Das Auto ist intergalaktisch schnell und mega zu fahren. An dieser Stelle könnte man den Fahrbericht über den McLaren 720S abschliessen. Herz, was willst du mehr? In diesem Auto fühlt man sich wie Baron von Münchhausen auf seiner iegenden Kanonenkugel. Wobei man die Geschichte des Lügenbarons updaten müsste. Eine Kanonenkugel ist mit 150 m/s viel zu träge – wir reden hier eher von einem 800-m/s-Hochgeschwindigkeitsgeschoss. Durch die Umstellung von Mono- auf Twinscrolltechnik ist die Aufbauphase des Turbos kaum spürbar. Nichts von Loch! Drückt man aufs Gaspedal, setzt ultimativ Schub à gogo ein. 100 km/h sind in 2.9 Sekunden erreicht. Bis 200 km/h dauert es 7.9 und bis Tempo 300 vergehen 21 Sekunden. Fliegt ein 720S mit seinen 341 km/h Topspeed an einem vorbei, breitet sich der Luftdruck nicht nur linear in Mündungsrichtung, sondern auch im rechten Winkel dazu aus. Wer in diesem Moment also am Strassenrand steht, wird vom Winde verweht. Zum Glück kommt das eher selten vor.
Dem Himmel zuwinken
Mit weit geöffneten Türen steht er da. Mit Flügeltüren, die bis ins Dach reichen und dem Himmel zuwinken. Auch wenn solche Einstiegsportale für diese Marke typisch sind, wirken sie in diesem Fall besonders hochherrschaftlich. Daneben wird sogar die Chilischote zur Zuckerrübe. Das Design ist gnadenlos auf Performance getrimmt. Grundlage ist die Karbonfaser-Karosseriestruktur, Monocage II genannt, die für Leichtigkeit und Stei gkeit des Monocoques sorgt. Das Klappdach lässt sich in blitzschnellen elf Sekunden öffnen und schliessen. Wer bereit ist, gut 10 000 Franken für eine elektrochrome Scheibe zu bezahlen, kann mit dem schnellsten Spider, den das Haus McLaren je gebaut hat, auch geschlossen offen fahren. Wie? Auf Tastendruck wechselt das Retractable Hardtop zwischen getönt und transparent. Von hinten dominieren zwei Abgasrohre, die wie Raketenwerfer aus dem Heck lugen, die breiten Gitter des Luftaustritts, hinter denen Teile des Differenzials und Getriebes zu sehen sind, sowie der breite Diffusor das Panorama. Jede Linie ist nicht nur dazu da, die Ästhetik zu glori zieren, sondern auch um den Abtrieb zu optimieren, den Luftwiderstand zu minimieren und die Kühlung des Antriebsstranges zu perfektionieren. Was die Downforce angeht ist das Auto so wie in vielerlei anderer Hinsicht «simply great». Man stelle sich das plastisch vor: 720 PS, 770 Newtonmeter Drehmoment aus einem V8-Biturbomotor bei knapp 1300 Kilogramm Gewicht. Eine diabolisch hoch konzentrierte Ladung Power, die voll auf die Hinterachse abgeht, Allradantrieb gibts beim 720S nicht. Eigentlich müsste ob der Leistung dieses autogewordenen Projektils nicht nur der Pilot am Steuer durchdrehen, auch die Hinterräder müssten es tun. Tun sie aber nicht.
Spektakuläres Fahrwerk
Das Traktionsniveau des McLaren 720S ist auf urcoolem Topniveau. Das Fahrwerk stellt sofort dort Kraft zur Verfügung, wo sie benötigt wird. Die Radbeschleunigung sowie der Druck in den Dämpfern werden von Sensoren an den Achsschenkeln und Dämpfern registriert. Mit den Daten der Radsensoren bildet der 720S dann die Strassenverhältnisse ab und leitet daraus ein Setup zur Maximierung der Bodenhaftung ab. Ein elektronischer Co-Pilot also quasi. Trotzdem: Beim ersten und zweiten Rausbeschleunigen aus der Kurve eht einen die Vernunft an, dass man sich vielleicht doch leicht zurückhalten sollte, um nicht als grüne Tanne oder bunte Lerche im Birkenwald zu enden. Zumal das Auto eben krass am Gas hängt. Allein, dieses Geschoss mit seiner grandios ansprechenden Lenkung denkt gar nicht an Leerlauf. Angesprochen auf den 720S sagte Formel-1-Weltmeister Fernando Alonso einmal: «Das Auto macht richtig Spass – dem Pro und dem weniger Geübten.» Auch Nicht-Formel-1- und Nicht-Langstreckenweltmeister können dieses Auto also schnell fahren, denn sie werden gut, aber nicht zu aufdringlich unterstützt. Die Hilfssysteme greifen erst ein, wenn der Teufel los ist. Beim Tritt auf die Bremse verzögern wuchtige Karbonkeramikscheiben den Vortrieb, während sich der Heck ügel aufstellt und für die Stabilität des Autos sorgt. Das Bremspedal drückt kräftig gegen den Fuss und regelt spät ins ABS. So liegen Kurvengeschwindigkeiten jenseits dessen, worüber der volle Magen jubiliert, drin. Apropos G-Kräfte: Ankert man aus Tempo 100, dauerts rund 30 Meter, bis das Auto steht, bei Tempo 200 sind es 120 Meter. Letzteres dauert rund 4.5 Sekunden. Allerdings kann man es auch mit diesem Auto übertreiben. Das musste jüngst McLaren-Formel-1-Pilot Lando Norris erfahren, als er bei einem Ritt im 720S in Silverstone (GB) mit seinem britischen Landsmann und Formel-1-Kommentator Johnny Herbert im Kiesbett landete. Ironischerweise just als Herbert im Cockpit vor lauter Entzückung über Schub, Sound, Drifts, G-Kräfte und fahrdynamische Glorie des 720S schrie: «Max Verstappen, du solltest dir das hier ansehen. So wird das gemacht!» Tja, Gott straft sofort. Einkehr und Demut sind vor dem Druck auf den Startknopf und das Gaspedal des 720S empfehlenswerte Berater.
Es geht schon, aber …
Trotz seines Bolidenstatus wird der Supersportler aber auch als alltagstauglich angepriesen. Dreht man den Schalter, mit dem sich Antrieb und Fahrwerk je dreistufig einstellen lassen, in den Migros- sprich Comfort-Modus, ist das Auto maximal gezähmt. Dank der grossen Frontscheibe ist die Rundumsicht prima, und der Acht-Zoll-Infotainment-Bildschirm liefert alle sonstigen relevanten Flugdaten zum Durchblick. Die Bedienbarkeit ist schön reduced to the max. Die Sitze sind komfortabel, der Geräuschpegel hat auch im Comfort-Modus mehr mit Hard- denn mit Kuschelrock zu tun, aber was solls. Die Federung ist nicht gemacht für Schlaglöcher, aber über einigermassen flache Landstrassen ist die Alltagstauglichkeit gewahrt. Trotzdem – wer will denn mit so einem Auto schon schnell mal um die Ecke einkaufen oder in der Stadt in den engen Schlund eines Parkhaus eintauchen? Mit einer Raubkatze geht man ja auch nicht shoppen. Und doch hat auch Extravaganz eine soziale Komponente. Wo immer man mit dem McLaren 720S auftaucht, sind einem die Blicke der Passanten sicher und man kommt sofort mit ihnen ins Gespräch. Mit der Frau an der Tankstellenkasse etwa, dem Paar vor dem Einkaufscenter oder dem Sportwagenfan im Parkhaus.