Untergeschoss startbereit

ROLLING CHASSIS E-Antrieb bedeutet mehr als nur Benzin durch Strom zu ersetzen. Beim Karosseriebau geht der Trend weg von der selbst­tragenden Bauweise hin zur Plattformarchitektur.

Der Elektroantrieb revolutioniert derzeit den Automobilbau. Das einfache Ersetzen des Verbrennungsmotors durch eine Elektromaschine ist technisch wenig sinnvoll und hinsichtlich Umweltverträglichkeit und Kosten zumindest fragwürdig. Vielmehr zeigt die alternative Antriebsart neue Wege auf, wie Autos in Zukunft effizient entwickelt und gebaut werden können. Dabei stehen zwei wesentliche neue Aspekte im Zentrum: Erstens ist es nicht mehr der Antriebsstrang, sondern der Energiespeicher, durch den sich die Autohersteller voneinander abgrenzen. Zweitens ermöglicht die Trennung von Chassis und Fahrgastzelle eine völlig neue Fahrzeugarchitektur. Das Elektroauto lässt sich aus einem fahrbereiten Unterbau und einem frei wählbaren Aufbau zusammensetzen.

Völlig neue Platzverhältnisse
In einer solchen Plattform – oft wird sie auch Skateboard genannt – sind Energiespeicher, Antriebsgruppe, Fahrwerk und Crash-Management zusammengefasst. Nicht selten sind es Zuliefer­unternehmen, die den etablierten Automobilherstellern auf diese Weise Unterstützung anbieten. Bereits sind solche Skateboards in diversen Spielarten realisiert worden. So spannen beispielsweise die jungen US-Firmen Rivian mit Ford und Canoo mit Hyundai zusammen, um Entwicklungszeit und -kosten zu sparen und damit neue Elektromodelle schneller auf die Strasse zu bringen.

Das Skateboard des israelischen Zulieferers REE Automotive setzt auf Radnabenmotoren und eine kompakte ­Aufhängungskonstruktion, sodass der gesamte Platz über der crashfesten Batterie für Aufbauten zur Verfügung steht.

Eine technisch etwas speziellere Lösung bietet das israelische Unternehmen REE Automotive an. Im Rahmen einer strategischen Partnerschaft wird REE zusammen mit dem Hydraulikhersteller KYB Antrieb und Radaufhängungen für zukünftige Elektrofahrzeug-Plattformen entwickeln. In diesem Skateboard werden jedoch Radnaben­antriebe verbaut: Motor, Getriebe, Radaufhängungen und Bremsen sind zu kompakten Systemen zusammengefasst und finden im Nabenbereich der Räder Platz, während das Batteriepaket in einem crashfesten Rahmen den Unterboden bildet. Entsprechend viel Platz und eine völlig ebene Fläche stehen dann auf der Plattform zur Verfügung, was in Nutzfahrzeugen von besonderer Bedeutung ist. Dass die fahrdynamischen Voraussetzungen des Radnabenantriebs aufgrund der grösseren ungefederten Massen nicht optimal sind, spielt in solchen Fahrzeugen eine weniger wichtige Rolle. REE und Zulieferer KYB wollen mit dem japanischen Nutzfahrzeughersteller Hino und dem chinesische Autobauer BYD auf Basis der Flatformer-Plattform gemeinsame Wege gehen.

Eine ähnliche Funktion übernehmen die Plattformen neuer europäischer E-Autos. Hier haben die Autohersteller aus einem grossen Batteriepaket in stabilem Rahmen eigene, neue Unterbaukonzepte mit mehr oder weniger konventionellem, markentypischem Aufbau kombiniert. VW beispielsweise stellt den modularen Elektro-Baukasten (MEB) einer grossen Zahl von Konzernmodellen zur Verfügung. Verschiedene Skateboard-Architekturen mit variablen Aufbauten hat auch der Schweizer Designer und Karosserietüftler Frank Rinderknecht schon präsentiert. Das neuste Wechselsystem, Metro Snap, soll auch besonders kostengünstig zu realisieren sein.

Bei Rinspeed entstanden schon diverse Prototypen mit fahrbereiter Plattform und variablen Aufbauten, im Bild der Metro Snap von 2020.

Rollbrett für neue Modelle
Ein ausgeklügeltes neues System wurde im vergangenen September auf der Frankfurter IAA gezeigt und hätte Ende April auch beim aus bekannten Gründen abgesagten Wiener Motorensymposium 2020 im Detail vorgestellt werden sollen. Unterdessen haben Vertreter der beiden Entwicklungspartner Benteler und Bosch ausführlich über die neue modulierbare Plattform informiert.

Auch das sogenannte Rolling Chassis wurde entwickelt, um die Autohersteller bei der Entwicklung neuer Modelle zu unterstützen. Charakteristisch ist gemäss Angaben der Entwickler die hohe Modularität in den Bereichen Unterboden, Crash-­Management, Batteriepaket und Achsmodule. Bei der Entwicklungszusammenarbeit für das fahrbereite Rolling Chassis haben die Partner zum Teil bestehende Komponenten zu einem System verknüpft, aber vor allem auch komplett neue Subsysteme und Komponenten entwickelt. Im Zentrum stehen die maximale Wiederverwendbarkeit und Skalierbarkeit der Komponenten und Systeme, um damit einen möglichst weiten Markt anzusprechen.

Wie Marco Kollmeier von Benteler Automobile und Ulrich Schulmeister von Robert Bosch in ihrem Wien-Referat berichten, gibt es für den Unterboden je nach Fahrzeugsegment unterschiedliche Lösungen. Am besten eignet sich für kostengünstige und kleinere Fahrzeuge der Unterbau von selbstragenden Stahlkarosserien. Dagegen ist die skalierbare Rahmenstruktur aus Aluminium, der sogenannte Flexframe, eine Variante, die sich wie bei den konventionellen Karosserien in einen Front-, Mittel- und Heckbereich aufteilen lässt. Ein besonderes Merkmal dieser Struktur ist, dass die Skalierbarkeit auf diese drei Teilbereiche heruntergebrochen werden kann. Für Kombis oder Pick-ups beispielsweise lässt sich auch nur der Heckbereich anpassen.

Zum Rolling Chassis gehören elektrisch angetriebene Vorderachs- und Hinterachsmodule. Dank modularen Ansatzes sind damit praktisch alle Fahrzeugsegmente abdeckbar. Die Basis für die Vorderachse von Modellen der oberen Segmente stellt eine Doppelquerlenker-Radaufhängung dar, und für die Hinterachse wurde eine Fünflenkerkonstruktion gewählt. Innerhalb der Achssysteme lassen sich unterschiedliche Dämpfer und Stabilisatoren sowie Stahl- oder Luftfedern integrieren. Möglich soll im Weiteren auch eine Hinterachslenkung sein. Für Fahrzeuge der unteren Segmente sind McPherson-Vorderachsen vorgesehen, während die geschleppte Hinterachse als Verbundlenkerkonstruktion und bei 4×4-Konzepten als Verbundlenkerausführung mit Spurkorrektur oder als Mehrlenkerachse ausgeführt ist.

Grosse Variabilität
Als zentrales Steuergerät übernimmt die Vehicle Control Unit (VCU) von Bosch Längsregelung, Betriebsstrategie, Ladesteuerung, Thermomanagement, Onboard-Diagnose und weitere Funk­tionen. Bosch setzt E-Achsen mit je 150 kW für Vorder- und Hinterachse ein, aber natürlich sind auch massgeschneiderte Alternativlösungen umsetzbar. So sind sie sowohl für PW und SUV als auch für leichte Nutzfahrzeuge anpassbar. Im elektro­hydraulischen Bremssystem sind Bremskraft- und Fahrdynamikregelung in einem Hard­ware-­Paket vereint. Klassische Komponenten wie Vakuumpumpe und Bremskraftverstärker können ent­fallen.

Was MQB für die Verbrenner ist, soll MEB für die Elektroautos werden: VW hat für die elektrischen Modelle des Konzerns den Modularen Elektro-Baukasten (MEB) entwickelt.

Pininfarina als Designspezialist
Mit dem italienischen Design- und Karosseriespezialisten Pininfarina bringt neu noch ein dritter Partner zusätzliches Know-how ein. Aufgrund der 90-jährigen Erfahrung in der Automobilindustrie hat Pininfarina eine besonders ausgeprägte Gesamtfahrzeugkompetenz, die die Integration einzelner Komponenten beim Fahrzeugbau deutlich erleichtert.

Somit decken Benteler, Bosch und Pininfarina den vollständigen Entwicklungsprozess eines Elektrofahrzeugs bis zum Produktionsstart ab. «Mit dem Rolling Chassis und unserer Design- und Ingenieursphilosophie tragen wir die richtige Balance von Emotionen und technischer Vernunft in die Ära der Elektromobilität», sagt Pininfarina-CEO Silvio Pietro Angori. «Die Rolling-Chassis-Partnerschaft ebnet den Weg zu neuen emissionsfreien Modellen.» Und Marco Kollmeier ergänzt: «Hersteller, die erst jetzt in den Markt der Elektromobilität einsteigen, können auf die standardisierten Schnittstellen bauen, die wir gemeinsam mit Bosch und Pininfarina definiert haben.» 

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