Wie viel ist zu viel?

ÜBERMASS Der Audi RS6 Avant ist ein 600-PS-Monster, ­bietet locker Platz für eine Familie, ist vollgestopft mit modernster Technik und kostet ein Haus. Braucht man das wirklich?

Wieso? Diese Frage sitzt während der gesamten Testdauer irgendwie im Hinterkopf. Wieso, zur Hölle, braucht jemand so ein Auto? Klar ist ein serotonin-induziertes, impulsives Verlangen nicht von der Hand zu weisen bei jeder der nicht enden wollenden Beschleunigungsorgien. Die neuste Generation des Über-Kombis darf weiterhin mit acht Zylindern fuhrwerken, der Vierliter-V8 des Vorgängers wurde punktuell weiterentwickelt und leistet jetzt 600 PS und 800 Nm.

Sehr schnell, aber …
Das reicht aus, um den Zwei-Tonnen-Bomber in unter vier Sekunden auf Tempo 100 zu katapultieren. Das geht aber natürlich nicht nur aus dem Stand, der RS6 ist schnell in jeder Situa­tion – wenn er mit einem tiefen Gang und entsprechend hoher Drehzahl auf den Sprint vorbereitet wird. Andernfalls gönnt er sich eine unangenehm lange Gedenksekunde, die eine Kombination aus Turboloch und Sortieren der Gänge ist, bis er abgeht. Aber wenn er läuft, dann läuft er. Der V8 dreht hoch, bis bei knapp 6500 U/min der Gangwechsel ansteht, sauber, gleichmässig, emotionslos – aber eben auch unglaublich schnell. Die Frage bleibt: Braucht es das? Wie viel ist zu viel? Es braucht nicht viel mehr, als einmal das Gaspedal anzutippen, schon hat man potenziell ein Gratisticket für den Knast. Oder anders: Wer braucht ein Auto, das immer nur mit Halbgas gefahren werden kann? Das Portemonnaie würde übrigens auch dadurch nicht geschont, trotz 48-Volt-Mild­hybrids gönnte sich der Turbobenziner auf der Normrunde gut 10.5 l/100 km.

Auf kurvenreichen Strecken schlägt sich der RS6 trotz seines Gewichtes und seiner Grösse erstaunlich gut. Die Monster-Reifen (285/35 R22 vorne und hinten) sorgen für Monster-Grip, zusammen mit der Allradlenkung und dem Torque-Vectoring sorgt das für ein neutrales und ausgewogenes Fahrverhalten. Spielend leicht lässt er sich schon fast nur mit dem kleinen Finger am Lenkrad um die Bögen jagen. Einzig wenn die Kurven allzu motiviert angegangen werden, hat er eine leichte Tendenz zum Untersteuern, wenn die Kurven zu eng werden. Dann wird auch das Gewicht spürbar, und wenn die Landstrassen nicht nur eng, sondern auch uneben werden, läuft das Auto Gefahr, unruhig zu werden. Was Masse hat, hat auch ein Trägheitsmoment, das dafür sorgt, dass es schnell den Kontakt zur Fahrbahn verliert.

Hier fällt vor allem auch die grosse Spreizung zwischen den verschiedenen Fahrmodi auf. Das ist nicht mehr nur eine Komfortfrage, sondern auch fahrdynamisch und sicherheits­techinsch relevant. Denn während der RS6 mit weichen Dämpfern im Komfortmodus wie auf einer Magnetschwebebahn auch über unebenen Asphalt gleitet, nehmen bei dynamischeren Fahrwerksabstimmungen nicht nur die Schläge, die in den Innenraum übertragen werden, spürbar zu, sondern das Auto beginnt auch nervös von Bodenwelle zu Bodenwelle zu hüpfen. Das geschieht auf sportlicher Fahrweise auf engen Bergsträsschen im Fricktal genauso wie bei Tempo 300 auf der Autobahn Richtung München. Und wenn die zwei Tonnen Stahl unter dem Hintern nervös werden, passiert mit dem Fahrer meist dasselbe.

Optisch zeigt der RS6 deutlich, wer der Chef auf der Strasse ist. Ob der sehr aggressive Auftritt zu einem Kombi dieser Preisklasse wirklich passt, ist selbstverständlich eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Viel Komfort, viel Platz, viel Ruhe
Am Innenraum überzeugt der RS6 mit preis­gerecht schöner Verarbeitung des – im Fall unseres Testwagens – cognacbraunen Leders in Kombination mit Zierelementen aus Aluminium. Ob das gefällt, ist Geschmacksache, auf jeden Fall ist es eine willkommene Abwechslung zum üblichen schwarzen Leder und Sichtkarbon.

Ansonsten bietet der elegante Kombi vor allem: Komfort und Platz. Die Aussenwelt wird nahezu hermetisch draussen gehalten, eine gewisse Geräuschkulisse des Motors ist zwar konstant vorhanden, aber niemals dominant. Im Komfort-­Modus ist die Ruhe schon fast beängstigend, im Dynamik-Modus ertappt man sich dabei, wie man sich wünscht, dass alles ein klein wenig dreckiger klänge, weniger steril, denn auch da hört man vom Motor eigentlich nichts.

Für Fahrer und Beifahrer bieten die Sitze angenehmen Seitenhalt, auch bei sportlicher Gangart, und auch wenn sich schlanke Posturen trotz der anpassbaren Seitenwangen etwas verloren vorkommen in den mächtigen Sesseln. Die Rückbank ist natürlich weniger stark konturiert, und der fünfte Platz kann benutzt werden – sollte aber nicht unbedingt für längere Fahrten eingeplant werden, er ist alles andere als bequem. Bei vier Insassen steht auch jedem eine eigene Klimazone zu – einfach für den Fall, dass die Kinder auf der Rückbank nicht die gleiche Wohlfühltemperatur haben. Für Fahrten mit der ganzen Familie und Hund und Gepäck bietet der Kofferraum Platz im Überfluss. Mindestens 565 Liter sind es, bei heruntergeklappter Rückbank bis zu 1680 Liter.

Anzeige und Bedienung finden auf zwei Touchscreens, einem Bildschirm und dem Head-up-­Display statt. Braucht es das alles? In der Tat wird es schwierig, die Anzeigen so auszuwählen – ist ja alles frei konfigurierbar –, dass auf dem Head-up, dem Kombiinstrument und dem Infotainment nichts doppelt und dreifach redundant ist. Das unterste Display auf der Mittelkonsole dient primär der Bedienung der Klimaanlage und der Texteingabe fürs Navi. Assistenzseitig ist der Audi RS6 mit allem ausgerüstet, was heute in der Oberklasse zum guten Ton gehört, vom adaptiven Tempomaten über den aktiven Spurassistenten bis hin zum Nachtsichtassistenten mit Infrarotkamera.

Optionen sind relevant fürs Gesamtpaket
An dieser Stelle wollen wir vielleicht den Preis des Audi RS6 Avant etwas aufdröseln. Der Basispreis des Autos, ohne Rabatte, ist 149 500 Franken. Unser Testwagen inklusive aller Sonderausstattung und Rabatte bringt es auf stolze 198 427 Franken, also rund 50 000 Franken an Sonderausstattungen. Der Grossteil dieses sehr happigen Aufpreises geht aufs Konto der Fahrdynamik. Sportabgas­anlage, Sportfahrwerk mit Dynamic Chassis Control und das Dynamikpaket Plus mit Keramikbremse, Anhebung der Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h auf 305 km/h, Allradlenkung und Sportdifferenzial summieren sich auf 20 000 Franken. Weitere 10 000 Franken sind für die Optik wie Lederausstattung und die absolut monströsen 22-Zoll-Felgen, und rund 13 000 Franken gehen für Komfortausstattung drauf, 8000 Franken davon allein für die Soundanlage von Bang & Olufsen.

Braucht es das wirklich alles? Das ist eben die Problematik: Auf den einen oder anderen Punkt in der endlosen langen Aufpreisliste kann sicher verzichtet werden, aber wenn die grossen Brocken weggelassen werden, ändert sich das Gesamtpaket des Autos deutlich.

Man kann es als Kritik formulieren oder als Konzept des Autos erklären wollen, aber auf jeden Fall ist beim Audi RS6 einfach alles: viel. Die Frage, ob es das alles braucht und wieso man das braucht und wie viel dann too much ist, muss wohl jeder für sich selber beantworten. 

FAZIT
Der Audi RS6 Avant ist unglaublich schnell, kräftig und brutal. Aber eben auch teuer und schwer. Wenn ein Kombi gegen 200 000 Franken kostet, braucht er schon eine sehr gute Rechtfertigung für den Preis. Die grosse Stärke des RS6 ist der Spagat zwischen Alltagsfahrzeug und Supersportler. Er bietet einerseits einen hochwertigen, schön verarbeiteten Innenraum und den Fahrkomfort einer Chauffeurlimousine, dazu mehr als genügend Platz für die Kindersitze auf der Rückbank und Kinderwagen und Feriengepäck im Kofferraum. Gleichzeitig ist er aber auch sein eigener böser Bruder. Der Vierliter–V8-Biturbo stellt die 600 PS und 800 Nm nahezu jederzeit zur Verfügung – wäre da bloss nicht die Gedenksekunde, die sich Turbolader und Getriebe gönnen. Das Fahrzeug ist fühlbar schwer und schiebt seine Masse hin und wieder über die Vorderachse, ist aber ansonsten sauber ausbalanciert und wendig, sodass sich mit Sicherheit niemand über mangelnden Fahrspass beklagen kann. Ob es einem das wert ist, so viel Geld für einen schnellen Kombi auszugeben, muss jeder für sich selber entscheiden.

Die technischen Daten und die AR-Testdaten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe der Automobil Revue.

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