In einer Zeit, in der die Automobilbranche die grösste Veränderung in ihrer Geschichte angeht, gibt es zahlreiche Hersteller, die sich einander annähern möchten, um so die finanzielle Belastung der Investitionen teilen zu können. In diesem Sinn war sicherlich auch die Fusionsabsicht zwischen Fiat Cahrysler Automobiles (FCA) und der Renault-Gruppe im vergangenen Juni zu verstehen. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Sébastien Perrais, seit April 2018 CEO von FCA Switzerland, glaubt aber nicht, dass diese Wendung Probleme mit sich bringt. Mit der AR spricht er über dieses Thema und über die Herausforderungen des Schweizer Marktes.
Automobil Revue: 2020 gilt der CO2-Grenzwert von 95 g/km. Zurzeit verfügt FCA über kein einziges Hybrid- oder Elektrofahrzeug, welches den Durchschnitt der eigenen Flotte senken würde. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Sébastien Perrais: Es stimmt, dass wir für 2019 in Europa kein solches Modell in unserem Sortiment haben. Allerdings ändert sich die Gesetzgebung erst nächstes Jahr, und unser Plan sieht Produkte vor, die rechtzeitig eintreffen werden. Wir haben nächstes Jahr zum Beispiel den 500 Electric oder den Panda Hybrid. Dazu kommen auch noch der Jeep Compass und der Renegade PHEV. Diese Modelle kommen! Wir haben immer gesagt, dass wir nicht die ersten sein werden, aber dass wir sie auf dem Markt anbieten, wenn sich dieser entwickelt. Die Verbrennungsmotoren machen immer noch den Grossteil des Marktes aus, und das wird auch 2020 noch so sein. Hier geht es um Gleichgewicht und Timing. Natürlich ist CO2 einer der Arbeitsschwerpunkte für die Hersteller, und wir arbeiten aktiv daran.
Sie sind demnach zuversichtlich?
Ja, in meinem Fahrplan berechne ich bereits die möglichen Bussen, die ich dem Staat zahlen muss. Ich bin sicher, dass ich sie mit der Elektrifizierung unserer Sortimente stark nach unten korrigieren kann und dass sie gegen null gehen werden.
Der Marktanteil von FCA in der Schweiz erreichte letztes Jahr ein Rekordhoch von sechs Prozent. Dieses Jahr sind es noch 5.6 Prozent. Was ist los?
Dafür gibt es einen technischen und einen strategischen Grund. Der technische Grund ist, dass wir letztes Jahr sehr clever handelten: Viele unserer Konkurrenten hatten grosse Probleme, die Hürde zwischen den Normen Euro 6b und Euro 6d zu schaffen. Unsere Fahrzeuge waren bereit, unsere Zulassungen wurden nicht gebremst. Der andere Grund ist strategischer Natur: Ich habe 1000 taktische Verkäufe an Verleihfirmen mit kurzen Vermietdauern unterbunden. Ich habe das getan, um die Restwerte mittelfristig zu schützen. Mich interessieren die Zufriedenheit meines Kunden und meines Netzwerkes, das meinen richtigen Kunden Fahrzeuge verkauft. Darüber hinaus ist das Netzwerk stabil, sieht man von Unterschieden zwischen den Marken ab. Der Marktanteil ist ein Aspekt, die vom Netzwerk erzielten Gewinne sind ein anderer. Die Verkaufszahlen sind teilweise Kosmetik. Meine Vision war es, dass wir uns auf das wahre Geschäft fokussieren.
Tageszulassungen für Autos nehmen zu. Sitzen wir nicht auf einer Zeitbombe?
Sie sind Teil des Marktes. In der Schweiz ist dies eine gängige und kulturell verankerte Praxis. Die Kunden suchen sie. Wichtig ist eine gute Rotation dieser täglichen Zulassungen, um eine korrekte Marge für das Netzwerk zu erhalten. Diese Autos werden am Ende an reale Kunden verkauft, fast wie Neuwagen. Im Gegensatz zu jenen Autos, die an Kurzzeitvermieter verkauft werden und am Ende der Leasingdauer mit zehn-, zwanzig- oder dreissigtausend Kilometern zurückkommen und eher wie Gebrauchtfahrzeuge sind. Ich habe es vorgezogen, die Zahl an entsprechende Unternehmen verkaufter Fahrzeuge zu reduzieren, um die Restwerte zu schützen. Es ist eine Frage des Gleichgewichts, denn es ist notwendig, ein Minimum an Autos an Kurzzeitvermieter zu verkaufen, um diese Autos potenziellen Kunden bekannt zu machen – aber auf einem vernünftigeren Niveau.
Hätte Alfa Romeo nicht das Potenzial, sich den drei deutschen Premiummarken anzunähern und einen Platz in den Verkaufs-Top-Five für sich zu beanspruchen?
Ja, Alfa Romeo verfügt weltweit über ein enormes Potenzial. Die Modelle Giulia und Stelvio sind in ihren Kategorien gut positioniert: Giulia liegt auf dem zweiten Platz bei den Premium-Familienlimousinen, Stelvio auf dem fünften Platz bei den SUVs. Allerdings brauchen wir ein breiteres Produktangebot, denn der Alfa verkauft sich immer wieder gut. Mit unseren aktuellen Produkten decken wir nur 14 Prozent des Schweizer Marktes ab, das heisst, wir könnten die Präsenz von Alfa Romeo in der Schweiz versechs- oder versiebenfachen. Jedes Mal, wenn eine Neuheit auf den Markt kommt, macht Alfa einen Schritt nach vorne. Es braucht also Zeit und Geduld.
FCA und Renault haben im vergangenen Juni über eine Fusion diskutiert, doch das Projekt scheint gescheitert zu sein. Ist das ein Problem?
Unsere Position war stets eindeutig: FCA kann sehr gut allein über die Runden kommen. Die Gewinne und Geschäftszahlen vom letzten Jahr beweisen das. Die Menschen wissen nicht, wie mächtig die Gruppe ist, insbesondere in den USA und Brasilien. FCA ist eine starke Gruppe, die Geld verdient und keine Schulden mehr hat. Wir sind uns allerdings bewusst, dass wir aufgrund der Investitionen, die der Technologiewandel infolge der Elektrifizierung erfordert, Veränderungen von Partnerschaften sowie Vereinigungen und Fusionen miterleben werden. Es ist klar, dass die Automobilbranche, so wie wir sie heute kennen, in fünf Jahren eine komplett andere ist. Diese Welt befindet sich im Wandel, doch eine der Stärken der FCA-Gruppe war es stets, sich schnell anzupassen.
International setzt FCA stark auf Jeep. Ist das mit Blick in die ungewisse Zukunft nicht riskant?
Derzeit ist Jeep ein grosser Erfolg. In sechs Jahren ist der weltweite Absatz der Marke von 400 000 auf 1.6 Millionen Einheiten pro Jahr gestiegen. Jeep war in den letzten Jahren unsere Speerspitze, und heute können wir dank der von Jeep erzielten Gewinne in die anderen Marken der Gruppe investieren. Da die FCA-Gruppe nicht nur Jeep ist, werden jedes Jahr mehr als 4.7 Millionen Autos mit mehr als neun Marken verkauft. Wir haben in einigen Teilen der Welt sehr starke Marken wie Fiat in Europa oder Brasilien und Ram in den USA. Im nächsten Jahr werden Sie beispielsweise die Präsentation neuer Fiat-Produkte mit Schwerpunkt Europa sehen. Sie werden überrascht sein.
Das Wahlvolk bleibt immer als Korrektiv
Die eidgenössischen Wahlen 2019 gehen in die Geschichte ein, fürwahr. In erster Linie als Klimawahlen, aber auch als Wahl der Frauen. Der Frauenanteil im Nationalrat ist um rund 30 Prozent gestiegen. Wurden 2015 noch 64 Nationalrätinnen gewählt, waren es dieses Jahr 84. Damit liegt der Frauenanteil in der grossen Kammer neu bei 42 Prozent gegenüber 32 Prozent in der auslaufenden Legislatur. Das Klima freilich stand eindeutig zuoberst auf der Themenliste. Die Partei der Grünen haben mit diesem Thema 17 Sitze hinzugewonnen und die Grünliberalen neun. Das entspricht einer Erhöhung auf 44 Sitze im 200-köpfigen Nationalrat. Also gegen ein Viertel der Abgeordneten gehören für die kommenden vier Jahre der grünen Wählerschicht an. Auf der anderen Seite verlieren die SVP nicht weniger als zwölf Sitze, die FDP vier Sitze und die CVP drei Sitze. Die SP büsst unerwartet auch vier Sitze ein.
Enttäuschung und Forderung
Enttäuscht zeigte sich Urs Wernli, Zentralpräsident des Auto Gewerbe Verbands Schweiz (AGVS), über den Wahlausgang. Die massiven Sitzgewinne des grünen Lagers seien eine Folge der Klimadebatte. Der AGVS sei offen für die Diskussion über Umwelt und Klima. Das Ergebnis ändere indes nichts an der Haltung und den Forderung der Schweizer Garagisten an das Parlament: Es müsse die Beseitigung der Engpässe im Nationalstrassennetz zügig vorantreiben. «Bei der Klimadiskussion und den zu treffenden Massnahmen fordert der AGVS eine technologieoffene Haltung. Der AGVS und seine 4000 Mitglieder werden sich weiterhin für die Umweltanliegen einsetzen, erwarten aber moderate Lenkungspakete, die den motorisierten Individualverkehr nicht höher belasten», fügt Wernli hinzu. Andreas Burgener, Direktor von Auto-Schweiz, akzeptiert die Ergebnisse der Wahlen als Ausdruck des Wählerwillens. In Zukunft gelte es, Mehrheiten zu finden für zukunftsweisende Projekte im Mobilitätsbereich und insbesondere im motorisierten Individualverkehr. Deshalb sei er froh, dass der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) in der Verfassung verankert sei und damit Projekte wie Engpassbeseitigungen auf dem Nationalstrassennetz realisiert werden können. Sorgen bereitet Burgener die Umsetzung des CO2-Gesetzes angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat. «Hier gilt es dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Mehrbelastung für den Bürger kommt», hält er warnend fest.
Und jetzt die Fortsetzung
Eines ist klar: Unser politisches System ist so austariert, dass die Bäume keiner Partei in den Himmel wachsen. Beschlüsse und Veränderungen müssen reifen und brauchen länger bis zur Umsetzung. Und bei allen Entscheidungen steht immer noch das Wahlvolk als Korrektiv im Hintergrund. Es greift ein, falls es der Auffassung ist, die Sache laufe in die verkehrte Richtung. Wenn es in der kommenden Legislaturperiode dem Parlament nicht nur beim Klima, sondern auch in anderen Bereichen gelingt, vernünftige Lösungen zu erreichen, hinter denen eine Mehrheit der Bevölkerung stehen kann – also nicht nur Lösungen, die in erster Linie den Mittelstand finanziell noch mehr belasten – war die Veränderung der politischen Landschaft am Ende vielleicht gar heilsam.