Asphalt- und Schotterstrassen von insgesamt 68 Kilometern Länge auf einem Gelände von 520 Hektar, so viel wie rund 725 Fussballfelder: In Immendingen (D), rund 20 Kilometer nördlich der Grenze zu Schaffhausen, hat Mercedes ein umfassendes Prüf- und Testgelände gebaut. Auf einem ehemaligen Übungsplatz der Bundeswehr entstanden in dreijähriger Bauzeit und mit Investitionen von über 200 Millionen Euro mehr als 30 Test- und Prüfstrecken. Das Layout stammt von Formel-1-Streckendesigner Hermann Tilke, der sieben der heute aktuellen F1-Kurse entworfen hat.
Mercedes bündelt die weltweite Fahrzeugerprobung. Bis zu 90 Prozent der Dauerläufe könnten künftig dort durchgeführt werden. Wichtig ist die Anlage auch für die Entwicklung von Assistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen. Aufgrund der Höhenlage von rund 800 Meter über Meer rechnen die Betreiber auch mit Schnee und Eis, sodass die Wintererprobung in Finnland und Schweden zurückgefahren werden könnte.
Ein Teil des Technikzentrums, wo Arbeitsplätze für Mitarbeiter aus Forschung und Entwicklung eingerichtet sind, ist in den ehemaligen Kasernengebäuden untergebracht. Im Weiteren befinden sich dort Werkstätten, Tankstelle, Ladesäulen für Elektroautos und Lagerräume. Die Betriebszeiten sind abhängig von der Art der Erprobung. Dauerläufe beispielsweise sind auf dem Oval-Rundkurs rund um die Uhr möglich, andere Testmodule bleiben aus Gründen der Geräuschimmissionen auf die Zeit zwischen sechs und 22 Uhr beschränkt.
Verschiedenste Strecken
In der Leitzentrale überwachen Mitarbeiter den gesamten Testbetrieb. Die Fahrer werden für alle Prüfmodule speziell geschult. Dazu befindet sich in jedem Fahrzeug eine sogenannte Onboard-Unit, die autorisierten Fahrern den Zugang auf die einzelnen Module ermöglicht. Die Leitzentrale ist über ein eigenes Mobilfunknetz stets in Funkkontakt mit den Testfahrern. Ein in die Onboard-Units integriertes Kollisionswarnsystem hilft zudem, gefährliche Annäherungen von Testfahrzeugen zu vermeiden. Selbstverständlich stehen auf dem Gelände auch rund um die Uhr einsatzbereite Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge.
Die sogenannte Bertha-Fläche bildet mit zehn Hektar neben der Fahrdynamikfläche den grössten asphaltierten Bereich. Die 950 Meter lange und bis zu 650 Meter breite Fläche eignet sich bestens, um Assistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen zu erproben. Zudem können dort sicherheitsrelevante Situationen mit Autobahngeschwindigkeit getestet werden. Funktionen zur Kollisionsvermeidung im Längs- und Querverkehr lassen sich mit weichen Attrappen von Autos, Fussgängern und Zweiradfahrern realitätsnah prüfen. Schon bald sollen solche Manöver übrigens auch fahrerlos möglich sein.
Auf der riesigen Fahrdynamikfläche lassen sich beispielsweise das Eigenlenkverhalten des Fahrzeugs im Grenzbereich und die Fahreigenschaften bei Störeinflüssen bestens prüfen. Als zentrales Element ist auf diesem Bereich ein Kreis mit 260 Meter Durchmesser eingezeichnet. Auf der bewässerten Bremsfläche, wo fünf Streifen mit unterschiedlichen µ-Werten angelegt sind, werden Bremsanlagen geprüft. Dazu sind genügend lange Anlaufstrecken vorgesehen. Im Weiteren gibt die Passstrasse mit Steigungen bis 16 Prozent und engen Kurven Auskunft über die Handlichkeit der Fahrzeuge. Zwei weitere kurvenreiche Bergstrassen mit ausgeprägten Steigungs- und Gefällabschnitten stellen Strassen dar, die für Geschwindigkeiten bis 100 km/h ausgelegt sind. Auf sieben Steigungsstrecken mit Steigungen von bis zu 100 Prozent werden unter anderem Anfahren am Berg auf trockenem und nassem Belag getestet. Kälte-Container vor den Steigungen ermöglichen auch Kaltstartversuche.
Modelle mit Allradantrieb bewegen sich im 4×4-Modul, einem topografisch anspruchsvollen, naturnahen Gebiet mit befestigten Wegen und offenem Gelände. Dazu gehören Abschnitte mit 40 und 70 Prozent Steigung sowie eine Schrägbahn und ein schwieriger Trialparcours. Die Schlechtweg-Verschmutzungsstrecke ist ein feldwegartiger Rundkurs mit Schotterbelag aus Kalksteinmergel und Kalksandsplit. Da sich dieser Schmutz auf den Fahrzeugen in Ritzen und Spalten festsetzt, können daraus Rückschlüsse für Abhilfemassnahmen abgeleitet werden.
Auf Stadtkurs
Auf 1.5 Kilometer Stadtstrassen mit verschiedenen Kreuzungssituationen werden Fahrassistenzsysteme, Car-to-X-Kommunikation und automatisiertes Fahren erprobt. In der Nähe steht ein Parkhaus, sodass automatisiertes Parkieren getestet werden kann. Selbst an Stahlbetondecken wurde gedacht, um in Erfahrung zu bringen, ob das Auto die GPS-Signale für die Parkplatzsuche erfassen kann. Auf der Stadtstrasse gibt es ausserdem mehrere Haltebuchten, Kreisel sowie eine zweispurige Sackgasse mit Wendehammer.
Geräuschmessungen erfolgen auf der Akustik-Prüfstrecke, deren Asphaltdeckschicht einen nach den Normen ISO 362 und ISO 10844 definierten Reibwert besitzt. Daher können dort nicht nur Akustikversuche, sondern auch Schallmessungen für die Modellzertifizierung durchgeführt werden.
Wesentliches Element des Testzentrums ist der vier Kilometer lange Oval-Rundkurs. Kurvenüberhöhungen erlauben Geschwindigkeiten von bis zu 160 km/h ohne Lenkeingriffe, sodass eine «unendliche Gerade» Autobahnfahrten mit hohen Dauergeschwindigkeiten möglich macht. Die eine der beiden Geraden lässt sich für Dichtheitsprüfungen sogar bewässern. Im Innern des Ovals liegt der 4.7 Kilometer lange Handlingkurs, der mit einem Höhenunterschied von 31 Metern Teilabschnitten der Nürburgring-Nordschleife ähnelt. Durch die möglichen grossen Längs- und Querbeschleunigungen werden Beurteilung der Reifeneigenschaften und des Lenkungsverhaltens möglich.
Federungs- und Geräuschkomforteigenschaften werden in den Komfort-Modulen auf Belägen wie Kopfsteinpflaster, Abschnitten mit Schlaglöchern und sinusförmigen Wellen sowie Trottoir-Auffahrten erprobt. Verwindungsstrecken geben Aufschluss über die Karosseriesteifigkeit, und die Splittgeräusch-Messstrecke zeigt, wie sich Steinchen im Radkasten akustisch bemerkbar machen.
Natur mitberücksichtigt
Ziel war es bei der Errichtung des Testzentrums stets, technologischen Fortschritt im Einklang mit der Natur zu ermöglichen. Mit der neuen Anlage wird also nicht nur der Verkehr auf öffentlichen Strassen entlastet, sondern es sind auch umfangreiche Naturschutzmassnahmen einbezogen worden. Für Flora und Fauna wurde umsichtig geplant.
Die rund 3 400 000 Kubikmeter Erdmaterial beispielsweise wurden auf dem Gelände belassen, und zudem entstanden neue Totholzzonen, Magerwiesen und Weiden. Eine 37 Meter breite Wildbrücke und ein 33 Hektar grosser Wildtierbereich sind ebenso vorhanden wie ein Blockheizkraftwerk mit Pellets. Oberflächenwasser wird in Überlaufbecken gesammelt und als Brauchwasser eingesetzt.