In Deutschland liefert die dortige Autoindustrie regelmässig fette Schlagzeilen. Erst im Dezember titelte der Tagesspiegel: «Es ist vorbei, BMW, Daimler und VW!» Neue EU-Abgasnormen machen den deutschen Herstellern zu schaffen, die Verbrennungsmotoren blubbern auf dem letzten Benzintropfen, wegen Elektroauto-Gigant Tesla muss eine ganze Industrie umdenken – oder abdanken. Wer wie Volkswagen voll elektrisiert in die Zukunft surrt, der kommt um Massenentlassungen nicht herum. «In der Industrie mit Produktion und Entwicklung gibt es viele Veränderungen. Ich denke an die Digitalisierung und Informatikspezialisten, die es braucht. Ingenieure aus dem Bereich der Verbrennungsmotoren bleiben da auf der Strecke», sagt dazu Olivier Maeder, beim Auto Gewerbe Verband Schweiz (AGVS) in der Geschäftsleitung und Bildungsverantwortlicher. Die Autowelt erlebt aber nicht zum ersten Mal eine derart rigorose Veränderung. Maeder verweist auf eine Fotografie aus dem Jahr 1900, als auf der 5th Avenue in New York Kutschen das Strassenbild prägten – und zwischen diesen tuckert ein einziges Auto. «Über zehn Jahre später hat man die 5th Avenue aus derselben Perspektive erneut fotografiert – bloss gab es dann unter vielen Autos nur noch eine Kutsche», erklärt Meader und schmunzelt. «Vor über hundert Jahren hat die Mobilität bereits einmal einen gewaltigen Wandel erlebt!» Mit den Autos schossen beispielsweise auch Benzin-Zapfsäulen aus dem Boden, die heute Ladestationen weichen.
Gewiss, die Autobranche befindet sich im Wandel – genauso wie deren Berufe und die Menschen, die diese ausüben. Die AR hat Olivier Maeder zehn Fragen zum Arbeitsplatz Schweiz gestellt.
1. Wie steht es um den Arbeitsmarkt in der Schweizer Autobranche?
Die einschneidenden Veränderungen der deutschen Autoindustrie tangieren die Schweiz wenig. Wir haben ein Autogewerbe, das Fahrzeuge wartet, repariert und diagnostiziert. Die neuen Technologien haben aber natürlich einen Einfluss auf die Kompetenzen, die auch ein Fachmann im Gewerbe haben muss. Diesbezüglich tauscht sich der AGVS sowohl mit den Importeuren als auch regelmässig mit dem Zentraldeutschen Kraftfahrzeugverband aus, der ein vergleichbares Berufsbildungssystem hat. Das deutsche Gewerbe ist für die Schweiz ein guter Sparringpartner, da es wegen der eigenen Industrie über Informationen zur Zukunft der Automobilbranche verfügt.
2. Sorgt der Umstieg auf alternative Antriebe auch bei uns für Unruhe?
Ja, aber nur ein wenig. Der Umstieg ist für das Gewerbe eine Herausforderung, weil die Branche heute nicht genau weiss, welche der Antriebstechnologien sich in den kommenden fünf bis zehn Jahren tatsächlich durchsetzen wird. Bleibt die Industrie bei der Batterie? Oder setzt sie auf Wasserstoff, vielleicht gar auf Gas oder synthetische Stoffe? Sterben Benzin- und Dieselmotoren aus? Diese Fragen sorgen bei verschiedenen Berufen für Ungewissheit, weil man nicht weiss, welche Kompetenzen künftig nötig sind. Vorstellbar ist beispielsweise infolge der Elektromobilität, dass Hochvolttechnik in die Grund- und Weiterbildung einfliessen soll – so wie das beim Automobil-Mecha-
troniker (4 Jahre Ausbildung) bereits der Fall ist und bis in fünf Jahren auch zur Grundausbildung des Automobil-Fachmanns (3 Jahre) gehören wird. Grundsätzlich gilt aber, dass sich das Auto auch schon in den letzten hundert Jahren stets weiterentwickelt hat. Deswegen wurden Fachleute wie Garagisten auch in der Vergangenheit immer wieder mit neuen Technologien konfrontiert.
3. Braucht es wegen der Umstellung, aktuell vor allem auf Elektroautos, auch neue Jobs in der Branche?
Neue technische Berufe hat der AGVS in den letzten Jahren keine geschaffen. Er hat die Tätigkeiten in verschiedenen Berufen analysiert und entsprechend neue Kompetenzen integiert. 2007 beispielsweise wurde der klassische Mechaniker vom Automobil-Mechatroniker abgelöst, weil der neben der Technik auch vermehrt Elektrik- und Elektronikkenntnisse haben musste. Der Mechatroniker hat heute seit der Grundausbildung Kenntnisse über Fahrassistenten. Die elektronischen Fahrhilfen waren 2014, als noch nicht jedes Auto darüber verfügte, erst Thema bei der höheren Berufsbildung zum Autodiagnostiker.
4. Welche Auswirkung hat die Neuorientierung der Branche auf die Ausbildung?
Die berufliche Grundausbildung ist neu definiert. Vor sechs Jahre wurden die technischen Grundausbildungen in der Schweiz vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation in Zusammenarbeit mit dem AGVS einer Totalrevision unterzogen und 2018 als erster Schritt die technischen Grundausbildungen Automobil-Mechatroniker, Automobil-Fachmann und Automobil-Assistent komplett überarbeitet und eingeführt (s. Box).
5. Kann die Ausbildung mit dem zügigen Wandel der Branche Schritt halten?
Ja. Der AGVS hält seit 2012 an der Strategie fest, mit der die drei technischen Berufe eingeführt wurden. Ein Beruf und die Ausbildung dazu werden periodisch analysiert und angepasst. Dabei werden nebst Experten auch junge Berufsleute beigezogen, die sagen, was sie gelernt haben und welche Kenntnisse sie bei der Arbeit tatsächlich brauchen. Somit gilt für einen Beruf: Neue Kenntnisse kommen hinzu, alte Zöpfe werden abgeschnitten. Die Ausbildung ist nicht mehr wie früher fächer-, sondern handlungsorientiert. Statt separat um Mathematik oder Physik geht es beispielsweise um die Frage: Was passiert, wenn ein Auto bremst? Nachdem die Berufsbildung 2018 festgelegt worden ist, stehen nun Schulen und Ausbildungsbetriebe in der Verantwortung. Eine Ausbildung für jeden neuen Trend umzukrempeln, bringt nichts, weil so langfristig die Qualität verloren ginge.
6. Verschwindet der klassische Beruf des Mechaniker vom Arbeitsmarkt?
Nein. Heute ist er quasi in der höheren Berufsausbildung angesiedelt, um Old- und Youngtimer zu reparieren, und nennt sich Fahrzeugrestaurator. Denn in Zukunft, wenn Autos ausschliesslich elektrisch oder auf andere alternative Weise fahren, braucht es Fachkräfte, die mitunter auch die Geschichte des Automobils am Leben erhalten und Benzin- und Dieselmotoren sowie deren Technologie kennen, warten und reparieren können.
7. Gibt es in naher Zukunft neue Auto-Berufe auf dem Arbeitsmarkt Schweiz?
Ja. Ab 2022 gibt es die Grundausbildung zum Automobilverkäufer. Diese Arbeit verrichten in Garagen oft Mitarbeiter mit einer beliebigen Grundausbildung im Autogewerbe. Andere Autoverkäufer sind Quereinsteiger und kommen in der Regel via kaufmännische oder Detailhandels-Aus- und -Weiterbildung ins Autogewerbe. Ausschlaggebend für die Grundausbildung zum Automobilverkäufer ab 2022 ist die Mobilitätsberatung, die zunehmend wichtiger wird. Der Verkauf braucht qualifizierte Mitarbeiter, weil der Garagist längerfristig zum Mobilitätsdienstleister wird.
8. Interessieren sich junge Menschen heute noch für Berufe rund ums Auto?
Dem zunehmenden Umweltgedanken zum Trotz ist das Interesse an einer beruflichen Zukunft im Autogewerbe ungebrochen gross, heisst es vom AGVS, welcher im Vorfeld der Ausbildung mit Interessenten auch Eignungstest durchführt. An der Quantität der Interessenten fehlt es nicht, eher an der Qualität, das zeigen Resultate der Eignungstests – und auch, dass Ambitionen vorhanden sind.
9. Haben die Autobranche und ihr Arbeitsmarkt längerfristig eine Zukunft?
Ja. Denn egal, von welchen Technologien die Fahrzeuge der Zukunft angetrieben werden, das Auto beziehungsweise der Wunsch nach individueller Mobilität – in welcher Form auch immer – wird sich der Mensch nicht nehmen lassen. Verändern wird sich wahrscheinlich das Mobilitätsverhaltem, weg vom Autobesitz hin zum Carsharing.
10. Was passiert in Zukunft mit den Berufen, wenn sich die Branche vom Elektro-Hype erholt hat und neue, innovative Antriebsmöglichkeiten kommen?
Vorab die Auto- und die IT-Branche sind wegen des raschen Technologiewandels mehr denn je gefordert. Bund, Kantone und Berufsverbände haben deshalb das Projekt Berufsbildung 2030 lanciert. Es befasst sich unter anderen mit der Flexibilität in der Ausbildung. Der Bildungsplan ist zwar dem Bund unterstellt und mutet daher starr an, Verbände, Schulen und andere zuständige Unternehmen können heute aber bei Bedarf auch ohne Segen von oben reagieren und die Ausbildungsprogramme anpassen.
Kommentar
Kein Grund zum Jammern
Er jammert gern, der Mensch. Das tut er aktuell gerad sehr laut über den Klimawandel, der die ganze Autoindustrie auf den Kopf stellt und sie vermeintlich vernichtet. Da werden Umweltaktivisten und Elektroautos ins Pfefferland gewünscht, und es wird an früher erinnert, als alles besser war. Auf Dauer hat der Miesepeter aber keine Chance, denn die Richtung ist vorgegeben. Und der Mensch geht auch gerne mutig voran, wenn er Neuland entdecken will.
Ein Konstrukteur von Rennwagen erklärte mir einmal, weshalb er sich ganz bewusst gegen den Stillstand entschieden hatte. Obwohl ihm und seinen Fahrzeugen Siege sicher waren, wählte er eine neue Rennklasse – mit den Worten: «Die alte Serie war so sehr reglementiert, dass ich als Konstrukteur noch so viel Bewegungsfreiraum hatte, wie wenn ich auf einem Blatt Papier stehe. Die neue Serie dagegen lechzt nach Innovationen, da kann ich herumtollen wie auf einem Spielplatz.»
Neuland hat den Menschen immer schon vor Herausforderungen gestellt, aber genauso hat unbekanntes Terrain den Menschen angelockt. Wir alle kennen eine solche Verlockung – die Liebe. Sind wir verliebt, fassen wir uns aller Ungewissheit zum Trotz ein Herz, atmen noch einmal durch, und gehen dann mit geschwellter Brust und entschlossenem Schritt voran, um den Angebetenen oder die Angebetete auf uns aufmerksam zu machen. Vielleicht erreichen wir Wolke sieben, vielleicht müssen wir gebrochenen Herzens den Stolz schlucken.
Herausforderungen sind Hürden, und vor so einer steht die Autowelt. Aber das schreckt uns kaum ab, oder? Denn sicher ist: Wir sind nicht gewillt, uns unsere Freiheit und damit das Auto – in welcher Form auch immer – nehmen zu lassen. Die Branche hat den Rost abgeklopft. Sie erfindet sich gerade neu. Sie lebt mehr denn je. Werner J. Haller