ABGENUTZT BREMST OFT KÜRZER ALS NEU

Eindrückliche Fahrversuche auf den Teststrecken des Forschungs- und Entwicklungszentrums von Michelin gaben uns neue und überraschende Einblicke in die wenig bekannte Welt der Autoreifen.

Kürzere Bremswege auf Nässe von abgenutzten Medium- gegenüber abgenutzten Budget-Reifen sprechen für sich. © Peter Rohrer

Mit welchen Reifen würden Sie lieber von einem unvermittelt hinter einer Hecke hervor über die Strasse rennenden Kind überrascht werden? Mit fabrikneuen Pneus mit 8 mm Profiltiefe oder mit bis an ihre Verschleissgrenze von 1.6 mm abgefahrenen?

Falls Sie spontan «Mit den Neuen natürlich!» triumphiert haben, wären Sie – wie wohl die meisten unter uns – falsch gelegen. Hätten Sie vorher noch gefragt: «Bei Trockenheit oder Nässe?», hätten wir bereits bewundernd den Hut vor Ihrem Reifenwissen gezogen, doch dazu weiter unten mehr …

Testzentrum im Format einer Kleinstadt

Auf den 45 km umfassenden Teststrecken des insgesamt 450 ha grossen Geländes von Michelins Forschungs- und Entwicklungszentrum (R&D: Research and Development) im Industriegebiet Ladoux, knapp zehn Kilometer nördlich von Clermont-Ferrand (F), werden jährlich auf rund 2 Mia. gefahrenen Kilometern 75 000 Tests durchgeführt. Die in 350 unterschiedlichen Berufen arbeitenden 3300 Angestellten des kürzlich neu gebauten Ladoux-R&D-Campus – des mit 67 000 m2 Grundfläche und 320 m Länge grössten Gebäudes der französischen Region Auvergne-Rhône-Alpes – entwickeln 72 % aller neuen Michelin-Reifenprodukte.

Neuer Ladoux-R&D-Campus von Michelin bei Clermont-Ferrand (F). © PR

Intensive Probefahrten bei Michelin

An vier unterschiedlichen Workshops wurden uns Bremsungen auf trockenen und nassen Untergründen sowie mit neuen und abgenutzten Reifen sowohl aus dem Premium- als auch dem mittleren und dem Budgetsegment demonstriert bzw. konnten wir die Testfahrten selbst durchführen.

Beim ersten Workshop ging es um Vollbremsungen auf beregnetem Asphalt aus 95 km/h auf null herunter. Es standen jeweils zwei VW Golf mit abgenutzten Reifen aus dem mittleren sowie dem Billigpreissegment zur Verfügung, und jeder Tester absolvierte unter Anleitung eines Michelin-Instruktors je zwei Fahrten mit jeder Reifenklasse. Am Schluss wurden alle Bremswege des Geschwindigkeitsabschnitts von 80 auf 20 km/h aufgezeichnet. Es zeigte sich, dass mit den Budget-reifen 57.1 bis 45.9 m Verzögerungsdistanz produziert wurden, während es bei den Mittelklassereifen nur 53 bis 41.4 m waren, also rund vier Meter oder eine Wagenlänge oder sogar einen Toten weniger. Welche Reifen von welchem Hersteller die Michelin-Techniker auf unsere Testfahrzeuge aufgezogen hatten, war aufgrund von weissen Flankenabdeckungen nicht zu erkennen. Die besseren Bremseigenschaften der abgenutzten Reifen erklären sich mit den unterschiedlich leistungsfähigen Gummimischungen, welche bei Reifen verschiedener Preiskategorien zur Anwendung kommen.

Vergleiche der Nassbremsleistungen von Budget- und Premium-Reifen. © PR

Anschliessend demonstrierten Michelin-Testfahrer, wie neue Reifen auf Nässe generell kürzer bremsen als abgenutzte. Im Vergleich wurde zusätzlich gezeigt, wie selbst abgenutzte Premiumreifen auf nasser Fahrbahn weniger Bremsweg benötigen als neue Billigreifen.

Selbst ans Steuer durften wir dann abermals beim Austesten der quer gerichteten Haftgrenze auf einer bewässerten Kreisbahn, wo abgenutzte Mittelklassereifen gegen neue Budgetgummis anfuhren. Es ging darum, die maximale Kreisgeschwindigkeit zu erfahren, wo sich das Auto noch stabil auf seiner Bahn halten liess, ohne nach aussen wegzudriften. Ergebnis: Beide Reifenklassen wurden vom Fahrerfeld innerhalb einer Streuung von lediglich 2 km/h (57–59 km/h) um den Ring gepeitscht, was den gleich guten lateralen Grip von teilverschlissenen Mediumreifen gegenüber fabrikneuen Billigpneus veranschaulichte.

Eine letzte Demonstration belegte schliesslich noch das Postulat aus dem zweiten Abschnitt dieses Artikels, wonach nämlich abgenutzte Reifen bei Trockenheit deutlich kürzere Bremswege aufweisen als neue mit unverbrauchtem Profil.

Bernard Delmas, Direktor R&D bei Michelin

Sicherheit kommt durch die Leistungsfähigkeit des Reifens, nicht durch die Profiltiefe.»

 

Eindrückliche Erkenntnisse

Die Sicherheit und die Leistungsfähigkeit von Reifen hängen nur begrenzt und in speziellen Situationen von ihrem Abnutzungsgrad ab – solange sich dieser natürlich mindestens auf dem gesetzlichen Minimum befindet –, sodass man seine Gummis bedenkenlos bis zur legalen Verschleissgrenze von 1.6 mm Profiltiefe herunterfahren kann, auch wenn einem davon von diversen Seiten und mehrheitlich aus offensichtlich kommerziellen Überlegungen abgeraten wird. Die erwünschten Eigenschaften der Pneus sind in einem hohen Mass das Resultat der Reifenkonstruktion sowie der eingesetzten Gummimischung(en).

Michelin bestärkt seine Kunden sogar aktiv darin, ihre Reifen auf das erlaubte Minimum herunterzufahren und gibt an, dass damit pro Fahrzeug im Schnitt alle zwei Jahre ein Reifen eingespart werden kann, was sowohl dem Portemonnaie als auch der Umwelt dient (s. Artikel rechts oben). Der Premiumreifenhersteller setzt somit also nicht auf den schnellen Gewinn durch den Verkauf möglichst vieler Neureifen in kurzer Zeit, sondern denkt gleichermassen ökologisch wie dennoch auch geschäftstüchtig: Lieber ein zufriedener Kunde, welcher sich an guten Reifeneigenschaften plus einer hohen Laufleistung erfreuen durfte und dadurch beim Neukauf der Marke treu bleibt und sogar noch positiv darüber berichtet, anstatt ein unzufriedener Käufer, welcher viel Geld für Premiumpneus auf den Tisch gelegt hat und dies bei (zu) frühem Ersatz, sprich niedriger erzielter Laufleistung, kein zweites Mal tun wird. Sieht nach einer echten Win-win-Situation aus, wo Produktqualität, Kundenzufriedenheit und ökologisches Handeln für einmal Hand in Hand gehen.


Reifeneigenschaften unter Verschleiss

Abnahme des Rollwiderstandes bei zunehmender Abnutzung. © Michelin

Die Eigenschaften von Reifen verändern sich mit zunehmendem Verschleiss. Auf trockener Fahrbahn passiert Folgendes: Der Bremsweg wird kürzer, Rollwiderstand, Abrollgeräusch sowie Treibstoffverbrauch nehmen ab, und der Federungskomfort wird besser.

Erklärung: Bei fortschreitender Abnutzung eines Reifens nimmt die Höhe der Profilblöcke ab. Bei einem neuen Profil und damit hohen Blöcken verbiegen sich diese unter Traktion auf der Lauffläche, sodass die Gummimischung nicht mehr ihre optimale Grip-Leistung erbringen kann. Abgenutzte Reifen haben weniger hohe und damit steifere Profilblöcke, welche sich positiv auf den Rollwiderstand und das Abrollgeräusch auswirken und so zu einem geringeren Treibstoffverbrauch führen. Da der Reifen mit zunehmendem Verschleiss (Gummi-)Masse verliert, wird er natürlich leichter, was dem Federungskomfort zugutekommt. Am besten performt ein Reifen auf trockener Fahrbahn also tatsächlich kurz vor seiner gesetzlichen Verschleissgrenze.

Auf Nässe werden einzig die Aquaplaning-Eigenschaften des Reifens schlechter, da eine niederere Profilhöhe weniger Wasser aus den Flanken des Reifens verdrängen kann, was sich auf den ersten Metern einer Vollbremsung negativ auf den Verzögerungsweg auswirkt. Die restlichen Parameter verbessern sich aber analog den Trockenfahreigenschaften.

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