Vertrauen ist gut, Misstrauen oft besser

VORTRITT IST NICHT GLEICH VORTRITT. Das Genfer Strafgericht büsst einen Automobilisten, weil er sein Vortrittsrecht erzwungen hatte.

Es geschah in Genf. Automobilist A und Automobilistin B fahren Seite an Seite auf einer zweispurigen Strasse in der gleichen Richtung. Eine alltägliche Situation. Erst als die linke Spur, auf der sich die Automobilistin befand, in die rechte Spur übergeht, nimmt das Unheil seinen Lauf. Jeder versucht um jeden Preis, dem anderen zuvorzukommen. Glücklicher-weise konnte ein Zusammenstoss im letzten Augenblick gerade noch vermieden werden, allerdings nur durch Zufall und mit Glück, wie das Gericht befand. Vermutlich – zu Unrecht – überzeugt davon, dass sie in diesem Moment den Vortritt hatte, zeigte Automobilistin B den Automobilisten A an. Dieser wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass er die Vortrittsregeln verletzt hatte, und zu einer Busse verurteilt.

Trotz Vortritt nicht regelkonform
Das Genfer Strafgericht, das sich mit dem Fall zu befassen hatte, rief zunächst in Erinnerung, dass im vorliegenden Fall die Automobilistin B vortrittsbelastet war, da ihre linke Fahrspur auf die andere rechte Spur einbog. Das bedeutet, die Klägerin B hatte die Vortrittsregel eindeutig missachtet. Die Busse gegenüber A wurde deshalb aufgehoben. Interessant an dem vorliegenden Fall ist nun, dass sich der vortrittsberechtigte Automobilist A ebenfalls nicht regelkonform verhalten hat, weil er nämlich sein Vortrittsrecht erzwingen wollte. Indem er sich so verhalten hat, und das sogar auf die Gefahr hin, einen Unfall zu verursachen, hat er nach Meinung des Gerichts willentlich eine Gefahr heraufbeschworen und so seine Sorgfaltspflichten verletzt. Das wiederum trug ihm eine Busse ein.

Da gibt es den Artikel 26
Denn zu den bekannten Regeln, zu denen etwa die Beachtung des Vortritts gehört oder die Pflicht, bei Stoppsignalen anzuhalten, kennt das Strassenverkehrsgesetz (SVG) noch die in Artikel 26 festgeschriebene Grundregel. Diese Regel kommt immer dann zum Zug, wenn ein Verkehrsverhalten gefährlich erscheint, ohne dass eine gesetzliche Be-stimmung verletzt wird. Deshalb muss sich jeder-mann im Verkehr so verhalten, dass er andere in der ordnungsgemässen Benützung der Strasse we-der behindert noch gefährdet. Daraus folgt, dass derjenige, der die gesetzlichen Bestimmungen respektiert, zwar berechtigt ist, darauf zu vertrauen, dass sich die übrigen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten. Dieses Vertrauensprinzip gilt allerdings nicht schrankenlos. Wenn sich die Gegebenheiten plötzlich verändern, wird aus dem Vertrauens- ein Misstrauensprinzip. Das Genfer Strafgericht erinnert daran, dass besondere Vorsicht dann angezeigt ist, wenn er-kennbar ist, dass sich ein Strassenbenützer nicht regelkonform verhält, oder wenn die Umstände unklar oder gar verwirrlich sind. Zu denken ist dabei etwa an Radfahrer, die für ihren Leichtsinn bekannt, oder an Kinder, die unberechenbar, oder an ältere Erwachsene, die in ihren Reaktionen langsamer geworden sind. In all diesen Situationen ist erhöhte Vorsicht geboten.

Eine Entdeckungsreise
Die Formel E in Bern, das ist auch eine Entdeckungsreise. Die einen Fans sind erstaunt, dass Felipe Massa, der ehemalige Formel-1-Vizeweltmeister und Pilot des Schweizer Rennstalls Sauber, heute in der Formel E fährt. Andere, vor allem Kinder, wissen seit dem E-Prix von Bern, dass die Schweiz nicht nur Fussball-, Eishockey- oder Schwingstars hat, sondern auch sehr schnelle und erfolgreiche Autorennfahrer. Buben und Mädchen skandieren deshalb während des Rennens wenig überraschend den Namen Buemis. «Und wer ist denn eigentlich der Julius Bär?», will ein Bub von seinem Papa wissen. «Der Julius Bär, mein lieber Junge, der ist nur eine Bank.» – «Aha», antwortet der Bub. Der Stellenwert der Bank ist noch nicht sie hoch wie jener der rennfahrenden Helden.

Es wird nichts Unmögliches verlangt
Umgekehrt verlangt man von den Automobilisten nichts Unmögliches. Man verlangt von ihnen nicht, dass sie sämtliche Gefahren, die im Strassen-verkehr lauern können, unter allen Umständen antizipieren. Wenn keine andere Regel verletzt wurde, kann eine Verletzung der Vorsichtspflicht dem Automobilisten nur dann zu Vorwurf gemacht werden, wenn die aufziehende Gefahr erkennbar war und er sie hätte erkennen können und müssen.

Am Ende wurden beide gebüsst
In diesem Fall hatte der vortrittsberechtigte A vor Gericht eingestanden, er habe gesehen, dass ihm die vortrittsbelastete B den Vortritt verweigern würde. Trotzdem hatte er ihn wissentlich erzwungen. Gleichzeitig hatte er ausserdem zugegeben, dass ein Unfall gerade noch vermieden werden konnte. In diesem Sinn hatte er also eingeräumt, auf seinem Vortrittsrecht beharrt und die Vorsicht missachtet zu haben. Infolgedessen erschien der Entscheid des Gerichts in Bezug auf den Automobilisten A als angemessen. Was die Klägerin B betrifft, wurde sie ebenfalls gebüsst.

2 Kommentare

  1. Man könnte es auch als Ueberholmanöver bezeichnen. oft wird in die kürzere Kolonne gewechselt um einen Zeitvorteil herauszuholen. Man findet dann schon einen Dummen welcher Platz macht. Diese Urteile sind der Verkehrssicherheit
    nicht dienlich.

    • In dieser Situation ist man angehalten Platz zu machen, denn der die Fahrspurwechselnde signalisiert das. Es geht nicht darum, dass das Verhalten des Fahrspurwechselnden beurteilt wird – und je nach Beurteilung macht man Platz oder nicht.
      Wenn man sich täglich im Verkehr bewegt, wird man sehen, dass etliche Manöver sinnarm bis sinnlos sind – Emotional gesteuert oder nie darüber nachgedacht wird, was das Manöver effektiv bringt. Hier wäre Reflexion angebracht. Würde man hier nur noch die dazu fähigen Menschen auf die Strasse lassen, wär das Problem mit der Verkehrsdichte für 1 – 2 Jahrzehnte gelöst. 😉

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