Sir William Lyons, Gründer und langjähriger Besitzer, Direktor und Chefentwickler der geschichtsträchtigen Marke Jaguar, war Überlieferungen zufolge zwar ein liebenswerter, aber kein einfacher Mensch. Ein Patriarch und Kontrollfreak soll er gewesen sein, der in alle Entwicklungsschritte involviert sein wollte. Als er sich in den Ruhestand begab, führte er seine Firma – die einen behaupten florierend, die anderen sagen serbelnd – in einen Grosskonzern. Die späteren Besitzer British Leyland und Ford hielten die Firma am Leben, mehr nicht. British Leyland hatte genug eigene Sorgen, und Ford hatte zwar die Mittel und die Möglichkeiten, um Jaguar auf Kurs zu bringen, schaffte es aber infolge fehlerhafter Strategie nicht, vom Namen und Erbe der vielen Marken in seinem Premiumportfolio – eine zeitlang gehörten auch Aston Martin und Land Rover dazu – zu profitieren. Erst im Besitz des indischen Grossindustriellen Ratan Tata schienen Jaguar und die Schwestermarke Land Rover aufzublühen. Und auch wenn das überambitionierte Ziel, eine Million Fahrzeuge pro Jahr zu verkaufen, vorläufig nur ein Traum blieb, liefen die Geschäfte bei Jaguar Land Rover (JLR) zunächst nicht schlecht. Das englische Joint Venture rückte wieder in die Gewinnzone vor, Werke wurden ausgebaut und Personal angeheuert. Die feierlich eröffnete Motorenfabrik in Woolverhampton (GB) nahm im Beisein der Queen den Betrieb auf, und der Jahresabsatz überstieg 500 000 Fahrzeuge. Die britische Presse sprach gar schüchtern von einer ernstzunehmender Konkurrenz für die deutschen Big three.
Nicht ohne Rückschläge
So ist aus den Frühpensionsplänen der indischen Investoren von JLR nichts geworden. Im schwarzen März 2019 platzte jedoch aus heiterem Himmel eine Bombe: Das Unternehmen vermeldete einen Verlust von beinahe 3.6 Milliarden Pfund. Die drei offiziellen Gründe lauteten: «Brexit, Stagnation in China und Dieselkrise». Von diesen kargen Angaben liessen sich die Analytiker jedoch nicht verwirren. Es lag auf der Hand, dass sich die massiven Investitionen in die Motorenproduktion in den ersten zehn Jahren kaum auszahlen würden. Zumal die Dieselkarte im strategisch falschen Moment gezogen wurde. Das Problem in China ist zwar nicht von der Hand zu weisen, ist aber bei JLR hausgemacht. Vielen Berichten in der britischen Presse zufolge hat es die Firma nicht geschafft, im Reich der Mitte ein intaktes Verkaufsnetz aufzubauen und den kritischen Ansprüchen der chinesischen Klientel gerecht zu werden. Über den Brexit und seine Folgen wollen wir an dieser Stelle erst gar nicht reden – vielleicht in der Annahme, dass dieser in der letzten Sekunde doch abgeblasen wird. Tatsache ist und bleibt der Verlust von 3.6 Milliarden Pfund in der Jahresbilanz von JLR. Diesen auszuweisen war gar kein schlechter Schachzug, denn so wird er das Ergebnis der Folgejahre nicht mehr trüben. Einer erfolgreichen Sanierung steht insofern nichts im Wege. Das Unter-nehmen hofft bereits im laufenden Jahr eine positive Ebit-Marge von drei bis sieben Prozent zu erzielen und den negativen Trend zu beenden.
Mit Blick in die Zukunft
Was Tata im Gegensatz zu den Vorbesitzern von JLR richtig macht, ist langfristig zu denken und den Briten unter der Führung eines starken Managers grösstmögliche operative Freiheit und Unabhängigkeit zu gewähren. Die Inbetriebnahme des futuristischen Design- und Technologiezentrums, dessen feierlicher Eröffnung wir in Gaydon (GB) beiwohnen durften, sagt punkto Vertrauen der Inder alles. Als Teil einer 500 Millionen Pfund teueren Investition ist das Designzentrum die Krönung des Standorts Gaydon. In der sich über eine Fläche von 480 Fussballfeldern erstreckenden Betriebsstätte werden sämtliche Mitarbeiter aus Design, Technik, Entwicklung und Einkauf unter einem Dach vereint. Von insgesamt 13 000 Mitarbeitern sind hier 280 Designer für beide Brands tätig. Adam Hatton, Chef für Aussendesign bei Jaguar, bestätigt zwar eine enge Zusammenarbeit zwischen seinen Leuten und dem Team von Land Rover, erklärt aber, dass die Teams strukturell und lokal getrennt agierten. Das spiegelt auch die Hoffnung der Unternehmensführung wider, einen eigenständigen Auftritt beider Marken zu fördern. Gegenseitige Inspiration sei jedoch jederzeit möglich, hält Hatton fest. Das Kommando hat Julian Thompson, der vor wenigen Wochen Mister Jaguar Ian Callum abgelöst hat (s. Interviews unten).
Heute ohne Krieg
Wieder der Überlieferung zufolge zeichnete Sir William seine Studien einst im eigenen Garten, zwischen den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges und unter vielen Augen der jubelnden Kinder aus der Nachbarschaft. Der Arbeitsalltag in Gaydon gestaltet sich heute für Mitarbeiter erheblich angenehmer. Unter besten Bedingungen, in mit Licht durchfluteten Räumen und mithilfe der modernsten Technologien kreiert die Designerschar die Zukunft von JLR. Konzepte werden zwar immer noch gerne auf Papier gezeichnet und aus Knete gefertigt, trotzdem besteht der grösste Teil der Arbeit eines Designers heute aus CAD-Modellierung und 3D-Visualisierung. Die neueste Lasermappingtechnologie erlaubt es den Entwicklern ausserdem, die aus Knete gefertigten Modelle direkt in die elektronische Form umzuwandeln.
Kraft der Innovation
Unter der Federführung von Sir William Lyons war Jaguar ein von Innovation getriebenes Unternehmen. Die Firma war eine der ersten, welche Scheibenbremsen, Motoren mit obenliegenden Nockenwellen, Vollmetallkarosserien, Multilinkfederbeine auf allen Achsen und viele andere Erfindungen in Grossserie einführte. Wer glaubt, dass den Engländern die Puste im Kampf gegen die deutsche Konkurrenz ausgegangen ist, irrt gewaltig. JLR steht nach wie vor für viel Innovation und Erfindergeist: Karosserie aus leichtem und rostfreiem Aluminium, digitale Instrumente, touchscreenbasierte Bedienelemente mit zwei oder mehr Bildschirmen, Clearsight-Technologie und fortschrittliche Motoren. Der Anblick des neuen Designzentrums stimmt zuversichtlich, dass die beiden Marken auch in Zukunft die automobile Welt mitzuprägen vermögen.
«Der Retro-Look funktioniert für uns nicht»
Julian Thompson
Julian Thompson übernahm im September 2019 die Führung der Designabteilung bei Jaguar. Wir hatten die exklusive Möglichkeit, ihn über seine Visionen und Pläne zu befragen.
Automobil Revue: Mit Ian Callum ist ein Mann von Bord gegangen, der das Aussehen des modernen Jaguar geprägt hat. Wird sich nun vieles verändern?
Julian Thompson: Ian Callum und ich arbeiten seit mehr als zehn Jahren eng zusammen. Wir haben uns über sehr vieles ausgetauscht. Er bleibt Jaguar als Berater erhalten, es sind also keine bahnbrechenden Veränderungen von uns zu erwarten.
Neben vielen Fans hat das aktuelle Jaguar-Design auch viele Kritiker. Denen ist das zu generische und wenig markante Aussehen der Fahr-zeuge ein Dorn im Auge. Wollen Sie daran etwas ändern?
Wir haben fast 20 Jahre dafür benötigt, Jaguar zu einem modernen Aussehen zu verhelfen. Dies ist uns gelungen. Wir wollten gezielt weg vom Retro-Look, im Gegensatz zu einem Mini oder Fiat 500 funktioniert dieser für uns nicht. Nun werden wir im nächsten Schritt dafür sorgen, dass ein Jaguar noch mehr wie ein Jaguar aussieht.
Vor allem das Innenleben wurde oft als zu spartanisch und wenig ansprechend bezeichnet.
Wir haben die vielen Kritiker gehört und schnell reagiert. Wir sind daran, sämtliche Modelle mit neuen, luxuriösen und hochwertigen Interieurs zu versehen. Der neue XE erhielt dieses Update als erster.
Der Trend geht klar in Richtung SUV. Jaguar hat drei Limousinen im Angebot, die nicht allzu erfolgreich auf dem Markt sind. Haben diese Modelle eine Zukunft?
Limousinen laufen nicht in allen Märkten schlecht. In Indien, den USA und China stossen sie nach wie vor auf gute Nachfrage. Wir evaluieren der- weil unser Angebot und versuchen mit unserer Strategie, uns an den Kunden der Zukunft auszurichten.
«Ich hatte den besten Job der Welt»
Ian Callum
Ian Callum prägte das Aussehen vieler grossartige Automobile. Aus seiner Feder entsprangen der Aston Martin DB7, DB9 und Vanquish, Ford Puma und RS200, seit 1999 war er für Jaguar tätig und entwickelte das aktuelle Gesicht der britischen Marke. Der in Schottland geborene Brite verliess die Firma kurz vor der Eröffnung des neuen Designzentrums in den Midlands. Wir konnten ihn über die Gründe seines Weggangs und seine Zukunftspläne befragen.
Automobil Revue: Herr Callum, mit Ihnen verlässt Mister Jaguar himself die Kommandobrücke. Wie kam es dazu?
Ian Callum: Ich bin nun 65 Jahre alt und gehe in Rente. Ich hatte bei Jaguar während 20 Jahren den besten Job der Welt, jetzt ist es aber trotzdem Zeit für einen Tapetenwechsel.
Sie wirken etwas angespannt, war Ihr Abgang schwierig?
Emotional auf jeden Fall. Aber ganz weg von Jaguar bin ich ja nicht. Zudem ist Julian Thompson ein grossartiger Designer und ein würdiger Nachfolger. Ich übergebe meinen Posten also in gute Hände.
Was macht Sie besonders stolz, wenn Sie zurückblicken?
Ein schönes Auto entwickelt zu haben, erfüllt jeden Designer mit viel Freude. Ich glaube, mir ist im Laufe meiner Karriere etwas mehr gelungen, als nur schöne Formen zu zeichnen. Ich habe vielmehr Looks kreiert, die auch nach zehn oder zwanzig Jahren immer noch frisch und aktuell sind und nie aus der Mode geraten.
Das stimmt. Man denke da an DB7 oder Jaguar XK, die nach beinahe einem Vierteljahrhundert so aussehen, als verliessen sie erst gestern das Werk. Wie geht es jetzt weiter? Gehen Sie fischen und zum Tango ins Seniorenzentrum?
So alt bin ich dann doch noch nicht (lacht). Ich habe soeben meine eigene Designfirma eröffnet, und werde mich mit einem kleinen Team eigenen Projekten widmen.