«Wir müssen die Wahlfreiheit der Nutzer bewahren»

Als Präsident des Autoweltverbandes FIA bewegt er sich oft im Motorsport. Dieser fördert auch die Nachhaltigkeit und Sicherheit im Verkehr.

Die Formel 1 im Wandel: FIA-Präsident Mohammed bin Sulayem (r.) mit Red-Bull-Teamchef Christian Horner.

Mitte Dezember 2021 löste Mohammed bin Sulayem aus Dubai den Franzosen Jean Todt nach über zwölf Jahren als Präsident des Autoweltverbands FIA ab. Die ersten 18 Amtsmonate von bin Sulayem sind reich an Ereignissen. Im Interview mit der AUTOMOBIL REVUE blickt der ehemalige Rallyefahrer auf Erfolge zurück und spricht über künftige Herausforderungen – nicht nur jene auf Rennstrecken.

AUTOMOBIL REVUE: Was sind die wichtigsten Veränderungen, die Sie in Ihrer Rolle als FIA-Präsident bereits umgesetzt haben?

Mohammed bin Sulayem: Seit Beginn meiner Amtszeit waren wir ehrlich in Bezug auf die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. In diesem Sinne arbeite ich mit meinem Team daran, die FIA in eine neue Ära zu führen. Unsere Ziele sind es, den Verband transparenter, kooperativer und vielfältiger zu machen. In meinem zweiten Jahr als Präsident weiss ich, dass wir durch Beharrlichkeit eine wahrhaft globale, finanziell tragfähige und wissensorientierte FIA schaffen können. So haben wir beispielsweise unser Betriebsdefizit bereits deutlich reduziert und unsere erste Geschäftsführerin ernannt. Wir sind sogar auf dem Weg, im nächsten Jahr eine ausgeglichene Bilanz zu erreichen. Darüber hinaus haben wir der Stärkung der Regionen Priorität eingeräumt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass die Mitglieder im Mittelpunkt unserer Entscheidungsprozesse stehen.

Der Sitz des Autoweltverbandes ist zwischen Paris und Genf aufgeteilt. Planen Sie diesbzüglich irgendwelche Veränderungen?

Unser doppelter Sitz ist in der Tat eine einzigartige Gelegenheit und eine bereichernde Erfahrung für unsere Föderation. Sowohl Paris als auch Genf haben spezifische und sich ergänzende Vorteile. Paris ist die Wiege der FIA und ihr historisches Zentrum. In dieser Stadt befindet sich auch ein Grossteil der Teams, die sich mit Mobilität, Kommunikation und öffentlichen Angelegenheiten befassen. Was Genf betrifft, so schätzen wir den Standort als Drehscheibe für internationale Organisationen und Sportverbände. Darüber hinaus sind viele unserer Mitarbeiter in Genf ansässig, insbesondere diejenigen, die für unsere Sportaktivitäten zuständig sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese duale Struktur uns Zugang zu mehr Partnern und Interessengruppen verschafft.

Da die EU-Abgeordneten für das Ende von Verbrennungsmotoren ab 2035 gestimmt haben, werden die Autohersteller sicherlich weniger in diese Art von Fahrzeugen investieren. Welche Auswirkungen hat das auf die Königsklasse des Autorennsports, auf die Formel 1?

Die Formel 1 hat sich mit der Einführung von Hybridlösungen im Jahr 2014 bereits auf nachhaltigere und effizientere Antriebsstränge umgestellt. Diese neuen Antriebsstränge sind durch die Kombination aus herkömmlichen Verbrennungsmotoren mit Elektromotoren und Batterien ja so konzipiert, dass sie sparsamer im Kraftstoffverbrauch sind und weniger Emissionen verursachen als herkömmliche Motoren. Darüber hinaus haben die technischen Teams der FIA unermüdlich an der Umsetzung ­eines neuen Regelwerks gearbeitet, das ab 2026 gelten soll. Nach diesen künftigen Regeln wird der Anteil der elektrischen Energie in den Antriebssträngen auf fast 50 Prozent steigen, und der Kraftstoff muss zu 100 Prozent nachhaltig sein.

Die FIA organisiert eine grosse Anzahl von Meisterschaften. Welche Anpassungen werden diese erfahren?

Unser Verband analysiert und passt unsere Motorsportaktivitäten ständig an und berücksichtigt dabei die technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Trends. Wie bereits erwähnt, haben wir bereits alternative Energien wie Hybrid- und Elektroautos sowie nachhaltige Kraftstoffe eingeführt. Darüber hinaus haben wir Rennserien wie den FIA-Eco-Rally-Cup für Strassenproduktionsfahrzeuge mit Elektromotor hinzugefügt.

Mit Laborfunktion: Der Motorsport beschleunige den Übergang zur Nachhaltigkeit, sagt Ex-Rallyepilot bin Sulayem, hier im Gespräch mit dem achtfachen Rallye-Weltmeister Sébastien Ogier.

Was ist der beste Ansatz zur Förderung der Nachhaltigkeit in der Automobilbranche? 

Heutzutage sind Innovation, Zusammenarbeit und Transparenz von entscheidender Bedeutung, da die Automobilindustrie die Verantwortung dafür trägt, ehrgeizige Klimaziele zu erreichen. Um eine nachhaltige Mobilität zu fördern, müssen wir einerseits das Transformationspotenzial aller vorhandenen Technologien ausschöpfen und andererseits Innovationen fördern und kosteneffiziente Lösungen definieren. Um diesen Übergang zur Nachhaltigkeit wieder erfolgreich zu gestalten, müssen neue Formen der Mobilität erschwinglich sein und den Bedürfnissen der Nutzer entsprechen. Mit anderen Worten: Wir müssen die Wahlfreiheit der Nutzer bewahren. Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir keine bestimmten Technologien oder Einschränkungen vorschreiben, beispielsweise in Bezug auf die Nutzung von Privatfahrzeugen.

Welche Rolle spielt der Motorsport bei der Energiewende?

Um den Übergang zur Nachhaltigkeit zu beschleunigen, wollen wir auch die Laborfunktion des Motorsports nutzen. Tatsächlich hat unser Sport seine Rolle bei der Förderung von Innovationen, bei der Entwicklung von Strassenfahrzeugen und bei der beschleunigten Einführung neuer Technologien unter Beweis gestellt. In diesem Sinne ist der Motorsport Teil der Lösung.

Ist die individuelle Mobilität umweltschädlicher als die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel?

Als Verband der weltweit führenden Mobilitätsorganisationen sind wir dafür, den Nutzern mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Mit anderen Worten: Wenn wir eine sicherere, nachhaltigere, erschwinglichere, zugänglichere und integrativere Mobilität aufbauen wollen, dürfen wir Mobilitätslösungen nicht gegeneinander ausspielen. Stattdessen müssen wir Verkehrssysteme aufbauen, die verschiedene Lösungen integrieren und den Nutzern dabei helfen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Multimodalität ist daher für die Verbesserung der Lebensqualität von entscheidender Bedeutung. Die Bevölkerung muss in der Lage sein, verschiedene Verkehrsmittel einfach zu kombinieren und sich so für die effizienteste, erschwinglichste und sinnvollste Lösung zu entscheiden, um von A nach B zu gelangen. Diese Verkehrsmittel sollten nicht nur private Personenwagen, öffentliche Verkehrsmittel und geteilte Mobilität umfassen, sondern auch Mikromobilität, Radfahren und Gehen.

Die Verkehrssicherheit ist eine der Prioritäten der FIA. Wo liegen für ein Land wie die Schweiz die grössten Verbesserungsmöglichkeiten?

Die Verkehrssicherheit betrifft uns alle, überall. Die grössten Herausforderungen können sich von Land zu Land unterscheiden, aber die Verkehrssicherheit bleibt in allen Ländern ein zentrales Thema. Gemeinsam mit unseren Mitgliedern setzen wir uns für die Schaffung einer sicheren Mobilitätskultur ein, die die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten senken kann. Einige neue Risiken müssen in Betracht gezogen werden. Die Aufmerksamkeit muss darauf gerichtet werden, wie die Strasse in einer Zeit, in der immer mehr Verkehrsträger nebeneinander existieren und schwächere Verkehrsteilnehmer, insbesondere Radfahrer, stark gefährdet sind, besser aufgeteilt werden kann. Die Bereitstellung einer angemessenen Infrastruktur an der richtigen Stelle kann sich positiv auf die sichere Nutzung des Strassenraums auswirken.

Wie steht es mit der Ablenkung am Steuer?

Ablenkung am Steuer ist ein wichtiges Thema, ebenso wie die Verbesserung der Verkehrssicherheit in Organisationen und Unternehmen. Um Letzteren zu helfen, hat unser Verband kürzlich ­einen Verkehrssicherheitsindex eingeführt. Damit sollen Unternehmen und Organisationen in die Lage versetzt werden, ihren Sicherheitsfussabdruck zu messen und zu verbessern, indem sie eine ähnliche Methodik wie beim CO2-Fussabdruck anwenden. Es handelt sich um eine innovative Methodik, die allen Organisationen zur Verfügung steht, um ihre Leistung und die Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter zu verbessern. Ich empfehle allen Organisationen nachdrücklich, diesen Index zu übernehmen.  Interview: Philippe Monnier

Zur Person

Neben Erfolgen im Rallyesport weist der bald 62-jährige in Dubai aufgewachsene Mohammed bin Sulayem Bachelor-Abschlüsse der Betriebswirtschaft an der American University in Washington und der britischen Ulster University vor. Er war daran beteiligt, die Formel 1 nach Abu Dhabi zu holen. Neben seiner Verbandstätigkeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten und im Nahen Osten war er von 2008 bis 2013 und nach seiner Wiederwahl ab 2017 Vizepräsident für Sport und Weltratsmitglied des Autoweltverbands FIA.

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