Die Hersteller sind heute verständlicherweise geradezu versessen darauf, ihr Modellangebot frisch zu halten. Eine der wenigen Ausnahmen ist Alfa Romeo. Bei den Mailändern gehen die Erneuerungen derzeit sehr langsam vonstatten. Das ist angesichts der unerbittlichen Konkurrenzsituation, vor allem im C-Segment, eine äusserst ungewöhnliche Haltung. Die Giulietta ist mit ihrer nochmaligen Karriereverlängerung ein Musterbeispiel dafür. Die Traditionsmarke frischt das erstmals am Genfer Autosalon 2010 präsentierte Modell nach fast einem Jahrzehnt jetzt tatsächlich zum dritten Mal neu auf. Wir wollen gar nicht auf die Altersvorurteile oder Stammtischsprüche eingehen, vielmehr freuten wir uns darauf, die gepflegte Mailänder Sportlimousine fortgeschrittenen Alters zu fahren. Wir hatten diese Gelegenheit auf den herrlichen Strassen der Toskana in der Gegend um Chianti.
Selbstbewusster Auftritt
Schon 2013 und 2016 erfuhr der kompakte Alfa Romeo je
eine sanfte Erneuerung, und auch 2019 geht es nur sachte voran. Man kann es
gleich vorwegnehmen: Die Designer haben für die jüngste Karosserievariante
des in Cassino (Provinz Lazio, auf halbem Weg
zwischen Rom und Neapel) gebauten Fünftürers keine Überstunden verbucht. Die
Giulietta MY 2019 baut das Angebot der Karosseriefarben mit dem Visconti-Grün
aus, bekommt ein geändertes Felgendesign, gelbe Brembo- Bremssättel,
Spoiler-Zierstreifen in der gleichen Farbe und für die Topversion Veloce einen
vorderen Splitter. In der Schweiz sind neben dem Veloce drei Varianten im
Angebot: Giulietta, Sport und Executive. Alles in allem finden wir das zurückhaltende
Vorgehen gelungen, denn das Styling der Giulietta hat die Jahre gut überstanden.
Ihre Kombination von Rundungen mit sportlichen, aber eleganten Linien hebt die
kompakte Limousine positiv aus der Gruppe der Konkurrenten hervor. Der Alfa
verfügt über einen zeitlosen Charme. Weitere kosmetische Änderungen betreffen
das Havana- Leder im Interieur und die Aufrüstung der Serienausstattung mit
vorderen Parksensoren. Markantere Unterschiede findet man beim Motorenangebot,
das deutlich gestrafft wurde. Wegen der immer strengeren Abgasvorschriften entfällt
der 1.8-Liter-Benziner mit 240 PS. Der einzige Benziner ist beim jüngsten
Kompakt-Alfa nun der 1.4 T-Jet mit 120 PS und 215 Nm. Bei den Dieseln hat der
Kunde die Wahl zwischen dem 1.6 JTD mit 120 PS und 350 Nm sowie dem 2.0 JTD mit
170 PS und 350 Nm. In der Schweiz ist der kleinere Selbstzünder nur mit dem
Sechsgang-Schaltgetriebe verfügbar, die beiden anderen Motoren können auch mit
der Sechsstufen-Doppelkupplungs- Automatik TCT kombiniert werden. Alle Antriebe
erfüllen die Abgasnorm Euro 6d-Temp. Für unsere Fahrversuche in der Toskana
stand uns mit dem Veloce die sportlichste Variante zur Verfügung. Er war mit
dem 2.0 JTD und 18-Zoll- Leichtmetallfelgen ausgerüstet. Sein Auftritt wirkt nobel,
die Verarbeitungsqualität ist gut. Das Interieur strömt mit seinen schönen
Alcantara-Sportsitzen mit gelben Nähten und dem grossen, abgeflachten Lenkrad
Rennatmosphäre aus. Vorne gibt es genug Platz, aber auf den Rücksitzen fühlen
sich die Passagiere in Knie- und Kopffreiheit beengt. Auch das
Kofferraumvolumen von 350 Litern ist für das C-Segment nur
unterdurchschnittlich. Auf den kurvigen Strassen um Chianti war der Giulietta
Veloce ihr Alter nicht anzumerken. Mit dem Zweiliter-Diesel lässt es sich gut
leben. Er verfügt über einen Turbolader mit variabler Turbinengeometrie, arbeitet
leise, ist durchzugsstark und drehfreudig. Der Vierzylinder reagiert über ein breites
Drehzahlband spontan auf das Gaspedal und macht einen bulligen Eindruck. Er überzeugt
mit guten Fahrleistungen und erfreulichen Zwischensprints. Die TCT-Automatik
ist kein Renngetriebe, arbeitet aber hervorragend mit dem temperamentvollen Motor
zusammen.
Harmonisches Fahrverhalten
Beim Fahrwerk setzt Alfa auf McPherson-Aufhängungen vorne
und eine Mehrlenkerachse hinten. Es filtert die Fahrbahnunebenheiten bestens
aus und sorgt für ein stabiles Fahrverhalten. Der Wagen lenkt spontan ein,
bleibt immer auf der sicheren Seite und hat in engen Kurven viel Traktion. Aber
leider trägt die Giulietta mit ihrem Gewicht von 1.4 Tonnen ein Handicap mit
sich herum, das sich in Wechselkurven in mangelnder Handlichkeit auswirkt. Und
auch die Bremsen verlieren nach harter Beanspruchung einiges an Biss. Ist die
Giulietta, die im nächsten Jahr den zehnten Geburtstag feiert, also veraltet?
Nicht so eilig mit dem Urteil! Zwar hat der Alfa mit dem Uconnect- Infotainment
und einem 6.5-Zoll-Bildschirm ein unpraktisches, angestaubtes System an Bord, der
winzige Bordcomputer im Armaturenbrett ist schlecht lesbar, die
Assistenzsysteme sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit (es fehlen Toter-Winkel-
Warnung, Spurhalteassistent, Verkehrszeichenerkennung, adaptiver Tempomat und
schlüssellose Bedienung), und das Gewicht schränkt seine Handlichkeit ein,
aber der Italiener bleibt ein Vorbildssportler mit südl.ndischem Charme, dem die
Jahre nichts anhaben können. Und der Preis von 36 900 Franken für den Veloce
(23 900 Fr. für das Basismodell) ist äusserst konkurrenzfähig.
Die Version Veloce (Bilder rechts) zeichnet sich durch Alcantara-Sportsitze und gelbe Bremssättel aus.
Die Giulietta schrieb italienische Autogeschichte
Stefano Biondetti ist ein Original. Er kennt die italienische Autogeschichte in- und auswendig und ist ein eingeschworener Fan von Alfa Romeo. Er ist der Neffe des berühmten Rennfahrers Clemente Biondetti, des vierfachen Siegers der Mille Miglia (1938 und 1947 auf Alfa Romeo, 1948 und 1949 auf Ferrari), lebt im toskanischen Versilia und hat in Prato ein Museum eröffnet, das seinem berühmten Verwandten gewidmet ist. Aber Biondetti ist auch ein Sammler erlesener Wagen. Zur Präsentation der Giulietta MY 2019 kam er mit seinem Sohn auf das Weingut Tenuta Perano in Gaiole der florentinischen Adelsfamilie Fresco baldi. Die beiden Biondetti brachten zwei Schmuckstücke mit: eine Giulietta Sprint und einen Sprint Speciale (Bild). Che belle! Aber schliesslich wollen 65 Jahre des legendären Alfa- Modells würdig gefeiert werden. «Die Giulietta Sprint kam 1960 heraus. Sie wird von einem 1.3-Liter-Motor mit 80 PS angetrieben. Der Sprint Speciale stammt aus dem Jahr 1961 und hat ebenfalls einen 1.3-Liter, aber mit 90 PS. Die Fahrleistungen dieses Coupé waren damals sehr eindrücklich, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 190 km/h», begeisterte sich Stefano Biondetti. Weiter meinte der Alfista: «Vergessen wir nicht, dass Alfa Romeo in dieser Zeit eine wegweisende Marke war. Zum Beispiel dominierte Alfa die Mille Miglia 1956 und sicherte sich mit den Giulietta Sprint Veloce mit 90 PS einen Dreifachsieg vor den Porsche 356.» In den Augen von Biondetti nimmt die Giulietta eine Sonderstellung in der italienischen Autogeschichte ein: «Es war das Lieblingsauto jedes Italieners und machte die Marke zu einem bedeutenden Hersteller. Zum ersten Mal konnten sich die Einheimischen, vor allem die des Mittelstands, den Traum erfüllen, einen Alfa zu besitzen. In den 1950er- Jahren wurden grosshubige und eher teure Autos wie der Alfa 1900 oder 2000 verkauft. Mit dem 1.3-Liter-Motor der Giulietta und dem günstigen Verbrauch hatten die Mailänder eine erschwingliche Alternative zum Fiat 1100.»