Hatten Sie auch schon das Gefühl, dass es früher mehr Verkehrsgrosskontrollen der Polizei gab als heute? Solche, bei denen die Autofahrer angehalten werden und gecheckt wird, ob sie etwa an der Firmenweihnachtsfeier zu viel hochdrehendes Wasser geschluckt haben. Der Eindruck mag täuschen, jedenfalls ist es so, dass die Polizei heute einen viel breiter gefächerten Aufgabenkatalog zu bewältigen hat als noch vor zehn, fünfzehn Jahren. Beim Kaffee bestätigt Frank Rüfenacht, der stellvertretende Chef Verkehr der Kantonspolizei Bern: «Patrouillen der mobilen oder stationierten Polizei machen heute nahezu alles. Wir werden immer mehr zu Generalisten.» Eine reine Autobahn- oder Verkehrspolizei wie früher gibt es in dem Sinn nicht mehr. Der Aufgabenbereich umfasst heute alles, von der Rettung der Katze auf dem Baum, über Einsätze bei Einbrüchen oder wegen Lärmbelästigung durch offene Auspuffklappen im Quartier bis hin zu Sicherheits- und Antiterror-Einsätzen. Insofern kann es sein, dass der Streifenwagen, der auf der Autobahn Dienst tun sollte, nach zehn Minuten zu einem Einsatz im Dorf X gerufen wird und den ganzen Tag nicht mehr auf die Autobahn zurückkehrt. Es habe Zeiten gegeben, da seien permanent mehrere Fahrzeuge der Autobahnpolizei im Einsatz gewesen, erinnert sich Rüfenacht an seine Anfänge vor rund 30 Jahren. Gut 2600 Personen umfasst das Korps der Kantonspolizei Bern heute. Allein, es sei gar nicht mehr so einfach, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden. Früher hätte man die Polizeischulen mehrfach füllen können, heute sei es nicht mehr selbstverständlich, auch nur eine zu füllen. Polizist ist ein ausgestellter Beruf – mehr denn je (s. Box).
Nicht alles geht
Reichen die 2600 Frauen und Männer der Kantonspolizei Bern also, um in einem offensichtlich massiv erhöhten Verkehrsaufkommen der Ereignisse Herr zu werden? «Ja», sagt Rüfenacht. Freilich mit Kompromissen. Wenn das Ziel zum Beispiel heisst, die Unfallzahlen und die Einhaltung der Verkehrsregeln im Langsamverkehr zu verbessern, ist das unter normalen Umständen für ein Polizeikorps nicht möglich. «Dazu müssten Ressourcen gezielt eingesetzt werden.» Wenn dieses Ziel freilich als Schwerpunkt mit entsprechendem forciertem Mitteleinsatz behandelt wird, «ist das kein Problem». Daraus geht hervor: Obwohl viele Mitbürgerinnen und Mitbürger von der Polizei nicht mehr und nicht weniger als absolute Perfektion erwarten, kann diese nicht jede Aufgabe im Optimalbereich erfüllen. Die vorhandenen personellen und finanziellen Mittel setzen dem Grenzen. Zumal die Anzahl der Ereignisse zunimmt. Einsätze zugunsten der Sicherheit etwa an Demos oder Grossveranstaltungen, die sich nicht aufschieben oder priorisieren lassen, nehmen stetig zu. War ein Polizist früher tendenziell mit Waffe und Handschellen am Gürtel unterwegs, hängt da heute ein halbes Waffenarsenal. Punkto Verkehr übernehmen daher zusehends Hilfsmittel den Dienst. Um Geschwindigkeitskontrollen kümmern sich heute vorab fix installierte und semistationäre Radargeräte. Die Polizei kann sich so um Anderes kümmern, etwa um die, die auf der Autobahn den Abstand nicht einhalten – mit Abstand die häufigste Unfallursache – oder die Spurwechsel-Rowdys.
AFV sorgt für Schlagzeilen
Stichwort Radargeräte. Dieses polizeiliche Hilfsmittel ist unterdessen akzeptiert. Auch wenn sie uns Autofahrern so willkommen sind wie eine Magen-Darm-Grippe. Erst recht, wenn die Blitzer offensichtlich zwecks Erfüllung der zu erreichenden kantonalen Bussenbudgets da fotografieren, wo für Normalsterbliche in 1000 Jahren kein sicherheitsrelevanter Nutzen erkennbar ist. Dem widerspricht Rüfenacht und kontert: «Gerade weil die Geräte heute vielenorts mobil oder fest installiert sind und die Leute das wissen, bewirken sie genau das, was sie sollen. Nämliche eine Verlangsamung des Verkehrs und damit eine Reduzierung der Verletzungsheftigkeit.» Die offiziellen Zahlen unterstreichen das. Die Zahl der von der Polizei protokollierten Unfälle und die Schwere der Verletzungen nimmt tendenziell ab. Die Gesamtzahl freilich, also inklusive der Ereignisse, bei denen sich die Beteiligten unter sich einigen, nimmt zu.
Bezüglich Hilfsmittel hat zuletzt vor allem die Automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) für Schlagzeilen gesorgt. Im Kanton Thurgau wurde die fix installierte AFV nicht als Hilfs-, sondern als Überwachungsmittel eingesetzt. Das Bundesgericht hat einen Fahrer, der ohne Billett unterwegs war, freigesprochen (AR 49/2019). Mobile AFV-Mittel finden sich auch auf Streifenwagen. «Wird ein Nummernschild gescannt, das auf der Liste der Gesuchten steht, meldet das System einen Treffer, und die Polizei kann ihren Job tun. Alle nicht registrierten Nummern, die während des Fahrens gescannt werden, wandern direkt in den Mülleimer», erklärt Rüfenacht die Handhabung bei der Kantonspolizei Bern. So eingesetzt ist AFV ein nachvollziehbar sinnvolles, technisches Hilfsmittel. Schliesslich kann ja niemand wollen, dass sich Fahrer ohne Ausweise und sonstige Sünder im Verkehr bewegen und für Gefahr sorgen. Wer würde sich schon in ein Flugzeug setzen, in dem vorne einer ohne Pilotenschein hockt? «Früher hatten wir A4-Listen voll mit gesuchten Kontrollschild-Nummern im Auto, und es gab Kollegen, die diese praktisch auswendig kannten. Damals war das unser AFV», erzählt Rüfenacht dazu.
Für uns Normalbürger wird es da heikel, wo die neue Technik wie AFV quasi alles und jedes aufnimmt, was ihr vor die Linse kommt, und wo niemand weiss, was mit dem Material danach geschieht. Wie lange wird das Filmmaterial aufgehoben, wann mit welchen Datenbanken abgeglichen und wann, wenn überhaupt, jemals gelöscht? Solche Fragen stellen sich dem nicht wissenden, einfachen Bürger. Laut Bundesgericht stellt diese Art der Volksüberwachung einen schweren Eingriff in die informelle Selbstbestimmung dar und ist darum nicht rechtens. Zumindest nicht für blosse Vergehenstatbestände. Solch staatliche Überwachung führt dazu, dass die Bürger von der Nutzung ihrer Grundrechte abgeschreckt werden. Bei schweren Straftaten sieht das anders aus. Im Strassenverkehrsgesetz indes fällt nur der Raserartikel ins Kapitel Verbrechenstatbestand. Alles andere wie Fahren in angetrunkenem Zustand, Fahren ohne Führerausweis, Fahren mit einem nicht einwandfreien Auto oder Fahren mit nicht korrektem Kontrollschild sind blosse Vergehen.
Velo-Rowdys und E-Verkehr
Apropos Vergehen. Heute kommt es einem als Autofahrer in der Stadt vor, als ob Velofahrer quasi jede Verkehrsregel missachteten. Rot gibt es für Grüne offensichtlich nicht. Folglich werden rote Ampeln so selbstverständlich überfahren, als würde man damit dem Herrn zum Wohlgefallen eine gute Tat vollbringen. Klimaneutralität als Persilschein sozusagen. Als ob die Produktion von Velos klimaneutral wäre! Der Langsamverkehr stellt die Polizei in dem Sinn durchaus vor zunehmende Anforderungen, entsprechend richtet man das Augenmerk darauf. Schliesslich gehören auch die als Velo getarnten E-Motorfahrräder namens E-Bike – notabene mit Lithium-Ionen-Akkus – in diese Abteilung.
Was die neue Mobilität per se angeht, so kommt enorm viel Neues und noch nicht Geregeltes auf die Polizei zu. Stichworte dazu sind autonomes Fahren, Benutzen statt Besitzen oder Assistenzsysteme. «Es ist ganz klar, dass wir hier in den nächsten Jahren klare gesetzliche Grundlagen brauchen, auf deren Basis wir von der Polizei unsere Arbeit erledigen können», sagt Rüfenacht. Heute ist unzweifelhaft der Fahrer dafür verantwortlich, was das Auto tut. Was aber, wenn künftig ein autonom fahrendes Auto plötzlich statt 80 als Tempolimit 800 erkennt und den Nachbrenner zündet? Aus diesen Gründen, so Rüfenacht, «stehen uns genau jetzt und in den nächsten Jahren heikle Zeiten bevor». Die Zeit nämlich, wo die neue Technologie auf die bisherige und den Menschen trifft. Das birgt reichlich Crashpotenzial. Bis dereinst die Technik allein regiert und alles klipp und klar geregelt ist, dauert es noch ein Weilchen.
Platz wird rar
Die UNO sagt, dass 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Daraus ergibt sich ein anderes Problem, nicht nur für die Polizei, sondern für alle Blaulicht-Organisationen. Viele Städte wollen dem privaten Verkehr die Fahrt in oder durch die Stadt verleiden. Sei es mit dem Abbau von Parkplätzen und Fahrspuren, mit Baustellen, 30er-Zonen oder Fahrverboten. Dafür wimmelt es dann von E-Trottis, E-Skatboards, E-Bikes oder E-Rollschuhen. Der ÖV seinerseits kann die neuen Massen niemals ohne Weiteres bewältigen. «Die Zunahme des Verkehrsvolumens kann zum Problem auch für uns werden», sagt Rüfenacht. Schliesslich wird erwartet, dass die Polizei nullkommaplötzlich auf der Matte steht, wenn irgendetwas passiert, das einen selber betrifft. Verspätungen wegen Verkehrshindernissen goutiert Mann und Frau, die sonst, bitte schön, gar nichts mit der Polizei tun haben wollen, nicht. Allein, das Blaulicht hilft da auch nicht in jedem Fall, die Bahn frei zu machen – auf jeden Fall nicht so radikal und fix, wie das vielleicht nötig wäre. Wenn der Platz zu wenig wird, hilft auch die laut hornende Flöte auf dem Dach nicht. Mensch und Maschinen können sich ja nicht in Luft auflösen. Womit wir wieder beim erwähnten Anspruch auf Perfektion wären. Da kommt noch sehr viel auf die Polizei zu. «Zweifellos», sagt Frank Rüfenacht. «Aber es wird sicher spannend, und wir bereiten uns natürlich darauf vor.»
Unter ganz besonderer Beobachtung
Im Blog der Kantonspolizei Bern beschreibt ein Polizist plastisch, wie es ihm auf einer Einsatzfahrt ergeht: «Wir befinden uns frühmorgens auf Patrouillenfahrt durch ein Quartier, als uns ein Funkruf der Einsatzzentrale erreicht. Ein schwerer Verkehrsunfall mit einer verletzten Person hat sich ereignet. Mein Partner schaltet die Warnvorrichtungen am Fahrzeug ein. Das Adrenalin beginnt in mir auszuströmen. Als Fahrer muss ich mich konzentrieren, mein Fokus liegt voll auf der Strasse. Ich halte das Steuerrad mit beiden Händen fest, muss schnell reagieren können. Hier ein Überhol-, da ein Ausweichmanöver. Oberstes Ziel ist es, rasch, aber auch unversehrt an der Unfallstelle anzukommen. Schliesslich will ich ja weder mich selbst noch andere Personen gefährden. Ausserdem kann ich nicht davon ausgehen, dass die Warnvorrichtungen meines Fahrzeuges von allen Verkehrsteilnehmenden wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass nicht alle wissen, wie sie reagieren sollen – Stichwort Rettungsgasse. Es ist immer noch dunkel, die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Schwierige Lichtverhältnisse. Velofahrer, welche ohne Licht unterwegs sind, sind besonders schwer wahrzunehmen. Neben meinem Fokus auf der Strasse muss ich mir auch überlegen, was uns am Einsatzort erwarten könnte. Wir nennen es mentale Vorbereitung. So bleiben wir geistig flexibel und sind nach dem Aussteigen fähig zu handeln und nicht blockiert. Zudem spreche ich mich kurz mit meinem Partner ab, wer welche Aufgaben übernimmt. So ist gewährleistet, dass jeder weiss, was er zu tun hat, und nicht beide in dieselbe Richtung rennen. Nach knapp drei Minuten Fahrt erreichen wir die Unfallstelle. Ich atme tief durch, steige aus dem Auto und beginne mit meiner Arbeit.
Heutzutage ist eine Uniform indes nicht mehr allein Würde, sondern auch Bürde. Je nach Region und Landesteil respektive nach den involvierten Menschen ist der Repekt gegenüber den Ordnungshütern grösser oder kleiner. Häufig ist er unter der Gürtellinie. Das macht den Beruf des Polizisten gewiss nicht einfacher als vor zwanzig Jahren. Innen sieht ein Polizeiauto nicht viel anders aus als ein normaler PKW – aussen allerdings schon. ‹Das müssen wir unseren Leuten immer wieder ins Bewusstsein rufen›, sagt Frank Rüfenacht, Chef Verkehr der Kapo Bern. Warum? ‹Weil es einen Unterschied macht, ob ich als Polizist im Streifenwagen vergesse zu blinken oder als Fahrer des Lieferwagens des Spenglers.› Solches wird registriert und heute nicht selten gefilmt und fotografiert und wenn möglich sofort hochgeladen. Nach dem Motto: Seht mal, was die dürfen – und wir werden gebüsst. Man darf sich gar nicht vorstellen, wo sich unsere verwöhnte und von Egoisten geprägte Wohlstandsgesellschaft ohne Polizei befände.»