DISKREPANZ: GESETZ VS. REALITÄT

Eine europäische Studie zu Ansichten und Verhaltensweisen der Automobilisten fördert erstaunliche Ergebnisse zu Tage.

Die Tradition der «Caves ouvertes» (offene Weinkeller) verlangt von den Automobilisten ein gesundes Mass an Selbstdisziplin bei der Weindegustation, bevor sie sich dann wieder hinters Steuer klemmen. © Marc Audar

Siebzehn europäische Länder haben im 2015 erstmals dieselbe Studie über Ansichten und Verhaltensweisen von Automobilisten durchgeführt. Die Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) hat die Studienresultate im Rahmen von «Status 2016», dem jährlichen Bericht zur Unfallursachen-Forschung in der Schweiz, veröffentlicht. Aufhorchen lässt das Ergebnis, dass jeder fünfte Automobilist zugibt, schon mal angetrunken Auto gefahren zu sein.
«Haben Sie innerhalb der letzten 30 Tage mit einem über dem zulässigen Wert liegenden Alkoholpegel ein Fahrzeug gelenkt?» Dies war eine der Fragen, welche in den 17 europäischen Ländern — darunter die Schweiz — 1000 Personen gestellt worden war. Durch einen Vergleich entsteht noch keine Wahrheit, aber er macht nachdenklich — und die Antworten lösen Betroffenheit aus, zeigen sie doch die Differenz, welche oft zwischen dem Gesetz und der alltäglichen Praxis besteht.
Im europäischen Mittel haben 12 % der Befragten zugegeben, dass sie bewusst schon einmal mit mehr als dem erlaubten Alkoholhöchstwert gefahren seien. In einem Dreiergespann an der Spitze dieser unrühmlichen Statistik befinden sich an erster Stelle Frankreich mit 22 % reuigen Alkoholsündern, dann Belgien mit 18 % und an dritter Stelle bereits die Schweiz mit 17 %. Dies enthüllt, als Schnitt aus diesen drei Ländern, nahezu jeden 5. Autofahrer. Mit Ausnahme von Frankreich verhalten sich all unsere direkten Nachbarn Italien (13 %), Österreich (10 %) und Deutschland (9 %) vernünftiger als die Eidgenossen. Am (schmeichelhaften) Ende der Skala figurieren Schweden (2 %) und schliesslich Finnland (1 %). Beiderorts gilt eine Nulltoleranz-Grenze.

Die 0.5 ‰ sind bei uns noch zu wenig bekannt
Wie lässt sich das traurige helvetische Resultat erklären? Vielleicht waren die Schweizer bei ihren Antworten ja einfach ehrlicher als die andern …
Gemäss einer Umfrage der BfU ist der Grenzwert beim erlaubten Blutalkoholgehalt von 0.5 ‰, welcher seit dem 1. Januar 2014 in Kraft ist, bei 20 % der Befragten wenig bis gar nicht bekannt. Gleichzeitig empfinden 16 % der Befragten diesen Grenzwert als zu lasch — speziell die Frauen (22 %) und Jugendlichen von 18 bis 20 Jahren (25 %).
Aber fangen wir nochmals von vorne an, mit einer anderen Frage, welche den europäischen Automobilisten vorgelegt worden war. Immer noch innerhalb der Alkohol-Thematik wurde untersucht, wie hoch von den Probanden die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt würde, in eine Kontrolle zu geraten. Hier liegt die Schweiz (19 %) nun fast exakt im europäischen Mittel von 18 %. Die Polen erwarten Kontrollen am ehesten (44 %), gefolgt von  den Franzosen (29 %). Hier sei verraten, dass Deutschland mit 8 % weit hinten figuriert und Dänemark mit 2 % das Schlusslicht bildet.
In welchem Land gibts denn nun aber wirklich die häufigsten Kontrollen? Antwort: In Polen mit einer Wahrscheinlichkeit von 47 %, gefolgt von Finnland (37 %). Mit 14 % steht die Schweiz deutlich unterhalb des europäischen Mittels von 19 % da. In Deutschland liegt die Quote bei 8 % und in Grossbritannien ist die Kontroll-Wahrscheinlichkeit mit nur 2 % am geringsten.

Und wie fahren Sie?
Andere Fragen bezogen sich auf die Fahrdisziplin. Die europäische Umfrage versuchte zu ergründen, wie viele Autofahrer im Jahr 2015 innerorts schneller als erlaubt unterwegs gewesen waren. Die Eselsmütze musste sich Finnland mit 85 % aufsetzen lassen, gefolgt von Deutschland und Dänemark mit je 76 %. Mit 64 % platziert sich die Schweiz nahe des europäischen Mittels von 68 %.
Gravierender, da der Verstoss in der Schweiz mit Führerscheinentzug geahndet werden kann, ist das zu nahe Auffahren auf den Vordermann. Hierbei handelt es sich in der Ahndung um eine knifflige, da häufig relativ subjektive Angelegenheit. In der Essenz sind die Ergebnisse hier in Europa mit 60 % einigermassen gleichmässig verteilt, wobei die Schweiz 2 Prozentpunkte darüber rangiert.
Innerhalb der 17 untersuchten Länder ergab sich bei der Frage, wie viele Autofahrer schon mal wegen Übermüdung ihre Fahrt unterbrochen hatten, mit im Schnitt 68 % keine grosse Wertespanne. Obwohl die Schweiz im Schnitt mitschwimmt (67 %), fällt auf, dass in den Niederlanden nur gerade 50 % der Automobilisten Pausen praktizieren. Letzter Punkt beim Vergleich des Fahrverhaltens: Benutzung des Handys am Steuer. Innerhalb der letzten 12 Monate haben 35 % der befragten Schweizer ihr Handy schon mal am Steuer in die Hand genommen. Ausser Finnland mit 63 % hält sich der europäische Durchschnitts-Automobilist grosso modo an das Handy-Verbot (38 %).
Wie lassen sich nun diese Untersuchungsresultate in der Unfallursachen-Forschung abbilden? Die BfU veröffentlicht jährlich eine weltweite Zusammenstellung der tödlichen Verkehrsunfälle mit Privatfahrzeugen pro Land, letztmals für das Jahr 2014. Die Werte bezeichnen die Anzahl Toten pro Million Einwohner in 31 Ländern. Ausserhalb Europas werden nur Neuseeland (40), die USA (37), Kanada (28), Australien (24), Israel (10) und Japan (8) erfasst. In Europa stehen nur die Niederlande (11) und Island (9) besser da, als die Schweiz (12). Unsere direkten Nachbarn schreiben dagegen deutlich höhere Zahlen mit Frankreich (53), Deutschland (42), Italien (25) und Österreich (22).

Von Marc Audar

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