Neue Philosophie

2000 PS Nach mehreren Jahren der Lethargie will die englische Marke Lotus mit dem Hypercar Evija wieder ins Rampenlicht fahren.

Die ab 1996 zum Proton-Konzern aus Malaysia gehörende Marke Lotus war seit mehreren Jahren in der Senke verschwunden. Sieht mal einmal von den zahlreichen Sondermodellen der vergangenen Jahre ab, so wurde die letzte echte Neuheit vor fünf Jahren vorgestellt. Es war die dritte Generation des Exige. Seit der Übernahme durch den chinesischen Automobilriesen Geely (dem auch Volvo gehört) im Jahr 2017 scheint Lotus nur ein Ziel zu verfolgen: wieder als veritabler Konkurrent von Porsche oder sogar McLaren und Ferrari wahrgenommen zu werden. Kurzum, wieder ins Rampenlicht der internationalen Automobilszene zurückzukehren.

Knapp zwei Jahre später scheint das Ziel zumindest teilweise erreicht. Oder sogar mehr, in ­Anbetracht der technischen Daten des Evija, des neuen Hypercars, das am 16. Juli in London einem Publikum von internationalen Journalisten, Investoren und potentiellen Käufern vorgestellt wurde. Die «Automobil Revue» war exklusiv für die Schweiz mit dabei.

E-vi-ja
Der Lotus Evija (ausgesprochen E-vi-ja) symbolisiert in mehrfacher Hinsicht die Erneuerung der englischen Marke. So erklärt sich auch der (von Eva abgeleitete) Name: «der erste seiner Art». Laut Lotus ist das genau die passende Bezeichnung, denn der Evija ist nicht nur der erste Hypercar des Herstellers, sondern auch der erste Vollstromer des Unternehmens und überhaupt der erste elektrifizierte Lotus. Darüber hinaus ist es auch das erste Auto der Geely-Ära.

Design eines Jagdfliegers
Optisch sieht man den Einfluss der Flugzeugindustrie. Vor allem der Aufklärer Lockheed SR-71 Blackbird hat dabei eine grosse Rolle gespielt. Aber auch die Natur war Vorbild für die Formgebung des Lotus Evija: «Am Anfang der Entwicklungsphase haben wir viel Zeit mit der Betrachtung von Bildern geologischer Gesteinsformationen, wie zum Beispiel über Jahrhunderte geformte ­Felsen, verbracht. Wir meinen, diese schönen und kuriosen Elementarlinien im Evija festgehalten zu haben», erklärt Russell Carr, Designdirektor von Lotus.

Die Karosse aus Karbonfasern bleibt dem Prinzip von Colin Chapman, dem Gründer von Lotus, treu: Jede Komponente muss mehrere Zwecke erfüllen. So ist das Aussendesign nicht nur gefällig, sondern auch überall funktional. Ein gutes Beispiel sind die beiden Venturi-Tunnel, die das Heck des Fahrzeugs durchbrechen. Diese Designelemente der Le-Mans-Rennwagen optimieren den Luftfluss durch die Karosserie und erhöhen den Anpressdurck bei gleichzeitiger Reduzierung des Luftwiderstandes im Heckbereich. Dazu tragen auch die ausfahrbaren Kameras in den vorderen Kotflügeln bei. Die dritte Kamera auf dem Dach sorgt für optimale Sicht nach hinten.

Von hinten betrachtet wird jeder Venturi-Tunnel von einem roten Lichtkranz eingerahmt. Dieses LED-Leuchtband vermittelt einen optischen Effekt, der an ein Nachbrenntriebwerk erinnert.Das ist wiederum eine Anspielung an die Jagdflieger, ganz zu schweigen vom verstecken LED-Licht, das jeden Tunnel von innen beleuchtet. Die Blinker sind übrigens in die Ecken des Lichtkranzes integriert, und die Funktion des Rückfahrscheinwerfers wird von dem erleuchteten T des Lotus-Schriftzugs über der Ladeklappe erfüllt.

Persönliche Gestaltung
Lotus bietet den Kunden des Evija eine weitgehende Gestaltungsfreiheit für die Aussenlackierung, die Verkleidung des Interieurs oder auch die Verarbeitung des Logos auf der Fronthaube. Die britische Firma hat auch die Möglichkeit entwickelt, Metallelemente direkt in die Karosserie aus Karbonfaser einzubauen, sodass das Lotus-Logo dann bündig passt.

Das Exponat in London zeigte stolz einen Teil des Union Jacks in seinen Flanken, aber laut Lotus kann man ihn auch durch eine andere Flagge, ein Familienwappen oder ein persönliches Abzeichen ersetzen. «Dieses Abzeichen im Stil einer Einlegearbeit ist vergleichbar mit traditioneller Kunsttischlerei, wo verschiedene Holzfarben in dieselbe Tafel eingearbeitet werden», erklärt Carr. «Für den Evija kann der Kunde wirklich sein eigenes Material und Design wählen.»

Type 130
Während seiner Entwicklung hiess das Elektro-Hypercar intern Type 130. Dies ist ein Code mit direkter Anspielung auf die Kreationen der Marke aus Hethel. Der Type 14 war das erste Komposit-Monocoque-Serienauto der Welt (Elite, 1957) und der Type 92 der erste Formel-1-Rennwagen mit aktiver Federung (1983).
Auch der Evija will wieder eine Revolution in der Automobilindustrie durchsetzen. Der Hypercar hat ein vollständiges Chassis aus Karbonfaser. Es besteht aus einem Stück und bietet sowohl hohe Festigkeit als auch einen integrierten Luftdiffusor von den B-Säulen bis hin zum Heck. Das ist aber nicht die grösste Trumpfkarte des Evija. Nein, am stärksten beeindruckt seine phänomenale Leistung und noch mehr die daraus resultierenden Beschleunigungs- und Durchzugswerte.

2000 PS
Im Herzen des Evija arbeitet ein vollelektrisches Aggregat. Gemäss den Angaben von Lotus haben die vier Elektromotoren eine sagenhaften Einzelleistung von 500 PS, was in einer Systemleistung von 2000 PS (!) und 1700 Nm Drehmoment resultiert. Der Antrieb entstand aus einer Kooperation mit Williams Advanced Engineering, einem Unternehmen, das man von den Siegen im Motorsport wie der Formel 1 oder der Formel E kennt.
Versorgt werden die vier Motoren und Generatoren von einer 70-kWh-Batterie in der Mitte des Autos direkt hinter den Sitzen. Diese ungewöhnliche Anordnung bietet laut Lotus mehrere Vorteile punkto Styling, Aerodynamik, Gewichtsverteilung und Fahrdynamik. Dazu kommt die Möglichkeit, die Batterien bei Bedarf  auszutauschen. Die aktuellen Akkus stammen vom koreanischen Hersteller Samsung. Sie bieten das derzeit «geringste Gewicht und die grösste Energiedichte». Dennoch kommt der Evija auf ein stattliches Gesamtgewicht von 1680 Kilogramm (1080 kg ohne Batterien). Ja, das ist weit entfernt von «Light is right», einem weiteren – ganz wichtigen – Grundsatz des tapferen Chapman.

Ausserirdische Fahrleistungen
Lotus gibt eine Reichweite von 400 Kilometern bei moderatem Fahrstil und 80 Kilometern auf der Rennstrecke an. Das relativiert sich jedoch, denn der Evija kann in nur zehn Minuten extrem schnell nachgeladen werden. Noch schneller ist die ausserirdische Beschleunigung des Tieffliegers: weniger als drei Sekunden von 0 auf 100 km/h und sogar weniger als neun Sekunden von 0 auf 300 km/h. Damit lässt er auch den Millenium-Falken und seinen Hyperspace hinter sich! Für diese aussergewöhlichen Fahrleistungen wird auch ein aussergewöhnlicher Preis verlangt: Der Lotus Evija kostet nicht weniger als 1.7 Mil­lionen Pfund, ohne Steuer natürlich. Das sind umgerechnet über zwei Millionen Schweizer Franken. Dafür erhält man von Lotus ein umfassendes Eventprogramm inklusive VIP-Trackdays. Das kann sich nur eine Handvoll Privilegierter leisten, die allerdings schnell eine Bestellung für eines der 130 geplanten Exemplare aufgeben sollten.

Die Montage des Lotus Evija beginnt im kommenden Jahr am historischen Standort Hethel in England. Für ihn wird eigens eine neue Montagestrasse eingerichtet.

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