Wenn die Verkehrssituation so bleiben würde, wie sie jetzt ist, müssten wir an dieser Stelle nicht über Mobility-Pricing als Mittel zum Brechen von Verkehrsspitzen schreiben, es gibt derzeit kaum Staus. Über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder den idealen Modalsplit müsste man auch nicht debattieren. Allenfalls könnte man sich über die Mittelbeschaffung zwecks Unterhalt des vorhandenen Strassen- und Schienennetzes unterhalten – aber gewiss nicht über dessen Ausbau. Freilich wird es eine Zeit nach Corona geben. Inzwischen freut man sich ja fast schon darauf, wieder einmal im Stau zu stehen, den Zug zu stürmen, um den letzten Sitzplatz zu ergattern oder sich minutenlang die Verkehrsmeldungs-Hitparade am Radio anzuhören.
Aber zurück zu den Tatsachen. Es geht darum, ein System zu entwickeln, das den privaten und öffentlichen Verkehr trotz stark wachsender Bevölkerungszahl auch in Stosszeiten in einer sinnvollen Geschwindigkeit rollen lässt. Ein System zudem, das die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur trotz rückläufiger Einnahmen aus der Mineralölsteuer infolge zunehmender E-Moblität langfristig sichert. «Die Einführung eines benutzungsabhängigen Gebührensystems ist die einfachste Lösung», sagt Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung an der ETH Zürich (s. Interview rechts). Ein Mobility-Pricing-System also, wie man es in anderen Ländern und Städten schon kennt. In Oslo oder London etwa, wo es unterschiedliche Tarifsysteme gibt. Bis es allerdings soweit ist und wir hier in der Schweiz ein funktionierendes Mobility-Pricing-System eingeführt haben werden, rechnet das Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) mit einem Zeithorizont von 15 Jahren.
Langsamverkehr bitte auch
Anhand einer theoretischen Wirkungsanalyse hat das Uvek Mobility-Pricing zuletzt am Beispiel Zug durchgespielt. In dieser Simulation werden für den Strassenverkehr die Mineralölsteuer, die Vignette und die Automobilsteuer durch eine Kilometerabgabe ersetzt. Auch für den ÖV wird ein leistungsabhängiger Tarif angenommen. Zusätzlich werden Hoch- und Niedertarife je nach Tageszeit berechnet. Resultat der Analyse: Der motorisierte Individualverkehr (MIV) kann in den Spitzenzeiten (7–9 Uhr und 17–19 Uhr) um gut zehn Prozent reduziert werden. Im ÖV sind es zwischen fünf und neun Prozent. Das Glätten von Verkehrsspitzen ist also theoretisch möglich. Der Versuch hat aber auch gezeigt, dass die Umsetzung extrem komplex wird. Nur schon, weil sehr, sehr viele Player involviert sind und Mobility-Pricing nicht für alle das gleiche Ziel verfolgt. Für die einen steht die Glättung von Verkehrsspitzen im Vordergrund, für andere die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, wieder andere wollen die Mobilitätsnachfrage generell senken und nochmals andere den ÖV fördern sowie das Klima schonen.
Für Auto-Schweiz zum Beispiel ist in dem Sinn unter anderem wichtig, dass «auch der Langsamverkehr, die Velofahrer also zum Beispiel, in die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur eingebunden wird». Abgesehen davon ist für den Verband Schweizer Auto-Generalimporteure Mobility-Pricing nicht das selig machende Wundermittel. «Der Verkehrskollaps kann einzig mit dem dringenden Ausbau der Verkehrsinfrastruktur erreicht werden», sagt Direktor Andreas Burgener. Eine neue Steuer darf für ihn nichts desto trotz «auf keinen Fall» entstehen. Wenn schon, dann müssen bisherige Abgaben durch andere ersetzt werden. Das unterstreicht auch die Regierung des Kantons Bern: «Mit Mobility-Pricing dürfen keine neuen Steuern erhoben werden.» Sowohl im privaten wie öffentlichen Verkehr hätten die Nutzer die vollen Kosten zu tragen. Mittelfristiges Ziel sei, «eine volle Kostendeckung zu erreichen und damit im Vergleich zu heute auch Mehreinnahmen zu erzielen».
Der Zürcher Regierungsrat seinerseits warnt davor, die Bepreisung von Schiene und Strasse punkto Attraktivität nicht ausgewogen zu halten. Ansonsten «kommt es auf die eine oder andere Seite zu einer starken Verlagerungswirkung bei der Wahl des Verkehrsmittels». Aus eigener Erfahrung, also aus Studien aus den 90er-Jahren, weiss man in Zürich, dass der Preisunterschied zwischen Haupt- und Nebenverkehrszeit «sehr gross sein muss, um eine Lenkungswirkung zu erzielen». Es muss also wirklich im Portemonnaie klingeln, damit Mann und Frau, vorausgesetzt sie sind flexibel, ausserhalb der Stosszeiten in den Verkehr eintauchen. Zudem schreibt die Zürcher Regierung: «Der Wegfall künftiger Parkgebühren, Motorfahrzeugsteuern und anderer Verkehrseinnahmen darf nicht dazu führen, dass Kantone und Gemeinden in ihrer Preisgestaltung eingeschränkt werden.»
Grundsätzlich ist es so, dass eine Mehrheit der Kantone gegenüber einem einzuführenden Mobility-Pricing-System in den nächsten Jahren positiv eingestellt ist. «Pay as you use» sei von zentraler Bedeutung, so wie das bisher mit der Mineralölsteuer gut geklappt habe. Auf breiter Front einig ist man sich auch, dass es flankierende Massnahmen wie Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, angepasste Unterrichtszeiten oder die Förderung von Fahrgemeinschaften braucht. Es besteht noch sehr viel Harmonisierungsbedarf, bis Mobility-Pricing dann in der Praxis eingeführt ist und funktioniert.
Modularer Aufbau
Insofern will der Bundesrat etappenweise und modular vorgehen. Uvek und Finanzdepartement (EFD) sind darum vorerst einmal von der Regierung beauftragt, ein Konzept auszuarbeiten, das zeigen soll, wie die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur langfristig gesichert werden kann. Die Finanzen stehen nicht zuletzt deshalb im Vordergrund, weil die Einnahmen aus der Mineralölsteuer durch das Aufkommen elektrifizierter Fahrzeuge und energieeffizienter Vebrenner stark sinken werden (s. Seite 5). Uvek und EFD sollen in ihrem Modell bestehende Steuern (Mineralölsteuer, Vignette, Automobilsteuer) durch benutzungsabhängige Abgaben ablösen. Eine Variante: Die Benutzung von Verkehrsinfrastruktur könnnte künftig auf dem Prinzip der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) aufbauen und auch so abgerechnet werden. Die LSVA ist ja nichts anderes als Mobility-Pricing, bei dem mittels eines elektronischen Messgeräts erfasst wird, wer wo wann wie unterwegs war. Das Ganze wird mit den zugrundeliegenden Kilometerpreisen verrechnet. Die Rolle des Messgeräts könnte im Pesonenwagen eine elektronische Vignette übernehmen. Freilich dann nur als Messgerät – und nicht mehr als Quittung für bezahlte Steuern.
«Autonomes Fahren führt eher früher als später zu Gebühren»
IM GESPRÄCH Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung der ETH Zürich, verlangt nach einem Mobility-Pricing-System, das jeder Bürger auf Anhieb versteht.
Automobil Revue: Herr Axhausen, Mobility-Pricing ist das Schlagwort, wenn es ums Brechen von Verkehrsspitzen geht. Helfen fahrleistungsabhängige Strassenbenutzungsgebühren die Verkehrsprobleme zu lösen?
Kay Axhausen:Verkehrsprobleme sind ein Mengenproblem. Das zeigt Corona jetzt, da sich die Nachfrage in vielen Ländern um 50 bis 80 Prozent reduziert hat, sehr eindrücklich. Die Frage bleibt, wie und wo wir den Zugang zum Strassenraum rationieren wollen. Das kann über Spitzenpreise bei Bahn und Strasse gehen, über den Zugang zu Parkplätzen oder den Besitz von Fahrzeugen, wie Singapur das macht, wo es seit 2019 eine Obergrenze zugelassener Fahrzeuge gibt.
Den Fahrzeugbesitz zu beschränken dürfte hierzulande sehr schwer durchzusetzen sein.
Zweifellos, aber wenn wir mit einer gewissen Geschwindigkeit unterwegs sein wollen, wenn wir unterwegs sind, müssen wir das vielleicht einmal tun. Es sei denn, man ist bereit, immer mehr Strassen zu bauen.
Haben wir noch Platz, um Strassen zu bauen?
Es werden ja fleissig Tunnels gebaut. Das geht schon. Die Frage ist, ob das politische System bereit ist, diese Ausgaben zu tätigen und auf Anderes zu verzichten, wenn wir den 95. Tunnel bauen.
Hilft autonomes Fahren, wenn es dann ausgereift ist, den Verkehrsfluss zu optimieren?
Die generelle Einschätzung ist so, dass autonomes Fahren dazu führt, dass noch mehr Leute unterwegs sind. Der Kapazitätsgewinn würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen, um den Mehrverkehr abzufangen. Man muss also damit rechnen, dass autonomes Fahren das Erheben von Gebühren für die Benutzung von Verkehrsinfrastruktur eher beschleunigt als verzögert.
Mobility-Pricing soll nicht nur die Verkehrsspitzen brechen, sondern vor allem auch Einnahmen zur Erhaltung der Verkehrsinfrastruktur generieren. Durch die Mineralölsteuer kommt in Zeiten zunehmender E-Mobilität und energieffizienter Verbrennungsmotoren immer weniger Geld herein. Wie fängt man das am besten auf?
Jedes Elektroauto schlägt quasi einen Nagel in den Sarg dieses Systems, das via Mineralösteuer finanziert ist. Also muss man es ersetzen. Das Einfachste ist, eine Gebühr für die Nutzung der Strasse und deren Unterhalt zu verlangen.
Wie soll diese benützungsabhängige Abgabe aussehen und erhoben werden?
Man könnte die Autos einmal im Jahr vorführen lassen, den Kilometerstand ablesen, via GPS-Gerät auslesen, wie viele Kilometer im Ausland gefahren wurden und dann Rechnung stellen.
Wäre die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe ein funktionierendes digitales System?
Genau. Dieses System könnte man übernehmen.
Stichwort Langsamverkehr. Fahrräder zum Beispiel leisten keinen Beitrag zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur. Das ist doch ein Witz.
Das ist nicht ganz richtig. Das Verkehrssystem kann oft nicht aus den erhobenen Gebühren finanziert werden. Darum steuern auch die Fahrradfahrer ihren Teil über die allgemeine Besteuerung bei. Aber man kann sich fragen: Bezahlen sie genug?
Tun sie das?
Fussgänger und Fahrradfahrer tragen durch ihre Verkehrsmittelwahl dazu bei, dass sie gesünder bleiben als der Autofahrer und dass die Stadt als Ganzes leiser und ruhiger wird. Man muss sich immer fragen, was man womit vergleicht.
Eine Steuer auf Fahrräder zu erheben, wäre in Zeiten des Klimaschutz politisch sehr schwierig. Mit einem Mobility-Pricing-Modell aber wäre es vermutlich viel einfacher, auch den Langsamverkehr in die Gebührenpflicht zu nehmen.
Das kann man sich durchaus überlegen. Welche Kosten verursachen die Fahrradfahrer dadurch, dass sie Kapazitäten des Verkehrssystems in Anspruch nehmen? Und sollten sie einen Beitrag für die Vorhaltung dieser Kapazität leisten?
Der legendäre Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät sagte einmal, Mobility-Pricing sei etwas für die Reichen. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist natürlich nicht der Fall. Mobility-Pricing ist etwas für Leute unter Zeitdruck. Für Leute, die sich darauf verlassen können müssen, wann sie wie schnell wo ankommen. Gerade Corona zeigt, dass wohlhabendere Leute oft viel eher in der Lage sind, im Homeoffice zu arbeiten als jene, die morgens früh zum Schichtbeginn bereit sein müssen.
Sehen Sie ein System, das allen gerecht wird und keine Gruppe bevor- oder benachteiligt?
Das ist nicht einfach. Man möchte den Autofahrer dafür besteuern, dass ihm das System Strasse als Ganzes vorgehalten wird. Dazu kommt die Bepreisung der Nutzung, drittens die Rationierung sprich das Brechen der Spitze. Es kann sein, dass man feststellt, dass man alle drei Elemente braucht, um alle Ziele zu erreichen.
Verkehrsspitzen haben oft auch mit Termindruck zu tun, mit Arbeitszeiten, dem Schulunterricht oder dem Vereinsleben. Nebst Pay as you use sind darum auch Begleitmassnahmen nötig. Stichworte hierzu sind flexible Arbeitszeiten, Homeoffice oder angepasste Unterrichtszeiten.
Flankierende Massnahmen sind sogar sehr wichtig. Ohne geht es nicht. Sobald man Einschränkungen beschliesst, muss man den Menschen auch die Möglichkeit bieten, ihre Aufgaben und Wünsche trotzdem umsetzen zu können. Dazu gehört natürlich mehr Freiraum mit einem Angebot, wie sie es in Ihrer Frage aufgeführt haben.
Corona sorgt da gerade für einen Pilotversuch, wie er effektiver nicht sein könnte und wie er in der Vernehmlassung zum Konzeptbericht Mobility-Pricing des Bundesrats von vielen Kantonsregierungen auch gefordert wird.
Unter der jetzigen Situation ist sehr viel mehr möglich als unter dem Courant normal. Wir beobachten zurzeit zufälligerweise in einem Projekt mehr als 1000 Personen in der Deutschschweiz und der Romandie, wie sie sich im Verkehr bewegen. Vor und jetzt auch während der Corona-Pandemie. Wir werden die Ergebnisse sehr genau analysieren und prüfen, was auf den Normalfall übertragbar ist (s. https://ivtmobis.ethz.ch/mobis/covid19/reports/latest_de für den letzten Bericht zu dieser Studie – Red.).
Worauf muss ein funktionierendes Mobility-Pricing-System denn aufbauen?
Das System muss in sich selbst kostengünstig sein. Es darf nicht sein, dass ein zu grosser Anteil der Einnahmen im System selbst verschwindet. Beispiele hierzu sind die LKW-Maut in Deutschland, die am Anfang völlig überteuert war, oder die Gebührenerhebung in den Strassen von London. Das System muss transparent sein, der Datenschutz muss gewährleistet sein, und es muss dazu führen, dass andere Steuern wegfallen sprich ersetzt werden. Der Bürger muss sofort und einfach verstehen, wofür er bezahlt.
Sind die Menschen punkto Datenschutz nach Corona in Zukunft vielleicht etwas weniger empfindlich als vorher?
Könnte sein. Aber Kontaktverfolgung, um nicht selber mit dem Virus infiziert zu werden oder andere zu gefährden, ist das eine – die Nutzung der Strasse und Schiene hat einen ganz anderen Stellenwert. Ohne gewährleisteten Datenschutz wird kein System durchsetzbar.