Das Bergbiest

AUFGEPEPPTER STAR Wie lässt sich etwas verbessern, das schon ziemlich perfekt ist? Alpine löst das Problem mit ordentlich mehr Leistung.

Das vielleicht erfreulichste Fahrzeug des Genfer Autosalons 2017, die Alpine A110, legte – vorsichtig ausgedrückt – einen sensationellen Start hin. Die 1955 Exemplare (als Remineszenz an das Gründungsjahr der Marke), die im Dezember 2016, vier Monate vor dem offiziellen Marktstart, vorbestellbar waren, waren nach nur einem einzigen Wochen­ende ausverkauft. Das Werk in Dieppe (F) produzierte deshalb noch einmal rund 6000 Einheiten, sodass sich die Gesamtzahl der verkauften Fahrzeuge auf knapp 8000 erhöhte. Ein fantastischer Erfolg in einem derartigen Nischensegment.

«Das Wichtigste für uns ist, dass punkto Verkaufszahlen nicht irgendwann die Luft draussen ist», hielt Sébastien Erphelin, Geschäftsführer von Alpine, am Rande der 24 Stunden von Le Mans im Juni 2019 fest. Er befürchte, dass, wenn die Liebhaber erst einmal bedient seien und die Anfangseuphorie nachlasse, die Anzahl Interessenten absacken könnte. Die Befürchtung war nicht unberechtigt, Ende 2019 kündigte man in Dieppe an, die Tagesproduktion herunterzufahren. Von vorher 15 Fahrzeugen auf bloss noch sieben. Ein harter Schlag für den kleinen Standort in der Normandie. Bei unserem Besuch im Werk im Jahr 2018 (AR 32/2018) waren dort 397 Mitarbeiter beschäftigt.

Doppeloffensive
Fest entschlossen, die Trendwende zu schaffen, stellte Alpine einen zweistufigen Rettungsplan vor. Als erstes wurde Patrick Marinoff, ehemaliger Verkaufsleiter von Mercedes-AMG, als Generaldirektor eingestellt. Als zweite Massnahme wurde die A110 in einer schärferen A110S-Variante auf den Markt gebracht. Diese A110S sind wir gefahren, um herauszufinden, ob die neuen Rezepte auch wirklich funktionieren.

Optisch ist es nicht ganz einfach, die A110S von der Standardausführung zu unterscheiden. Die Entwickler hielten es nicht für nötig, zusätzliche aerodynamischen Elemente hinzuzufügen. «Die Form folgt der Funktion. Wir hätten nur dann einen Spoiler montiert, wenn es wirklich unerlässlich gewesen wäre», sagt Antony Villain, Designdirektor von Alpine. Die Unterschiede sind denn auch sehr subtil. An den C-Säulen wurde das Emblem in den Nationalfarben Frankreichs durch ein oranges Karbonemblem ersetzt, die bisher verchromten Schriftzüge an Front und Heck sind jetzt mattschwarz. Die Bremszangen sind wiederum in Orange gehalten. Die Farbe zieht sich ausserdem im Innenraum durch, beispielsweise am Lenkrad, an den Ziernähten am Sitz, an der Türverkleidung oder an der Mittelkonsole.

Im Inneren gefällt die A110S mit orangefarbenen Ziernähten. Die gepolsterten Ledersitze und Türverkleidungen der Standardversion wurden durch Glattleder ersetzt. Die Telemetrie ist ein unverzichtbares Tool für die Rennstrecke und bietet dem Fahrer eine wirklich erstaunliche Fülle an Informationen.

Detailverliebtheit beim Fahrwerk
Unter der Aluminiumkarosserie gibt es einige Veränderungen von der A110 zur A110S. Das Aluminiumchassis besteht weiterhin aus genieteten und geklebten Stanz- und Tiefziehteilen. Aber die S erhält ein neues Fahrwerk, wie Jean-Pascal Dauce, technischer Direktor von Alpine, erklärt: «Wir haben die Steifigkeit der Stabilisatoren um 100 und jene der Federn um 50 Prozent erhöht. Abgestimmt auf die neue Aufhängung – doppelte Dreiecksquerlenker vorne und hinten – wurden die Stossdämpfer entsprechend angepasst.»

Die Ingenieure beweisen ein scharfes Auge für Details, wenn es um die Verbesserung der A110 geht. Um das Handling zu optimieren, liegt die A110S jetzt vier Millimeter tiefer. Im Gegenzug hat sie ein neues, pneumatisches Liftsystem erhalten. Die für Alpine in einer speziellen Gummimischung entwickelten Michelin Pilot Sport 4 sind an der Vorderachse von 205 auf 215 Millimeter, an der Hinterachse von 235 auf 245 Millimeter gewachsen. Die drei Fahrmodi (Normal, Sport und Rennstrecke) profitieren von einer noch einmal verbesserten Traktionskontrolle.

Unter der Haube, das heisst quer hinter den Sitzen, sitzt der bekannte 1.8-Liter-Vierzylinder mit Turbolader aus der Renault-Nissan-Allianz. Er entwickelt in der A110S gleich viel Drehmoment (320 Nm) wie in der A110 – die Leistung wurde jedoch von 252 auf 292 PS gesteigert. Erreicht werden die 40 PS Mehrleistung durch einen Turbolader, der deutlich kräftiger einbläst. Die Kavallerie sprich Pferdestärken werden über ein Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe auf die Hinterachse losgelassen. Schade, dass es weiterhin keine Möglichkeit gibt, die Alpine A110S mit manuellem Getriebe zu bestellen.

Der Neo-Retro-Stil ist erhalten geblieben, sowohl an der Front wie auch am Heck. Überhaupt sind die optischen Unterschiede gering.

Radikaler
Die A110 ist sehr angenehm zu fahren, sowohl auf der Strasse als auch auf der Rennstrecke. Die ausgewogene Gewichtsverteilung und der spontan reagierende Antrieb auf der Hinterachse verleiteten öfters dazu, das Heck tanzen zu lassen. In dieser Hinsicht war die A110 gefühlt nahe an seinem Ahnen aus den 70er-Jahren. Die A110S ist viel radikaler, die Hinterachse klebt förmlich auf dem Asphalt. Das Auto ist ein Biest, gemacht für die Jagd nach Rundenbestzeiten. Der zusätzliche Zentimeter Gummi an Vorder- und Hinterachse, die straffe Federung, die steiferen Stabilisatoren und der tiefe Schwerpunkt tragen dazu bei, dass das Coupé zur Lenkwaffe wird. In unserer eigenen Beschleunigungsmessung schaffte die A110S den Sprint auf 100 km/h in 4.8 Sekunden im Vergleich zu den fünf Sekunden der Standard-A110. Für ­einen Sportwagen nicht überragend sind die Werte beim Bremsweg: 35.2 Meter aus 100 km/h bis zum Stillstand, trotz Brembo-Bremsen und Verbundscheiben mit 320 Millimetern Durchmesser.

«Zwischen 5000 und 7000 Umdrehung ist der Motor besonders stark. Der Vierzylinder macht Lust, jeden Gang auszufahren» – diese Worte von Jean-Pascal Dauce wurden bei unseremTest bestätigt. Die A110S erreicht seine Drehmoment- und Leistungsspitzen 1400 respektive 400 U/min später als die A110, was den Motor deutlich schärfer macht. Das heckgetriebene Biest ermutigt den Reiter, die Drehzahlen richtig aus dem Motor herauszupeitschen. Beim sportlichen Galopp ermutigt die fast komplette Inexistenz von Wank- und Nickbewegungen zu schnellen, wenn auch nicht übermütigen Kurvengeschwindigkeiten. Das Getriebe reagiert aufmerksam und rasch auf die Bedürfnisse des Fahrers, kann sich aber immer wieder einmal auch etwas nervös verhalten.

Einige wenige Mängel gibt es im Bezug auf den Innenraum festzuhalten: Die Sitzposition wurde  gegenüber der normalen A110 noch nicht verbessert. Und auch die stellenweise mangelhafte Verarbeitung der Plastikteile ist qualitativ noch nicht in edlere Sphären weiterentwickelt worden. Staufächer im Fahrgastraum sind weiterhin rar, und der vordere und hintere Kofferraum mit 100 beziehungsweise 96 Litern Fassungsvermögen bieten knapp genügend Platz für einen schönen Wochenendausflug zu dritt. Ja, zu dritt. Das Auto zählt schliesslich auch!

Die S-Version ist an der mattschwarzen Beschriftung zu erkennen.
Die mattgraue Lackierung gibt es exklusiv für die A110S.

Die technischen Daten und die AR-Testdaten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe der Automobil Revue.

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