Die Automobilindustrie macht schwierige Zeiten durch. Besonders betroffen ist der französische Hersteller Renault, der sich bereits vor der Krise in finanziellen Schwierigkeiten befand. Er kündigte vor wenigen Tagen den Abbau von 15 000 Stellen weltweit an. Das erklärte Ziel? Mehr als zwei Milliarden Euro in drei Jahren einzusparen. Um dies zu erreichen, will die Allianz nicht nur das Werk Choisy-le-Roi in Val-de-Marne (F) schliessen, das auf das Recycling mechanischer Autoteile spezialisiert ist, sondern auch die Automobilproduktion am Standort Flins in Yvelines (F) stoppen. Überdies hat die Renault-Gruppe mitgeteilt, dass sie sich auch dazu entscheiden könnte, die Produktion einiger Modelle wie der Vans Scenic und Espace oder des Kombis respektive der Limousine Talisman ganz einzustellen.
Ebenfalls im Visier der neuen Geschäftsführer des Unternehmens: Alpine, die kleine Manufaktur in Dieppe (F). Alpine baut aktuell nicht mehr als sieben Fahrzeuge pro Tag zusammen und ist damit im rein buchhalterischen Sinne und aus industrieller Sicht nicht wirklich von grossem Interesse. Aus emotionaler Sicht jedoch wäre es eine Tragödie, zumal das Auto beim Fahren Begeisterung, Anerkennung und hochgestreckte Daumen auslöst. So viele Qualitäten, die dem Coupé den Status eines echten Imagefahrzeugs der Allianz verleihen.
Eine Gnadenfrist von drei Jahren
All dies wirft jedoch die Frage auf: Ist das Unternehmen aus der Normandie wirklich gefährdet? Für den Moment hat der Standort Dieppe einen Aufschub erhalten, denn die Geschäftsführung von Renault hat in einer Mitteilung bekanntgegeben, dass «Überlegungen zur Umstrukturierung des Unternehmens» angestellt würden. Aber Renault präzisiert, dass die Umstrukturierung nicht erfolgen wird, bevor die A110 im Ruhestand ist. So liegt es also nahe, dass Alpine weiterhin existieren wird, wahrscheinlich in Form einer rein elektrischen Marke. Das ist nicht der Fall bei der A110, deren Produktion theoretisch in den nächsten drei bis vier Jahren gestoppt wird, wenn man ersten Gerüchten glauben will.
Bedeutet das also das Ende des Sportwagens? Auf der Reaktion möchten wir gerne glauben, dass das niemals passiert, und das aus dem einfachen Grund, dass die A110 einfach eine Kämpfernatur ist. Das Coupé weiss, was es heisst, wenn einem ein paar Steine in den Weg gelegt werden – es wurde damit geboren. Schon bevor sie überhaupt existierte, erlebte die A110 zahlreiche Rückschläge: Die ersten Projekte, die auf eine Neubelebung der Marke abzielten, wurden mangels Rentabilitätsversprechen bereits im Keim erstickt. Ein erstes Problem, das Carlos Ghosn, einer der beiden Väter von Alpine, schnell vom Tisch fegte. Um das Projekt zum Erfolg zu bringen, kündigte er 2012 eine Kooperation mit Caterham aus England an mit dem Ziel, das berühmte Sportlabel zurück auf die Strasse und die Rennstrecke zu bringen. Doch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten des kleinen englischen Unternehmens wurde der Vertrag im Juni 2014 aufgelöst. Der zweite harte Rückschlag für Alpine. Doch Renault überwand ihn und kümmerte sich alleine um das noch ungeborene Kind.
Die Väter Carlos
Wenn man Renault erwähnt, dann spricht man genau genommen von Carlos Tavares, dem zweiten Vater von Alpine. Tavares, der Chief Operating Officer und die Nummer 2 der Gruppe nach Carlos Ghosn, hat viel zur Entstehung von Alpine beigetragen. «Der kleine Carlos» – grosser Industriekapitän, Autofanatiker und wahrhaftiger Sportwagenliebhaber (jedes zweite Wochenende verbringt er an Autorennen) – setzte sich pausenlos für die Wiederbelebung des Unternehmens in Dieppe ein. Zumindest bis zu seinem Austritt aus dem Unternehmen im August 2013, nachdem er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg gesagt hatte, dass er bereit sei für einen Nummer-1-Posten (den er ein paar Monate später bekam, als er die Spitze von PSA übernahm). Worte, die dem CEO von Renault, Carlos Ghosn – dem «grossen Carlos» –, scheinbar nicht gefielen. Ein dritter harter Rückschlag für das Unternehmen Alpine, das sich infolge des Streits seiner beiden Eltern als Waise sah.
Zum Glück kümmerte sich Ghosn bei der Geburt gut um sein Kind. In der Tat schuldet Alpine dem Unternehmenschef viel. Schon allein aufgrund seiner Anwesenheit bei den Schlüsselereignissen der Entstehung des Unternehmens wie zum Beispiel 2016 bei der Präsentation des Showcars für die Journalisten im Hafen von Monaco oder 2017 bei der Eröffnung der Fahrzeugproduktionslinie in Dieppe. Noch wichtiger, Alpine schuldet seine Existenz insbesondere den hervorragenden unternehmerischen Fähigkeiten von Ghosn. 2017 erzielte der Mischkonzern unter der Führung des Managers mit französischer, libanesischer und brasilianischer Staatsbürgerschaft einen Reingewinn von 3.3 Milliarden Franken. Dies ermöglichte dem kleinen Sportwagenhersteller, die Zukunft ruhig anzugehen. Vorläufig zumindest, denn im November 2018 trat der grosse Häuptling Ghosn aus allseits bekannten Gründen zurück. Das Weitere ist bekannt: Scheitern der Fusion mit FCA, Einbruch des Börsenwerts und natürlich das Corona-Virus. Eine wahre Höllenfahrt für das Flaggschiff aus der Normandie, die durch immer tiefere Verkaufszahlen noch verschärft wurde. Aktuell sind alle Fans bedient. Zudem muss man sagen, dass das autophobe Klima in Europa nicht wirklich günstig ist für die Entfaltung solcher Fahrzeuge.
So viele schwierige, gar untragbare Bedingungen, die Alpine nicht daran hinderten, eine der gewaltigsten vierrädrigen Fahrmaschinen der letzten Jahre zu sein. Das wollten wir Ihnen hier zeigen: Wir vergleichen das Coupé mit allen Fahrzeugen, die es als lieber verschwinden sehen würden. So nimmt der Porsche 718 Boxster Spyder in unserem Drama die Rolle der Konkurrenz ein, der Megane R.S. Trophy-R die Rolle der Renault-Mitarbeiter, die ihn verdrängen möchten, und dazu noch der Berg stellvertretend für die autophoben Ökologen.
A110S gegen den Berg: «Du spürst, dass etwas kommt»
Auch wenn die Berge heute nichts mehr mit Alpine zu tun haben, so war das nicht immer so. Ganz im Gegenteil, der Name Alpine stammt sogar von der Nähe des Gründers zu den verschneiten Gipfeln. 1952 gewann Jean Révélé, der Gründer von Alpine, am Steuer eines 4CV in seiner Kategorie die Mille Miglia. Zwei Jahre später, 1954, erzielte er einen guten Platz beim Critérium des Alpes und bei Lüttich–Rom–Lüttich. So fuhr er seine besten Rennen auf kurvenreichen und verschlungenen Strassen. In Anlehnung an alle diese Erfolge entschied sich der Pilot/Konzessionär dazu, seine Autos Alpine zu nennen. Aber wie sieht es heute aus? In welchem Verhältnis steht die aktuelle A110S zu den Bergen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, fuhren wir ins Wallis und trafen uns mit Eric Berguerand, einem der talentiertesten Rennpiloten der letzten Jahre. Der amtierende Schweizer Bergmeister und Pilot setzte sich ans Steuer einer Alpine, um von seinem Zuhause aus eine Fahrt am Col de la Forclaz zu unternehmen, direkt oberhalb seiner Hochburg Martigny. Seine ersten Eindrücke: «Bei einem echten Rennauto drehst du am Lenkrad, und die Lenkung reagiert sofort. Hier gibt es allerdings eine gewisse Verzögerung. Die Lenkung ist weniger präzise, leichter und weicher. Im Klartext: Bei erhöhter Geschwindigkeit musst du die Kurven vorher-
sehen, um die Weichheit der Lenkung und der Pneus auszugleichen.» Es ist klar, dass wenn man einen Einsitzer F3000 mit 485 PS hervorholt, die A110S fast als Ente durchgeht. Beinahe jedenfalls: «Wenn du Gas gibst, spürst du, dass von hinten etwas kommt», räumt Berguerand ohne Weiteres ein. Er fährt fort: «Ich denke, dass man mit vier Slicks statt Michelin-Pilot-Sport-
Reifen ein ganz ähnliches Gefühl haben könnte wie auf der Rennstrecke.» Könnte man Alpine ein noch schöneres Kompliment machen?
A110S gegen 718 Spyder: Der Unterschied liegt im Gewicht (und beim Preis)
Auf ihrem Weg an die Spitze kreuzt die Alpine A110S den Weg eines der am meisten gefürchteten Sportautos mit Mittelmotor: den Porsche 718 Spyder. In dieser Extremversion verfügt der Wagen aus Zuffenhausen über die Rennachsen des 911 GT3. Der 718 Spyder ist nicht zum Spass da, das bestätigt auch ein Blick unter die Motorhaube in der Fahrzeugmitte: Statt des Vierzylinder-Turbomotors, der die Basisversionen auszeichnet, verfügt der Spyder über einen Sechszylinder-Boxermotor mit 420 PS (420 Nm). Das sind 128 PS mehr als bei der Alpine A110S, die hinsichtlich Reichweite, Reaktivität – der Sechszylinder aus Deutschland ist ein Saugmotor – und Klangfarbe nicht konkurrieren kann. Sogar die Bedienung des Sechsgang-Schaltgetriebes, ein kleines Schmuckstück, erinnert an eine andere – glorreichere – Zeit. Das Bremspedal lässt sich perfekt dosieren, und die Lenkung ist ein Präzisionsmodell. Der 718 Spyder spielt entschieden in einer anderen Liga als die Alpine A110S, aber das trifft auch auf den Preis zu. Der Basispreis für einen Porsche beträgt 123 900 Franken, für ein Fahrzeug aus Dieppe 74 800 Franken – das ist ein Unterschied von fast 50 000 Franken! Das bringt die Alpine A110S zurück ins Rennen dieses informellen Vergleichs. Die französische Limousine verfügt gegenüber ihrem beängstigenden Gegner in der Tat über einen weiteren Vorteil: Sie ist 300 Kilogramm leichter. Tatsächlich ist der Porsche 718 Spyder mit seinen 1420 Kilogramm nicht wirklich leicht, im Gegenteil. Am Steuer des Porsches hat man den Eindruck, in einem imposanten und massiven Fahrzeug zu sitzen, vor allem in engen Kurven. Im Vergleich dazu scheint der Franzose zierlich und teuflisch wendig, eine Art Irrlicht, das von Kurve zu Kurve fliegt. Es ist unangebracht, einen Gewinner zu bestimmen, denn die beiden Fahrzeuge gehören zu unterschiedlichen Preis- und Leistungskategorien, sodass sie nicht vergleichbar sind. Einzig ihre Bauweise mit Mittelmotor und ihre Hingabe an den Fahrspass vereinen sie – und das erreicht jeder auf seine Weise. Der Porsche 718 Spyder – wie der Renault Megane R.S. Trophy-R – zielt auf Kosten einer gewissen Härte der Aufhängung auf absolute Leistung ab. Ein Konzept, das ein bisschen im Kontrast zu seiner lockeren Cabrio-Karosserie steht. In diesem Sinne wirkt die Alpine A110S kohärenter. Und die Fahrfreude, die sie im Verhältnis zu ihrem Preis bieten kann, erscheint unschlagbar!
A110S gegen Megane R.S. Trophy: Ein Herz, zwei Seelen
In ihrem Kampf gegen die Welt muss sich die Alpine A110S von der Bedrohung aus dem eigenen Lager in Acht nehmen. Tatsächlich findet man in der Renault-Gruppe zu einem ähnlichen Preis den Megane R.S. Trophy-R (s. AR 21/2020). Auch sein Herz ist identisch, denn unter den Motorhauben der beiden Sportwagen schlägt der gleiche 1.8-Liter-Vierzylinder von Renault Sport. Nur die Leistungswerte (292 PS bei der Alpine, 300 PS beim Mégane) und das Drehmoment (320 Nm respektive 400 Nm) unterscheiden sich. Was den Rest betrifft, so könnte die Philosophie der beiden französischen Cousins unterschiedlicher nicht sein. Laurent Hurgon, Testpilot für Renault Sport, war an der Entwicklung der beiden Autos beteiligt und fasst die Unterschiede so zusammen: «Die Alpine konzentriert sich auf den Fahrspass, indem sie sich am Fahrverhalten des alten A110 orientiert. Beim Megane trifft genau das Gegenteil zu: Der Fokus wurde auf die reine Leistungsfähigkeit gelegt.» Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eines der beiden Fahrzeuge auf den täglichen Fahrspass ausgerichtet ist, das andere auf die Rennstrecke. Auf der Strasse zeigen sich die charakterlichen Unterschiede wirklich stark. Die Alpine A110 bleibt selbst in der Topversion S ein Auto mit angenehmem Komfort: Die Dämpfung duldet unebene Strassen, die Karosseriebewegungen sind wahrnehmbar. Die Progression und die Anmut, mit der die Alpine auf ihren Achsen wippt, ist verführerisch. Das Coupé teilt dem Piloten sämtliche auch noch so geringe Gemütszustände mit, wenn man es in den Grenzbereich bringt. So nähert man sich den Grenzen ganz bewusst an, denn die Alpine ist sehr rücksichtsvoll. Ihre durch die kompakten Dimensionen und das geringere Gewicht (1120 kg) bedingte Wendigkeit macht süchtig: Man bekommt nicht genug davon, Kurve um Kurve zu fahren. Im Vergleich dazu erscheint der Megane R.S. Trophy-R mit seiner grösseren und schwereren Karosserie (1315 kg) deutlich steifer, ganz zu schweigen davon, dass der Motor vorne liegt, wodurch das Fahrzeug an Wendigkeit verliert. Das stimmt – aber welche Effizienz! Die Präzision der Vorderachse in der Kurveneinfahrt ist phänomenal. Zeigen Sie dem Megane den Scheitelpunkt an, so stürzt er sich mit einer Leidenschaft hinein, die dieses Segment selten zu bieten hat. Das Fahrverhalten ist ebenfalls verblüffend, der Trophy-R scheint am Boden zu haften. Aber Achtung: Er hat auch seine Grenzen. Und je stärker diese verschoben werden, desto weniger zuvorkommend äussern sie sich in der Alpine. Der Grund liegt in der sehr harten Tarierung der Aufhängungen, die insbesondere auf Effizienz abzielt. In dieser Hinsicht ist der Trophy-R eine Waffe für Experten. Für die Mehrheit bedeutet Alpine Freude im Alltag!