Wenn in Sant’Agata Bolognese (I) bei Modena keine Huracán, Aventador und Urus, sondern Schutzmasken gefertigt werden, muss die Welt kopfstehen. Mit der Produktion von Masken diversifiziert auch der Mutterkonzern Volkswagen seinen Output, und die spanische Tochter Seat stellt neben Schutzmasken sogar Beatmungsgeräte her. Das Corona-Debakel, das in den vergangenen Wochen von China aus die ganze Welt lahmgelegt hat, brachte umsturzähnliche Verhältnisse in die sich sonst eher bedächtig bewegende Automobilindustrie.
Konstruktion und Fertigung neuer Automodelle benötigen mehrere Jahre – mit der Herstellung von Schutzmasken und sogar Beatmungsgeräten dagegen hält nun ein ganz anderes Tempo Einzug: Innerhalb weniger Wochen stellen zahlreiche Autoherstellung medizinische Produkte her, um die plötzlich entstandene und rasant steigende Nachfrage zu befriedigen.
Produktionslinien umgenutzt
Der VW-Konzern hat an verschiedenen Standorten in Europa die Produktion medizinischer Produkte aufgenommen. Dabei nutzt er zum Teil Fertigungskapazitäten, die wegen des allgemeinen Produktionsstopps nicht für die Autoherstellung eingesetzt werden können. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die 3-D-Drucker, mit denen schnell und kostengünstig neue Bauteile für die medizinischen Geräte hergestellt werden können.
Am anspruchsvollsten ist die Gerätefertigung bei der spanischen Tochter Seat. Im Werk Martorell (E) bei Barcelona werden Beatmungsgeräte montiert. Sergio Arreciado von der Abteilung Verfahrenstechnik meint: «Eine Montagelinie, auf der eigentlich Fahrzeugteile produziert werden, so umzurüsten, dass Beatmungshilfen gefertigt werden können, war eine schwierige Aufgabe. Aber wir haben es in Rekordzeit geschafft.»
Das neue Beatmungsgerät von Seat besteht aus mehr als 80 elektronischen und mechanischen Komponenten. In der Basis handelt es sich um das Modell Oxygen der Firma Protofy (s. Interview rechts). Kernkomponente des Gerätes ist ein umgebauter Scheibenwischermotor, der für den Antrieb sorgt. Dazu kommen bei Seat produzierte Zahnräder aus dem 3-D-Drucker sowie Getriebewellen. Teil der Qualitätskontrolle am Ende der Fertigung ist eine Sterilisierung mit UV-Licht.
Flexible Mitarbeiter
Doch woher kommt die Kompetenz, und was ist mit «Schuster, bleib bei deinem Leisten»? Bei Seat beteiligten sich mehr als 150 Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen direkt an der Entwicklung der Beatmungsgeräte – «vom Ingenieur bis zum Produktionsleiter und Sicherheits- und Gesundheitsteam», betont Christian Vollmer, Vice-President Produktion und Logistik. Auf die Frage, wie diese Mitarbeiter denn auf die neue Herausforderung vorbereitet wurden, antwortet er: «Das Projekt wurde durch ein herausragendes Team von Ingenieuren ermöglicht. Kompetenz und Kreativität führten schliesslich zur Verwendung unseres Scheibenwischermotors sowie neuer Teile aus dem 3-D-Drucker.» Beim spanischen Autohersteller ist man stolz auf das neue Produkt: «Seat ist der erste Autobauer, der Beatmungsgeräte mitentwickelt hat und sie in seinen Werken weltweit produziert.» Entscheidend ist aber auch, dass dieses Know-how geteilt wird. Die Informationen sind frei zugänglich, sodass auch andere Industriezweige in weiteren Ländern die Produktion dieser Geräte aufnehmen können.
Lowtech-Produkt Schutzmaske
Technisch weniger aufwendig sind dagegen die medizinischen Produkte, die bei der Konzerntochter Lamborghini gefertigt werden. In der Fabrik des Sportwagenherstellers entstehen jeden Tag 1000 Schutzmasken. Die Herstellung hat die Lamborghini-Sattlerei übernommen, die normalerweise für die Innenausstattung der teuren Hochleistungsfahrzeuge zuständig ist.
Auch die Briten sorgen auf neuen Wegen für genügend Nachschub in den Spitälern. Staubsaugerhersteller Dyson zum Beispiel produziert derzeit ebenfalls Beatmungsgeräte. Covent nennt sich das Gerät, das in nur zehn Tagen entwickelt werden konnte, da Dyson auf bereits verfügbare Technologien zurückgreifen konnte.
The American Way
Die Produktion von Schutzmasken und Beatmungsgeräten anstelle von Autos wird zurzeit auch im General-Motors-Werk in Kokomo (USA) nördlich von Indianapolis in die Wege geleitet. Obwohl der grosse US-Hersteller die Herstellung von Beatmungsgeräten als «für branchenfremde Unternehmen als sehr komplex» erachtet, werden ab Mitte April serienmässig Beatmungsgeräte für Ventec Life Systems ausgeliefert – bis zu 10 000 Ein-
heiten pro Monat. Dazu trainiert GM derzeit mehr als 1000 bestehende Mitarbeiter und neu angestelltes Personal aus der Gegend. «Jedes Gerät hilft uns, Leben zu retten. GM, die Gewerkschaft der Autoindustrie UAW sowie die Stadt Kokomo arbeiten gemeinsam intensiv an diesem Projekt», sagt Gerald Johnson, GM Executive Vice-President Global Manufacturing. Und Konzernchefin Mary Barra doppelt nach: «Die Teams arbeiten mit unglaublicher Leidenschaft und Engagement.»
Dabei gelten strengste Regeln. Vor Arbeitsbeginn werden die Hände gewaschen, Temperatur gemessen und Masken montiert. Zwischen den Schichten werden Pausen von 30 Minuten eingeschoben, um die Arbeitsplätze sauber zu reinigen. Und natürlich gilt stets das Social Distancing – in den USA sechs Fuss, also rund 1.8 Meter. Türklinken und ähnliche Virenfallen werden dreimal pro Schicht gereinigt, und ausserdem gibt es spezielle Ein- und Ausgänge für jede Schicht. Neben dem von Ventec Life Systems entwickelten Multifunktionsgerät VOCSN läuft im Werk Warren in Michigan bereits die Fertigung chirurgischer Atemschutzmasken. Die Produktion soll auf 50 000 Einheiten pro Tag hochgefahren werden – bis zu 100 000 sind möglich.
Kaum erstaunlich, dass auch PR-Tausendsassa Elon Musk in der Not zur Stelle ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Nothelfern will Tesla aber Beatmungsgeräte bauen, die zu einem grossen Teil aus Autokomponenten bestehen. Der Monitor des Entertainmentsystems etwa wird zum Anzeige- und Bedienelement, Fahrzeugsteuergeräte kontrollieren die Ventile. Wann genau Tesla aber liefern kann, das ist – wie so häufig – noch nicht ganz klar.
«Martorell kann am Tag bis zu 300 Geräte produzieren»
Charakteristisch für das unter der Leitung des Start-up-Unternehmens Protofy entwickelte Beatmungsgerät Oxygen sind sein einfacher technischer Aufbau und der niedrige Preis. Daher lässt sich das Gerät verhältnismässig schnell auch von branchenfremden metallverarbeitenden Betrieben herstellen. Neben Seat zählt auch das Renault-Werk in Bursa (Türkei) zu den Kooperationspartnern des Prototypspezialisten Protofy. Protofy-Mitbegründer Ignasi Plaza hat einige Fragen der AR beantwortet.
Automobil Revue: Handelt es sich beim Beatmungsgerät Oxygen um eine Protofy-Entwicklung – oder hat Seat wesentlich mitentwickelt?
Ignasi Plaza: Oxygen stammt von der Konzeptidee über die Entwicklungsprozesse bis zur technischen Abnahme von Protofy. Bei Seat wurden schliesslich diverse Anpassungen für die Montage der Geräte auf den vorhandenen Fertigungslinien vorgenommen. Ähnliche Prozesse wurden in anderen Ländern mit Industriepartnern zusammen durchgeführt.
Wie sind die Seat-Mitarbeiter für ihren neuen Job geschult worden?
Personal von Seat hat die Dokumentation von Protofy studiert und schliesslich die eigenen Mitarbeiterteams für die Industrialisierung des Prozesses geschult. Jedes Team ist für einen speziellen Bereich verantwortlich.
Wie viele Einheiten sollen bei Seat hergestellt werden?
Derzeit wird die Produktion in Martorell bis auf 300 Einheiten pro Tag hochgefahren. Falls die Produktion perfekt zum Laufen kommt, können auch weitere Werke mit der Herstellung beginnen.
Wie hoch ist der Preis eines solchen Beatmungsgeräts?
Der Preis bei Herstellung in grösseren Auflagen liegt bei etwa 450 Euro.
Vielen Dank Stefan für den einmal mehr perfekt recherchierten Artikel, welcher aufzeigt wie die Autoindustrie anpassungsfähig ist/wäre. Alles Gute wünscht dir Hanspeter