Das aktuelle Fahrzeugangebot von McLaren ist an Komplexität kaum zu übertreffen. Das Unternehmen aus Woking bietet 13 Modelle an, aufgeteilt in vier Kategorien: Sports Series (Einstiegsklasse, Motorenleistung zwischen 540 und 600 PS), GT (bisher ein Modell), Super Series (bislang die Modelle 720S und 720S Spider) sowie die Ultimate Series, die den Senna (Rennwagen für die Strasse), den Speedtail (spiritueller Nachfolger des F1) und den Elva (offene Version des Senna) vereint.
Nun ergänzt McLaren die Super Series mit dem dritten Modell, das die «Automobil Revue» kurz vor der Premiere an einer geschlossenen Veranstaltung besichtigen konnte. Unter dem Namen 765LT (was für die PS-Zahl und Longtail steht) wird der Wagen in der firmeninternen Hierarchie über dem 720S angesiedelt. Optisch unterscheidet er sich durch neue aerodynamische Elemente von seinem schwächeren Bruder. Das Leergewicht beträgt mit 1229 Kilogramm ganze 80 Kilogramm weniger als beim 720S. Zur Gewichtsersparnis beigetragen haben neue Sitze und Räder, eine komplett aus Titan gefertigte Auspuffanlage sowie Scheiben aus Polycarbonat. Mit dem spezifischen Leistungsgewicht von 622 PS pro Tonne erreicht der Wagen 330 km/h Spitze und beschleunigt von 0 auf 100 km/h in nur 2.8 Sekunden. Der Hersteller rechnet damit, den grössten Teil der 765 vorgesehenen Exemplare noch vor Fertigungsbeginn verkaufen zu können.
Im Rahmen der Vorpremiere konnte sich die AR mit McLaren-Chefingenieur James Warner und Designdirektor Robert Melville unterhalten. Beide waren massgeblich an der Entwicklung des 765LT beteiligt.
Automobil Revue: Sie haben viel Wert darauf gelegt, den 765LT möglichst leicht zu machen – und trotzdem wiegt er mehr als der 30 Jahre alte F1. Wie ist das möglich?
James Warner: In den letzten 30 Jahren haben sich die Sicherheitsstandards entscheiden verschärft. Um die modernen Crashtests bestehen zu können, müssen wir wesentlich dickere Rahmen und Bleche verwenden.
Nicht nur Sicherheitsstandards haben sich geändert, es wurden doch auch leichtere, bessere Materialien entwickelt?
Warner: Um die Sicherheit zu erhöhen, bauen wir den Wagen aus modernsten Materialien und mithilfe neuster Fertigungstechniken. Die Fahrgastzelle besteht komplett aus Karbon, der vordere Rahmen muss gemäss aktuellen Standards aus Aluminium bestehen, dem besten Material für das Knautschelement. Karbon wäre hier zwar leichter, würde beim Aufprall aber zerbröseln und nicht genügend Energie absorbieren.
Es fällt auf, dass der Wagen, obwohl er 200 bis 300 Kilogramm leichter ist als vergleichbare Porsche- oder Lamborghini-Modelle, die gleichen Beschleunigungswerte aufweist.
Warner: Porsche und Lamborghini haben Allradantrieb. Gemäss unseren Tests sind 2.8 Sekunden für die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h das Maximum, was der Hinterradantrieb hergibt. Nicht einmal ein Formel-1-Auto ist viel schneller.
Wird McLaren eines Tages ebenfalls Allradantriebe verwenden?
Warner: Nicht in naher Zukunft. McLaren steht für ein unverfälschtes Fahrerlebnis und den kompromisslosen und neutralen Charakter der Lenkung. Allradantrieb widerspricht dieser Philosophie. Genau aus diesem Grund verwenden wir auch keine E-Differenziale oder mitlenkenden Hinterachsen.
Wie kommt es, dass diese für das Fahrverhalten wichtige Elemente nicht eingesetzt werden?
Warner: Unser Wagen lässt sich dank hervorragender Aerodynamik und Fahrwerkseinstellung auch so sehr gut lenken. Das elektronische Differenzial wird bei uns mit dem Steer-by-braking-System ersetzt. Allen elektronischen und mechanischen Helfern ist gemeinsam: sie sind schwer, anfällig für Fehler und bringen auch dann wenig Nutzen, wenn das Chassis sonst hervorragende Arbeit leistet. Deswegen sind wir restriktiv, diese einzusetzen.
Beim Triebwerk handelt es sich um eine Eigenentwicklung. Es ist ein Vierlitermotor, der beinahe 800 PS leistet. Haben sie hier nicht alle Leistungsreserven ausschöpfen müssen?
Warner: Das Triebwerk wurde von uns entwickelt und wird bei der Firma Ricardo für uns gebaut. In der Tat haben wir aus dem Vierliter-Aggregat das Maximum herausgekitzelt, mehr liegt da nun wirklich nicht mehr drin. Wir haben uns aber auch schon weitere Entwicklungsschritte überlegt, die ich heute nicht kommentieren will.
McLarens Design hat eine klare Sprache. Das 720er-Modell tanzt hier etwas aus der Reihe. Gibt es hierfür praktische Gründe?
Robert Melville: 720 und 765 gehören beide zur Super-Series-Reihe. Diese soll sich von den übrigen Modellen optisch abheben. Wichtiger ist aber der Umstand, dass viele Designelemente durch praktische Einflüsse diktiert werden. So haben die Formen der Frontlampen, der Lufteinlässe und auch der Spiegel aerodynamische Funktion zu erfüllen.
Ihre Designsprache wurde beim Speedtail oder dem Senna kritisiert.
Melville: Der Speedtail wurde mit einem klaren Ziel entwickelt: Geschwindigkeit auf langen Geraden. Dieses Ziel diktiert die Form des Wagens. Beim Senna stand der aerodynamische Anpressdruck im Vordergrund und beeinflusste das Design ebenfalls. Viele haben sich kritisch zur Optik beider Fahrzeuge geäussert. Doch beide Fahrzeuge verfügen über eine andere Art von Schönheit, bei der sich die Form den Gesetzen der Natur unterwirft, um mit ihr im Einklang zu funktionieren.