt gemacht wird. Ohne das zentrale Management der Nationalstrassen würde das Netz fast täglich zusammenbrechen. Als nächster Ausbauschritt sollte das Management des untergeordneten Kantonalstrassennetzes in Betracht gezogen werden. Die Navis weichen bei Staus auf den Nationalstrassen per Definition auf dieses Netz aus.

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