Der Stick’Air-Kleber hat viele Skeptiker. Das im Januar im Kanton Genf eingeführte Programm mit den gestuften Fahrverboten trifft noch auf Widerstände, obwohl die Frist für den Kauf der Vignette am 31. März abläuft. Wenn die Luftqualität den Grenzwert überschreitet, dürfen ab April nur noch Fahrzeuge mit der Plakette in Genf fahren. Ins engere Stadtzentrum werden unter solchen Bedingungen von sechs bis 22 Uhr nur noch Fahrzeuge mit geringem Schadstoffausstoss gelassen. Zuwiderhandeln wird mit einer Busse von 500 Franken geahndet. Weil aber der TCS Einspruch eingelegt hatte, entschied die Verfassungskammer des Genfer Kantonsgerichts auf eine Aufschiebung.
Das bedeutet konkret, dass die Polizei keine Bussen verteilen kann, bis das Gericht über die Einsprachen des TCS und des Schweizerischen Nutzfahrzeugverbands (Astag) befindet. «Die Richter sahen eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele gebüsste Fahrer den Rechtsweg gegen die Gesetzgebung wählen und eine Rückerstattung beantragen würden», kommentiert der Genfer TCS-Sektionschef Yves Gerber. Die Polizei begnügte sich denn auch während der ersten Phase mit schlechter Luftqualität von 21. bis 23. Januar mit der Aufklärung der Fahrer, welche ohne den Kleber unterwegs waren.
Entscheidung erst in einigen Monaten
Selbst mit dem Ablaufen der Toleranzfrist ändert sich punkto Bussen vorerst noch nichts. «Bis zum 31. März wird es noch keine Klarstellung vom Genfer Gericht geben, die Aufhebung bleibt weiter bestehen», erklärt Yves Gerber. «Die Verfassungskammer wird sich erst in einigen Monaten äussern können.»
Ganz klar also: Am 1. April können noch keine Bussen verteilt werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Behörden nicht gegen die Fahrzeughalter vorgehen können, die keine Plakette ausweisen. Die Aufschiebung betrifft nur die Bussen, nicht das Gesetz selbst. Die Polizei kann entsprechend an Tagen mit schlechter Luftqualität Fahrzeugen ohne gültigen Stick’Air die Zufahrt ins Stadtzentrum verwehren. Die Richter müssen die gesamte Regelung für ungültig erklären, damit auch die Zufahrtsbeschränkungen aufgehoben würden.
«Verfassungswidrige Massnahme»
TCS-Sprecher Yves Gerber erläutert, weshalb sich der Klub gegen die differenzierten Fahrverbote stelle: «Wir glauben, dass die Massnahme verfassungswidrig ist, weil Genf der Gewaltentrennung zwischen Bund und Kantonen zuwiderhandelt. Die Eidgenossenschaft hat sich gegen das Prinzip ungleicher Verkehrsbeschränkungen ausgesprochen, aber die Genfer Regierung will auf ihre eigene Lösung pochen.» Antonio Hodgers, der für die Landnutzung zuständige Genfer Staatsrat, wehrte sich gegen den Vorwurf, gegen die Schweizer Verfassung gehandelt zu haben: «Die Bundesverwaltung hat postuliert, dass die differenzierten Verkehrsbeschränkungen ein gültiges Mittel im Kampf gegen die Luftbelastung darstellen. Unser Departement hat drei verschiedene, unabhängige Rechtsexpertisen eingeholt, die alle die Verträglichkeit der Regelung mit dem übergreifenden Gesetzen bestätigen.»
Eine konkrete Befürchtung des TCS ist, dass das Genfer Vorgehen anderen Kantonen als Vorlage dienen könnte. Dann bestünde die Gefahr, dass wir es bald mit einer Unzahl von Regelungen in verschiedenen Ortschaften zu tun hätten, was die Mobilität zwischen den Kantonen stark beeinträchtigen würde. «Das Genfer System wollte die grenzüberschreitende Harmonisierung aufrechterhalten und übernahm deshalb die französischen Bedingungen», sagt Antonio Hodgers. «Landesweit könnten es andere Kantone Genf nachmachen, die Grundlagen basieren auf den von der grauen Karte bekannten Euro-Normen. Gleichzeitig wollen wir festhalten, dass wir mit Freude mitmachen, wenn der Bund ein überkantonal harmonisiertes Vorgehen starten will.» Die Genfer bewiesen viel Entgegenkommen, indem sie die französische Crit’Air-Vignette anerkennen, aber umgekehrt ist das leider nicht der Fall. «Genf hat einen Vertreter berufen, welcher die Gegenseitigkeit mit den französischen Verantwortlichen aushandeln soll, aber es ist sicher nicht die Sache eines kantonalen Unterhändlers, mit dem Nachbarstaat zu verhandeln!», regt sich Yves Gerber auf.
Rund 30 Prozent der Autos mit Plakette
Die vielen offenen Fragen um die Stick’Air-Plakette scheinen die Skepsis der Bürger zu nähren. Gemäss Schätzungen der Polizei hatten Ende Januar nur gerade zehn Prozent der in Genf zugelassenen Fahrzeuge den umstrittenen Aufkleber montiert. Die AR zählte vor Ort Anfang März vielleicht ein Drittel der Autos, die mit dem Farbtupfer versehen waren. Der Genfer Staatsrat weist aber die Idee ab, dass der Zweck des Stick’Air von der Bevölkerung angezweifelt würde: «Die Plakette war am ersten Tag der kritischen Schadstoffwerte vielerorts ausverkauft. Das beweist, dass die Leute diese Massnahme für die öffentliche Gesundheit ernst nehmen», unterstreicht Antonio Hodgers.
Aber weshalb haben dann so viele Genfer noch mit dem Kauf des Klebers zugewartet? Die AR hat sich auf den Strassen der Calvin-Stadt umgehört und bekam so alles zu hören, von der Nachlässigkeit bis zum Widerstand gegen die Regelung. «Ich habe es vergessen, aber ich glaube, wir haben noch bis Ende März Zeit für den Kauf», sagte uns Florence, eine Krankenschwester. Ariane, eine 50-jährige Sekretärin, war weniger überzeugt: «Ich rege mich auf! Solange das nicht strafbar ist, kaufe ich keine Plakette.» Daniel, pensionierter Kantonsbeamter, der in der Innenstadt wohnt, hat den Aufkleber an seinem Auto angebracht, «weil Widerstand zwecklos ist». Bedenken hat er aber trotzdem: «Wenn man nicht die richtige Vignette hat, darf man nicht nach Hause!» Yves Gerber hat ein ähnliches Echo von TCS-Mitgliedern vernommen. «Eine Frau konnte am 22. Januar nicht zum Skifahren, weil sie in der betroffenen Zone wohnt und nicht die richtige Plakette am Auto hatte. So wird mancher ein Gefangener in seiner eigenen Stadt.»
Nur ein erster Schritt?
Antonio Hodgers wehrt sich gegen den Vorwurf, das System sei zu restriktiv. «Der TCS schlägt das Modell mit dem täglich wechselnden Einstellen der geraden und ungeraden Kennzeichen vor, was den Emissionenausstoss um 50 Prozent reduzieren würde. Die gestuften Schadstoffkategorien führen bei einer Verkehrsreduzierung zu einer Reduktion von nur 16 Prozent, weil die emissionsstärksten Autos die höhere Last tragen. Unsere Lösung hat geringere Auswirkungen auf die Mobilitätsfreiheit.» Manche Kreise befürchten, dass der Stick’Air nur einen ersten Schritt auf dem Weg zum völligen Verbot für die grössten Dreckschleudern darstelle. «Nach der Einführung der Plakette dauerte es nicht lange, bis die Grünen den Antrag auf eine dauerhafte Umweltzone gestellt haben», hält Yves Gerber fest. «Wir haben die Erfahrung gemacht, dass jedes Nachgeben von unserer Seite stets zu Bestrebungen für mehr Restriktionen geführt hat.» Vorläufig ist der Kanton dem Begehren der Grünen nicht nachgekommen. Andere Landesteile, wie etwa Zürich, verfolgen die Entwicklungen um die Plakette mit Aufmerksamkeit. Die Zürcher Behörden sind sich der problematischen Auswirkungen auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen bewusst und wollen erst beobachten, wie die Genfer die rechtlichen Herausforderungen meistern. Das Thema ist noch lange nicht abgehandelt, denn der TCS hat in Aussicht gestellt, seine Einsprache ans Bundesgericht weiterzuziehen, falls sie von den Genfer Richtern abgelehnt würde. λ
Basel setzt auf umweltfreundliche Mobilität
Abstimmungsergebnisse Der Kanton Basel-Stadt will bis 2050 nur noch emissionsarme Fahrzeuge zulassen.
Der 9. Februar 2020 war definitiv keine Sternstunde für den baselstädtischen Gewerbeverband. Die Stimmbürger lehnten beide von ihm lancierten Verkehrsinitiativen «Zämme fahre mir besser» und «Parkieren für alle Verkehrsteilnehmer» deutlich ab. Den Gegenvorschlag des Grossen Rats dagegen nahmen sie mit 53.5 Prozent der Stimmen an. Dieser verlangt, dass die Gesamtverkehrsleistung auf Kantonsgebiet ausserhalb der Hochleistungsstrassen bis 2050 ausschliesslich mit Verkehrsmitteln und Fortbewegungsarten abgewickelt wird, die emissionsarm, klima- und ressourcenschonend sind. Christian Greif, Geschäftsführer des Automobil Clubs der Schweiz (ACS) beider Basel, ist der Auffassung, dass die technologische Entwicklung automatisch dazu führt, dass die Autos immer sauberer und damit umweltfreundlicher werden. Ob es rechtlich zulässig ist, dass dereinst nur noch geteilt genutzte Autos in der Stadt verkehren dürfen, hält er zumindest für fraglich. «Das stellt einen groben Eingriff in das Eigentumsrecht dar», erklärt Greif.
Stagnation statt Reduktion
Das Ziel, wonach es keine Zunahme des privaten Autoverkehrs auf Stadtstrassen in Basel geben soll, ist ehrgeizig. Greif hält es für unrealistisch. David Weber, Leiter Kommunikation und Marketing beim Gewerbeverband Basel-Stadt, ist schon zufrieden, dass die Reduktion des motorisierten Individualverkehrs aus dem Gesetz gestrichen wurde. Jetzt sei es immerhin eine Stagnation. Sein Verband hätte die Möglichkeit eines begrenzten Wachstums vorgezogen. «Mit den Wachstumszielen des Regierungsrats bei der Bevölkerung und den Arbeitsplätzen ist das starre Stagnationsziel schwierig umsetzbar, zumal die Attraktivität des Individualverkehrs mit den Möglichkeiten des autonomen Fahrens noch zunehmen dürfte», fährt Weber fort. An der Verwaltung liege es nun, zu zeigen, wie dieses Ziel ohne zu grosse Einschränkungen für Wirtschaft und Bevölkerung zu erreichen sei. Sharingmodelle sind hierzu ein Stichwort.
Trotz der Abstimmungsniederlage werde sich der Gewerbeverband weiterhin gezielt für verkehrspolitische Anliegen seiner Mitglieder engagieren, hält Weber fest. Und er vergisst nicht, darauf hinzuweisen, dass die SP während des Abstimmungskampfes zwei Vorstösse für mehr Gewerbeparkflächen und mehr Parkplätze auf Privatgrund lanciert hat. Das ist schon mal ein Anfang. AO