MEHR SPIELRAUM FÜR RICHTER

Neu: Das Bundesgericht gewährt den Richtern mehr Ermessen, wenn der Lenker nicht mit Vorsatz handelte.

Der Fall war auf den ersten Blick klar. Der Automobilist X fuhr im Mai 2013 zu Beginn des Nachmittags auf der A1 bei Genf in Richtung französischer Grenze.  In der Gemeinde Bardonnex in der Nähe des Zolls war die Geschwindigkeit auf 40 km/h signalisiert. Ein Radargerät mass die Geschwindigkeit von X nach Abzug der Sicherheitsmarge auf 96 km/h. X übertraf damit das vorgegebene Höchsttempo um 56 km/h. Die erste Instanz sprach ihn vom Rasertatbestand frei und verurteilte ihn wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Artikel 90 Absatz 2 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) zu einer Busse von 1500 Franken und zu einer bedingten Geldstrafe.
Der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft appellierten dagegen. Das Genfer Appellationsgericht in Strafsachen lehnte die Beschwerde von X ab und gab der Staatsanwaltschaft Recht. Es sah den Rasertatbestand als erfüllt an und auferlegte X eine bedingte einjährige Freiheitsstrafe. X erhob dagegen Einspruch und gelangte an das Bundesgericht. In seiner Begründung machte X geltend, die Vorschriftssignale seien nicht korrekt aufgestellt worden, weshalb seine Verurteilung ungültig sei.

Nicht korrekt aufgestellte Signale gelten
Das Bundesgericht hält in seinem Entscheid zunächst fest, dass sich die Verkehrsteilnehmer an die Signale und Markierungen halten müssen. Das gelte im Interesse der Verkehrssicherheit auch dann, wenn die Signale und Markierungen nicht vorschriftsgemäss aufgestellt seien. Diese Pflicht basiere auf dem Vertrauensprinzip gemäss Art. 26 Absatz 1 SVG. Eine allfällige Regelwidrigkeit bzw. falsch aufgestellte Signale  erkenne die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer in der Regel nämlich nicht. Deshalb dürfe derjenige, der um ein falsch aufgestelltes Signal wisse, sich nicht vorschriftswidrig verhalten und so die übrigen Verkehrsteilnehmer gefährden, die auf das betreffende Signal vertrauen. Das betreffe insbesondere Geschwindigkeitssignale. Ein  nicht regelkonformes Verhalten sei nur in ganz seltenen Ausnahmefällen erlaubt, nämlich dann, wenn die Anordnungen so offensichtlich fehlerhaft sind, dass sie für null und nichtig erklärt werden müssen.

Nur im Schritttempo
Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass die Signale, welche die Geschwindigkeit auf dem besagten Autobahnteilstück ­einerseits nicht der Abstufung um je 10km/h entsprachen und ihre Aufstellung anderseits nicht durch öffentliche Bekanntmachung und unter Angabe der Rechtsmittel angeordnet worden war. Deswegen, so folgerte Beschwerdeführer X, könne er nicht wegen deren Nichteinhaltung verurteilt werden. Dieser Auffassung widersprach die Vorinstanz und begründete das so: Die Geschwindigkeitsbegrenzung rechtfertige sich auf diesem Autobahnabschnitt in der Nähe des Zollübergangs, da die Autos an dieser Stelle sowieso nur im Schritttempo die Grenze passieren dürfen. Deshalb könne keine Rede davon sein, dass die signalisierte Höchstgeschwindigkeit mit einem derartigen Mangel behaftet sei, dass sie als ungültig betrachtet werden dürfe. Gemäss dem im ganzen Strassenverkehrsrecht geltenden Vertrauensprinzip musste sich der Beschwerdeführer an die signalisierte Geschwindigkeit halten.

Strenge Regeln
In ihren weiteren Ausführungen erinnerten die Bundesrichter an die in Art. 90 Absatz 3 SVG statuierten strengen Regeln. Danach wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder mit Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen.
Absatz 3 dieses Artikels sei in jedem Fall erfüllt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um ein Vielfaches überschritten werde, beispielsweise die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 40 km/h. Diese starre Gesetzesauslegung hielt der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall für unangemessen. Er habe die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h einfach aus Unaufmerksamkeit und nicht aus Absicht nicht eingehalten. Namentlich wehrte sich der Beschwerdeführer dagegen, durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder gar mit Todesopfern eingegangen zu sein. Zudem sei der infrage stehende Autobahnabschnitt dreispurig  und mit einem Pannenstreifen angelegt. Darüber hinaus sei das Verkehrsaufkommen zum Zeitpunkt der Überschreitung schwach gewesen, sodass ein Risiko schlicht nicht bestanden habe.
Dieser Auffassung hat das Bundesgericht nun Recht gegeben. Es gebe Überschreitungen der vorgegebenen Geschwindigkeit, die unter Umständen den objektiven Tatbestand des Rasens erfüllten, nicht aber den subjektiven. In solchen Fällen müsse der Richter einen gewissen Ermessensspielraum haben, der es ihm ermögliche, in besonderen Fällen bei einer Geschwindigkeitsübertretung von der Erfüllung des subjektiven Tatbestands abzusehen.

Im vorliegenden Fall sei die Vorinstanz von einer unwiderlegbaren Vermutung ausgegangen, welche die Rechtsprechung einst etabliert hatte, die aber heute als überholt gelte und nicht mehr gesetzeskonform sei. Sie habe nicht auf die konkreten Umstände abgestellt und nicht geprüft, ob der Beschwerdeführer effektiv vorsätzlich die Verkehrsregeln verletzt und das Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder gar mit Todesopfern in Kauf genommen habe. Es sei nämlich nicht gerade üblich, dass auf einer sich in tadellosem Zustand befindenden Autobahn die Geschwindigkeit auf 40 km/h begrenzt sei.
Deshalb hiess das Bundesgericht die Beschwerde teilweise gut und wies die Vorinstanz an, den Fall erneut zu prüfen, ob der subjektive Tatbestand des Rasens erfüllt sei.
Damit hat das Bundesgericht einer Forderung entsprochen, die in der Praxis schon oft erhoben worden war. Dass nämlich mit  den starren gesetzlichen Regelungen dem Einzelfall nicht genügend Rechnung getragen werden kann und so ein vernünftiges Urteil verhindert wird. (Urteil des Bundesgerichts 6B_700/2015 vom 14. September 2016).

 

Dr. Raoul Studer

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