Der Staat fährt mit

ÜBERWACHUNGSSTAAT Das System des Mobility-Pricing bedingt eine minutiöse Nachverfolgung der zurückgelegten ­Strecken. Für viele ist dies ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre.

Der Staat – schon bald unser ständiger Reisebegleiter? Mobility-Pricing, das Konzept der Besteuerung der Mobilität, erfordert eine konstante und genaue Überwachung der Bewegungen der einzelnen Verkehrsteilnehmer, damit sie entsprechend besteuert werden können. Die zurückgelegte Strecke, die Tageszeit – um Verkehrsspitzen zu brechen – und das genutzte Verkehrsmittel müssen aufgezeichnet werden, um für jeden einzelnen die Höhe der geschuldeten Mobilitätssteuern zu bestimmen.

Verfolgung per GPS
Aus technischer Sicht gibt es verschiedene Formen, wie die Kontrolle für Autofahrer ausgeführt werden könnte: Durch physische Mautstellen, bei denen bezahlt wird, durch Videokontrollen, bei denen Kameras die Nummernschilder aufzeichnen, durch Funksender im Auto, die bei der Durchfahrt an Checkpoints registriert werden – ähnlich dem Telepass in Frankreich –, oder durch intelligente Geräte. Eine On-Board-Unit (OBU) im Fahrzeug zeichnet die Position des Fahrzeuges per GPS auf und übermittelt die Daten via Mobilfunknetz an eine Zentrale. Dort wird automatisch die geschuldete Gebühr abhängig von Strecke und Tageszeit ermittelt und in Rechnung gestellt. Gemäss dem vom Bund beim Beratungsbüro Rapp in Auftrag gegebenen Bericht «Technologie und Datenschutz» von 2019 bietet dieses GPS-OBU genannte System die meisten Vorteile.

Freiheitsraubend
In dem betreffenden Bericht wird aber auch betont, dass dieses System einen riesigen Nachteil hat: Es greift massiv in die Privatsphäre der Bürger ein, es kann kein Meter mehr gefahren werden, der nicht nachverfolgbar ist. «Das System ist von Natur aus ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger – und es gibt keine überzeugende Garantie, dass es das nicht ist», bedauert Solange Ghernaouti, Vorsteherin der Swiss Cybersecurity Advisory & Research Group.

Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (USA) aus dem Jahr 2013 hatte bereits darauf hingewiesen, wie heikel die Übertragung der Standortdaten via Mobilfunk ist: Bereits anhand von vier Datensets mit Koordinaten und Zeitpunkt – die angemeldete Mobilfunkzelle und der Anmeldezeitpunkt bei der jeweiligen Antenne – würden ausreichen, um «95 Prozent der Personen» über ihr Bewegungsmuster eindeutig zu identifizieren. Nicht nur, dass eine Identifikation möglich ist, es kann auch ein komplettes persönliches Profil erstellt werden. «Ein etwas detaillierteres Bewegungsprofil berührt auch die medizinische Privatsphäre (Arztbesuche, Spitalaufenthalt, Abtreibungsklinik), die politische Orientierung (Besuch politischer Versammlungen, Gewerkschaftstreffen, Engagement in einer Nichtregierungs-Organisation), sexuelle Ausrichtung (Kino-, Club-, oder Bordellbesuche) und viele weitere Aktivitäten, die mit bestimmten Orten verbunden sind. Beispielsweise sind auch chronischer Alkoholismus, Drogenkonsum oder Spielsucht aus Bewegungsprofilen erkennbar», heisst es im Rapp-Bericht.

Nicht mehr Daten als notwendig
Unter diesen Gesichtspunkten stellt die Erhebung von Mobilitätsgebühren, die die Registration jeder Fahrt auf Strasse oder Schiene erfordert, durch die Erstellung von Nutzerprofilen ein enormes Risiko dar. Angesichts der sensiblen Natur der zu speichernden Daten wird es entscheidend sein, klar festzulegen, wozu die Daten verwendet werden. «Wir sind ein demokratischer Staat, und jeder Bürger hat das Recht, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ohne vom Staat erkannt und identifiziert zu werden», sagt Silvia Böhlen, Sprecherin des eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten. «Das geltende Gesetz besagt, dass nicht mehr Daten verarbeitet werden dürfen als notwendig, es gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip.» Das bedeutet beispielsweise, dass Geräte, die zur Erfassung des Mobilitätsverhaltens dienen, nicht zur Geschwindigkeitsüberwachung eingesetzt werden dürfen, sofern das Gesetz dies nicht klar von vornherein so vorsieht. «Es hängt alles davon ab, was das Gesetz vorsieht, dass aufgezeichnet werden darf», sagt Olivier Français, Ständerat (FDP/VD) und Mitglied der Verkehrskommission. «Es wird sehr schwierig werden, die Geschwindigkeitsaufzeichnung durchzusetzen, da dies über GPS nicht sehr genau ist.»

Was im Schwer­verkehr mit der LSVA heute schon Tatsache ist, könnte bald für alle Verkehrs­teilnehmer gelten: Die Besteuerung nach zurück­gelegter ­Strecke.

Missbrauchspotenzial
Ohne gesetzliche Grundlage ist es daher unmöglich, bestimmte Daten für nicht im Voraus festgelegte Verwendungszwecke zu missbrauchen – so zumindest die Theorie. «In Ausnahmefällen, wenn es die Umstände erfordern, könnte man diese Datenbanken natürlich auch für andere Zwecke öffnen», räumt Français ein. «Ein Richter kann diese Genehmigung im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung erteilen, sofern der Gewinn für die Gesellschaft den Verlust der Privatsphäre eines einzelnen Kriminellen überwiegt.»

Ein weiteres Beispiel: Die Corona-Krise hat gezeigt, dass es jederzeit möglich ist, Überwachung von Bewegungsströmen anzuordnen, um die Einhaltung der Massnahmen zu überprüfen. «Die aktuelle Situation zeigt, dass eine Überwachung auch heute schon möglich ist und wir nicht wirklich wissen, wie wir davor geschützt werden», bedauert Olivier Français. «Die Debatte um Mobility-Pricing ist eine grosse Chance, um hier Rechtssicherheit zu schaffen und die Rechte des Individuums zu schützen.»

Risiko der Ablehnung
Matthias Aebischer, Nationalrat (SP/BE) und Mitglied in der Kommission für Verkehr, ist sich des Stellenwerts des Datenschutzes bewusst: «Es ist klar, dass wir als Gesetzgeber immer gegen solche Missbräuche kämpfen werden, sei es bei Daten von Smartphones, Internetbrowsern oder anderen digitalen Geräten. Dasselbe wird auch für ein mögliches Gebührensystem für Mobility-Pricing gelten.» In die gleiche Kerbe schlägt auch Olivier Français, der sich bewusst ist, dass Skandale um Datenmissbrauch oder Sicherheitslücken zu einer Ablehnung durch das Volk führen würden. «Es reicht aus, wenn den Leuten zwei oder drei Beispiele geliefert werden, in denen die Privatsphäre verletzt wurde – und schon ist das Projekt zum Scheitern verurteilt.»

Strenge Schutzmassnahmen
Wenn es eine Person gibt, der es nicht an Beispielen für das Missbrauchspotenzial persönlicher Daten mangelt, dann ist es Sébastien Fanti. Der Datenschutzbeauftragte des Kantons Wallis nimmt kein Blatt vor den Mund: «Wenn die Leute wüssten, was mit ihren Daten alles angestellt wird, würden sie Mobility-Pricing niemals akzeptieren!» Worte, die in den Ohren von Solange Ghernaouti widerhallen: «Alle Daten haben ein Zweitleben, das ausserhalb der Kontrolle der rechtmässigen Besitzer ist. Im Allgemeinen ist eine vollständige Anonymität eigentlich gar nicht möglich. Deshalb sind äusserst strenge Schutzmassnahmen unbedingt erforderlich.»

Privacy by Design
Eine dieser Schutzmassnahmen sei auch die Verpflichtung, dass die Daten nach der Verwendung «endgültig» gelöscht werden, fordert der Rapp-Bericht. Das heisst, dass die Daten vernichtet werden müssen, nachdem die Rechnungen ausgestellt und bezahlt worden sowie die Einspruchsfristen abgelaufen sind. Der Bericht betont auch, dass die Anforderungen an den Schutz der Daten und der Privatsphäre der «best practice» entsprechen müssten. «Wir müssen ein System entwickeln, das bereits von Beginn weg den Aspekt des Datenschutzes beinhaltet», so Fanti. «Wir müssen nach dem Konzept der Privacy by Design arbeiten, das heisst, die Ansammlung von Daten muss so gering wie möglich gehalten werden und von Anfang an mit dem Schutz der Privatsphäre vereinbar sein. Das geht nur, wenn wir die Entwicklung auf einem leeren Blatt Papier beginnen.» 

Keine Garantie
Und trotzdem, auch wenn alle diese Empfehlungen strikte befolgt werden, gibt es keine Garantie für Datensicherheit, wie diverse Fälle von Hacking auf höchstem Niveau uns immer wieder vor Augen führen. «Nichts kann uns garantieren, dass die Daten nicht für andere Zwecke verwendet werden, dass sie nicht mit anderen Signalen und Informationen abgeglichen werden», warnt Ghernaouti. «Es gibt keine Garantie dafür, dass das System nicht gehackt wird.»

Ein Ende 2019 veröffentlichter Bericht zeigt die positiven Aspekte auf, die Mobility-Pricing bei ­einem Pilotprojekt in Zug erzielt hat. Die Stauzeiten sind gesunken, der Verkehr hat sich gleichmässiger über den Tag verteilt und die Steuereinnahmen sind gestiegen. In der Kosten-Nutzen-Analyse ausgelassen wurde jedoch der Verlust der Anonymität des einzelnen Bürgers. 

1 Kommentar

  1. Würden die Strassen Google, Facebook, Tesla gehören, wär es allen egal.
    Die verfügen schon heute über die notwendigen Standort Daten.

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