Spaghetti-Western

Ein amerikanisches Genre, produziert von Italienern. Das klappte schon bei Filmen ganz gut. Und tut es auch bei Autos. Der Jeep Avenger hat sogar schon seinen Oscar gewonnen.

Ein modernes Automobil kann schon lange nicht mehr nur einem Herkunftsland zugewiesen werden. Einige Fahrzeuge laufen zwar noch im Heimmarkt vom Band, verfügen aber bekanntlich über Komponenten aus aller Welt. Und nicht wenige Modelle verbindet mit der alten Heimat höchstens das Image. So kommt selbst eine uramerikanische Marke wie Jeep heute sehr multi­national daher, wie das Beispiel des Avenger zeigt. Der Sitz des Stellantis-Konzerns, zu dem Jeep mittlerweile gehört, liegt in den Niederlanden. Vom Band läuft der Avenger in Polen. Und zwar im Werk von Fiat, einem weiteren Mitglied von Stellantis – aus Italien.

Jetzt sitzt man also in einem Jeep und weiss, dass er wie schon der Renegade mehr Europäer als Amerikaner ist. Fans der Marke dürften das nicht ganz so nice finden, vermutlich stört es sie sogar noch mehr als der Antrieb, der im Jeep Avenger vollelektrisch ist. Aber spätestens die Tatsache, dass lediglich die Vorderräder angetrieben werden, ist für den Markenenthusiasten wohl zu viel des Guten. Allerdings lebt kein Grossserienhersteller von seinen Fans allein, viele Marken gingen sogar daran zugrunde, dass sie nicht für die Masse, sondern den Kenner produzierten.

Car of the Year 2023

Ist der Jeep Avenger also Massenware? Im Grunde schon, denn er eignet sich für ziemlich viele Kundengruppen. Als kompaktes SUV mit knapp über vier Metern Länge trifft er den europäischen Nerv der Zeit, bietet vorne reichlich Platz für zwei und hinten etwas wenig davon für drei. Dazu einen Kofferraum, der mit 355 Litern Volumen für die meisten Alltagsbedürfnisse ausreicht. Der SUV-typisch bequeme Zu- und Ausstieg rundet das gelungene Gesamtpaket ab. Kein Wunder, heimste der Avenger bei der Wahl zum Car of the Year 2023 unter den 57 Jurymitgliedern aus 22 europäischen Ländern viel Zustimmung ein und setzte sich gegen namhafte Konkurrenten wie den VW ID Buzz oder den Kia Niro durch.

Für so einen Erfolg braucht es natürlich etwas mehr als nur ein adäquates Format, ansprechende Platzverhältnisse und eine bequeme Einstiegshöhe. Zum Beispiel einen guten Antrieb. Über einen solchen verfügt der Jeep Avenger denn auch. Obwohl – oder gerade weil – er elektrisch ist, passt der 115 kW (156 PS) starke Motor ideal zu diesem Fahrzeug. Er bietet in jeder Lebenslage genug Leistung, verbraucht mit 14 kWh/100 km auch dank des überschaubaren Leergewichts von etwas über 1.5 Tonnen nicht zu viel und verrichtet seine Arbeit konzeptbedingt leise und harmonisch. Weil der Avenger schon die weiterentwickelte Common-Modular-Platform von Stellantis und gleichzeitig den optimierten E-Antriebsstrang mit mehr Leistung (115 statt 100 kW) und leicht grösserer Batterie (54 statt 50 kWh) nutzt, ist selbst die Reichweite alltagstauglich. Die 398 WLTP-Kilometer schafft zwar niemand, der öfter übers Land und die Autobahn fährt, 350 liegen aber immer drin.

Die Kraftübertragung erfolgt wie erwähnt ausschliesslich über die Vorderräder. Eine 4×4-Variante wäre zweifellos noch attraktiver (und ziemte sich für die Marke ohenhin), aber es geht auch ohne. Immerhin verfügt der Avenger im Vergleich zu anderen vollelektrischen Nutzern einer Stellantis-Plattform neben den Standardfahrmodi Eco, Normal und Sport über zusätzliche wie Sand, Schlamm und Schnee. Diese konnten wir mangels passender Bedingungen nur beschränkt testen, ­einen Allradantrieb können sie aber nicht ersetzen – die ausgefeilten Systeme von Jeep, wie sie Wrangler, Gladiator oder Grand Cherokee besitzen, sowieso nicht. Wer partout nicht ohne 4×4 leben will, darf jedoch hoffen: Letzten Herbst präsentierte Jeep am Pariser Autosalon den Avenger 4×4 Concept.

Elektro kann, muss aber nicht sein

Ansonsten vermisst man am Avenger nichts. Ausser man braucht mehr Platz (für ein Fahrzeug dieser Grösse reicht dieser aber aus, und es gibt dazu viele Ablagemöglichkeiten), bevorzugt durchs Band hochwertige Materialien (die sind im Avenger eher einfach, dafür aber gut verarbeitet und lassen sich einfach reinigen) und noch mehr Assistenten (die getestete Topversion Summit bietet mit dem Paket ADAS+ serienmässig autonomes Fahren auf Level 2, aber unter anderem keinen Spurwechselassistenten). Wer das Geräusch eines Verbrennungsmotors vermisst, kann derweil trotzdem zu einem Avenger greifen. Für alle, die keinen Stromer wollen, ist der Italo-Amerikaner mit einem 1.2-Liter-Turbobenziner mit 74 kW (100 PS) und Sechsgang-Schaltgetriebe verfügbar, in der mittleren Ausstattungsvariante Altitude ab 29 990 Franken. So richtig gerne bietet Jeep diese Version aber offenbar nicht an, denn es gibt sie aktuell bloss ab Lager – und das Assistentenpaket ADAS+ ist weder für Geld noch gute Worte dabei.

Bleiben wir also beim Avenger Elektro, der den Auto-Oscar Car of the Year schliesslich auch als Stromer gewonnen hat. Sein durchaus gefälliges Äusseres sorgte dabei für einige Zusatzpunkte, sein Sprachverständnis war hingegen sicher kein Bonus. Der Sprachassistent ist nämlich unterdurchschnittlich talentiert und verweigert zuweilen jeglichen Gehorsam. Wer also beispielsweise navigieren will, gibt die Adresse besser gleich via Touchscreen ein, um sich nicht ärgern zu müssen. Das «Hey Jeep» genannte Sprachbedienungsystem könnte zwar prinzipiell viele Wünsche erfüllen. Neben der GPS-Führung ans Fahrziel zum Beispiel auch einen Wechsel des Radiosenders, den Anruf eines Kontakts im Telefonbuch des Smartphones oder selbst die Anpassung der Temperatureinstellung der Klimaanlage. Es erwartet dafür aber ganz genaue und mit bestimmten Begriffen formulierte Anweisungen. Wer nicht zig Sätze auswendig lernen möchte, benutzt zur Bedienung von Infotainment, Klima und anderem besser seine Hände und Finger. Das zumindest ist dank logisch aufgebauter Menüstruktur sowie mehrerer echter Knöpfe und Tasten ein Kinderspiel.

Überraschend agil

Ziemlich unkompliziert ist auch das Fahrerlebnis. Nicht nur was den Antrieb angeht, kann der Avenger überzeugen, sondern mit seiner gesamten Auslegung. Das Fahrwerk präsentiert sich sauber abgestimmt und versprüht auf der Strasse fast so etwas wie Dynamik. Das ist umso bemerkenswerter, als der Avenger doch relativ hoch aufbaut und dank 20 Zentimeter Bodenfreiheit selbst bei grobsteinigen Feldwegen keine Panik hinter dem Lenkrad aufkommen lässt. Auf solchen Wegen (und allen anderen schlechten Strassen) bleibt das Auto zudem stets komfortabel, der Spagat zwischen ­einer Prise Sportlichkeit und ausreichend Alltagskomfort gelingt hier sehr gut. Die leichtgängige, exakte Lenkung ist ebenfalls tadellos, die hervorragend verzögernden Bremsen sind es genauso.

Tadel verdient wie so oft bei Elektroautos die Preisgestaltung. Unser Testwagen kommt inklusive Zusatzausstattung auf rund 45 000 Franken, unter 39 490 Franken geht laut Preisliste nichts. Das ist eine recht hohe Gage für einen Vertreter dieses Segments, Preisträger hin oder her. Fairerweise muss man aber anfügen, dass ein Jeep selten ein Sonderangebot ist. Elektroautos sind es auch (noch) nicht. Und dass der Avenger in Sachen Herkunft und Technik kein echter Jeep im traditionellen Sinne ist, mag Fans der Marke stören, alle anderen, die bereit sind, für das kernige Image etwas mehr hinzublättern, bekommen aber ein gutes Auto ohne echte Schwächen. Zu guter Letzt: Wer am Design, nicht aber am Antrieb gefallen findet, dem steht der Avenger mittlerweile ja auch als Benziner zur Verfügung. Zwar mit weniger Leistung, dafür deutlich günstiger. 

Testergebnis

Gesamtnote 75/100

Antrieb

Konzeptbedingt schwingt der elektrische Avenger hier weder obenauf noch fällt er ab. Er fährt sich so, wie sich ein Stromer eben fährt: harmonisch, linear und ruhig. Die Leistung ist nicht überragend, dafür bleibt der Verbrauch im Rahmen. Ein No-go für Jeep-Fans: nur Frontantrieb.

Fahrwerk

Mit einem gelungenen Spagat zwischen Dynamik und Komfort gelingt dem Avenger das Kunststück, mehrere Vorlieben aufs Mal zu bedienen. Das Gleiche gilt für die Lenkung, welche zwar leichtgängig ist, aber doch genug Rückmeldung und Präzision bietet.

Innenraum

Vorne gibt es genug Platz und bequeme Sitze, hinten wird es für Grössere etwas eng. Die Materialauswahl ist nicht vom Feinsten, aber alles wirkt robust und sauber verarbeitet.

Sicherheit

Die verfügbaren Assistenten gehen für dieses Segment in Ordnung und funktionieren gut, andere Modelle (vor allem Stromer) bieten mehr. Das Fahrverhalten ist narrensicher, die Bremsen sind hervorragend.

Budget

Der grösste Avenger-Makel ist sein Preis. Für ein Auto dieser Grösse sind mindestens 40 000 Franken zu viel. Es gibt günstigere Alternativen, sogar innerhalb der Modellreihe: Der Benziner kostet unter 30 000 Franken.

Fazit 

Ein Car of the Year, das seiner Auszeichnung gerecht wird. Viele Stärken, keine echten Schwächen – ausser dem Preis.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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