Reduce to the Mini

Mit dem kompakten Elektro-SUV #1 hat Smart eine neue Dimension erreicht. Das Ziel: Mini in den Schatten zu stellen. So viel sei verraten: Es braucht noch ein wenig Feinschliff.

Smart mit dem Slogan «Reduce to the max» ist passé. Das ist der erste Gedanke, wenn man den Smart #1 umkreist. Das B-Segment-SUV ist in der Tat der grösste Smart aller Zeiten. 1.57 Meter beträgt der Längenunterschied zwischen dem Ur-Smart (2.70 m) und dem Smart #1 (4.27 m), aber diese 157 Zentimeter wiegen Lichtjahre im Vergleich zur ursprünglichen Vision von Nicolas Hayek. Der Unternehmer aus Biel BE, der in den 1990er-Jahren die Idee für das Swatch-Mobil hatte, wollte ein sehr kleines, umweltfreundliches und preiswertes Stadtauto entwickeln. Das Endprodukt, das stark von Mercedes beeinflusst wurde, war weit von seiner ursprünglichen Vision entfernt, und Hayek verkaufte seine Anteile an das schwäbische Unternehmen, sobald das Auto im November 1998 auf den Markt kam.  

22 Jahre später, im Jahr 2020, folgte der nächste Wechsel bei Besitzverhältnissen, Firmensitz und Philosophie. Mercedes gründete mit Geely ein Joint Venture für das Management von Smart, an dem die deutschen und chinesischen Partner zu gleichen Teilen beteiligt sind. Smart Automobile hat seinen Hauptsitz in China, die Autos werden dort auch hergestellt. Der chinesische Konzern kümmert sich um die technische Seite, während die Deutschen für das Styling zuständig sind. Das sieht man auch, denn der #1 – ausgesprochen Hashtag one – hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den anderen Mercedes-Modellen, vor allem am Heck. 

Diese Veränderung der Identität geht mit einer neuen Strategie einher. Smart baut immer noch elektrische Stadtautos, aber sie sollen mehr Spass machen, grösser und hochwertiger sein. Erinnert Sie das nicht an etwas? Der Mini ist es. Mercedes hat es satt, dass BMW, der Eigentümer von Mini, diesen Markt mehr oder weniger alleine besetzt.

Dass der #1 den Anti-Mini verkörpern soll, wird beim Öffnen der Türen deutlich. Die Designer haben sich einen schicken und zugleich verspielten Innenraum ausgedacht, der mit zahlreichen hintergrundbeleuchteten Details geschmückt ist. So werden die Türgriffe, die Lüftungsdüsen, aber auch die Lautsprecher der Marke Beats durch LED in anpassbarer Farbe hervorgehoben. Bei unserem Vorserienmodell pulsierte das Licht der Lautsprecher, wenn der Tempomat aktiviert wurde – eine von vielen Ungereimtheiten, die bis zur Serienproduktion behoben werden sollten.

Qualität auf zwei Ebenen

Der massive Mitteltunnel vorne fällt ins Auge, nicht nur wegen seiner Kontrastfarbe. Er verbindet sich mit dem Armaturenbrett und ragt durchgehend zwischen Fahrer und Beifahrer auf. Dieser Tunnel bietet eine Ladefläche für das Smartphone und Ablagefächer auf zwei Ebenen. Wenn man den Blick nach unten richtet, entdeckt man die Kehrseite der Medaille, weit entfernt von der Pracht der oberen Etage: Die Kunststoffe sind mittelmässig, und die Verarbeitung ist nicht sehr sorgfältig.

Das Platzangebot hinten ist für ein Auto dieser Klasse üppig. Zwei Erwachsene können sich hier wohlfühlen, Kopf, Schultern und Knie haben viel Bewegungsraum. Und trotzdem findet auch noch ein Kind zwischen den beiden Grossen Platz, ohne sich mit seinen Beinen an einem Mitteltunnel zu verfangen. Um so viel Platz zu bieten, musste Smart jedoch Abstriche beim Kofferraumvolumen machen, das nur 323 Liter beträgt. Das ist etwas weniger als die 350 Liter des Jeep Avenger, aber viel weniger als die 434 Liter, die der Peugeot E-2008 bietet. Glücklicherweise kann man dank der hervorragenden Flexibilität einige Liter an Ladevolumen gewinnen, indem man die Sitzbank nach vorne schiebt oder die Rückenlehnen umklappt. Vorne gibt es einen Frunk – einen zweiten Kofferraum, der jedoch in Anführungszeichen gesetzt werden muss: Mit einem Fassungsvermögen von 15 Litern reicht er höchstens für das Ladekabel.

Das Auge von Peking

Statt auf den Kofferraum hat Smart auf Technik gesetzt. Die Ausstattungsliste ist für dieses Segment beeindruckend: LED-Matrix-Scheinwerfer, eine Armada von Fahrhilfen – auf die wir gleich eingehen werden – und ein Infotainmentsystem mit künstlicher Intelligenz. Smart hat diesem virtuellen Assistenten das Aussehen eines kleinen Fuchses verliehen, der in der rechten unteren Ecke des grosszügigen 12.8-Zoll-Bildschirms mit einem Ball spielend auf Anweisungen wartet. Das ist zwar niedlich, aber das Füchslein schüttelte mehrmals den Kopf, weil es unsere Befehle oder das gewünschte Ziel nicht verstand.

Der Touchscreen enthält alle Bedienelemente, leider auch die der Klimaanlage. Die Komplexität der Menüs erfordert eine gewisse Einarbeitungszeit. Das führt dazu, dass man während der Fahrt länger nach einer Option sucht, als es gut ist. Wobei das nicht unbeobachtet bleibt: Wenn der Fahrer den Blick zu lange von der Strasse abwendet, ruft ihn ein schrilles Warnsignal zur Ordnung.

Damit kommen wir zum grössten Manko des Smart #1: die unvollkommene Kalibrierung und die aufdringlichen Fahrassistenten. Überschreitet man die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, warnt ­eine Stimme und erinnert an das aktuelle Limit. Das ist ein wenig inquisitorisch und zudem irritierend, denn die elektronischen Augen täuschen sich oft beim wirklich geltenden Tempolimit. Noch schlimmer ist es, wenn der adaptive Tempomat aktiviert ist, denn dann übernimmt dieser automatisch die Geschwindigkeitsbegrenzungen, und die werden eben nicht selten falsch erkannt. Diese Funktion ist glücklicherweise abschaltbar. Zudem werden die Nerven auf eine harte Probe gestellt, weil das System gelegentlich unerwartet bremst, vor allem in der Nähe einer Autobahnausfahrt.

Die adaptive Geschwindigkeitsregelung hat aber noch mehr Ungereimtheiten auf Lager. Das System ist untrennbar mit dem aktiven Spurhalteassistenten verbunden. Prinzipiell hält der Smart  #1 die Spur allein und sehr präzise. Das Problem ist, dass der Fahrer mit ständigen Korrekturen am Lenkrad zu kämpfen hat. Bei so viel Widerstand gibt er schliesslich auf, legt seine Hände passiv auf das Lenkrad und überlässt dem Smart die Kontrolle. Das ist kontraproduktiv, da der Fahrer auf langen Fahrten müde und abgelenkt wird. Das wiederum ruft den Müdigkeitswarner auf den Plan, der in Folge vermehrt Warnmeldungen ausgibt.

Selbst wenn das teilautonome Fahren deaktiviert ist, tritt der #1 manchmal mitten in einer Kurve auf die Bremse, wenn das Auge Pekings – pardon, das elektronische Auge – die Geschwindigkeit für unangemessen hält. Es ist zu hoffen, dass Smart dies bei den Serienmodellen durch eine feinere Einstellung des teilautonomen Fahrsystems korrigiert. Der Hersteller sollte seinen Kunden auch die Möglichkeit geben, die Spurhalteunterstützung vom adaptiven Tempomaten abzukoppeln.

Erstaunliche Reisequalitäten

Abgesehen von diesen Mängeln ist der Smart ein erstaunlicher Reisebegleiter. Die Geräuschdämmung und die Absorption von Strassenunebenheiten sind bemerkenswert. Der Komfort entspricht dem eines Autos der gehobenen Klasse. Dafür muss man in schnell gefahrenen Kurven ein Wanken der Karosserie in Kauf nehmen, ohne dass dies ein Nachteil wäre. Der #1 ist trotz der 200 kW (272 PS), die ihm zur Verfügung stehen, ohnehin kein Sportwagen. Mehr noch als die Beschleunigung – der Sprint von 0 auf 100 km/h dauerte 6.3 Sekunden – macht der kräftige Durchzug das Fahren sehr geschmeidig und angenehm.

Beim Verbrauch zeigte sich der Smart konsumfreudiger, als es die WLTP-Angaben versprechen. Die rund 300 Kilometer Reichweite auf Basis der AR-Normrunde (22.7 kWh/100 km, ermittelt bei tiefen Temperaturen) ermöglichen aber Ausflüge weit über das Revier des #1 hinaus, er ist mehr als ein Stadtauto. Die 66-kWh-Batterie lässt sich, glaubt man Smart, in 30 Minuten von fünf auf 80 Prozent ihrer Kapazität aufladen. Ein Versprechen, das in der Realität nicht haltbar war, es dauert etwa 45 Minuten, bis 80 Prozent der Ladung wiederhergestellt sind. Schade ist auch, dass das Navigationssystem nicht wie beispielsweise bei Tesla einen echten Routenplaner enthält, der anhand der Fahrzeug- und GPS-Daten sagt, an welcher Ladesta­tion man anhalten muss und wie lange man braucht, um das Ziel zu erreichen. Das System zeigt lediglich an, wo sich Ladesäulen an der Route befinden, mehr nicht. Die Entwickler haben sich jedoch von Tesla inspirieren lassen, was den kleinen 9.2-Zoll-Bildschirm vor dem Fahrer angeht: Auf ihm ist der Smart auf seiner Spur dargestellt sowie die Fahrzeuge, die sich um ihn herum bewegen. Das Head-up-Display wird als Informationsquelle für wichtige Fahrinformationen genutzt und hat eine Qualität, die in diesem Segment selten ist. 

Angesichts des technologischen Niveaus, das der Smart #1 bietet, scheint der Preis von 40 990 Franken gut angelegt. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Serienautos all die Mängel ablegen, mit denen das Vorserienmodell noch zu kämpfen hatte. Noch ist das Niveau des Smart #1 nicht Mercedes-like. Und damit muss sich Mini (noch) nicht fürchten. 

Testergebnis

Gesamtnote 71.5/100

Antrieb

Es gibt eine leichte Verzögerung beim Tritt auf das Fahrpedal. Ansonsten sind Beschleunigung und Durchzug aber bemerkenswert.

Fahrwerk

Das Fahrwerk ist auf Komfort ausgerichtet und absorbiert Unebenheiten der Strasse sehr gut. In schnellen Kurven machen sich deshalb einige Karosseriebewegungen bemerkbar.

Innenraum

Der Smart ist überraschend geräumig, das Cockpit hat ein angenehmes Design. Die Bedienung ist aber gewöhnungsbedürftig. Der Kofferraum bietet nur beschränkt Platz, es fallen einige harte Kunststoffe auf.

Sicherheit

Bei unserem Vorserienmodell waren die zahlreichen Fahrhilfen schlecht kalibriert, sie reagierten manchmal zu aufdringlich oder unerwartet.

Budget

Im Vergleich zu anderen Elektroautos in diesem Segment ist der Smart #1 günstig, was auf die Produktion in China zurückzuführen ist.

Fazit 

Wenn man die Summe aus Leistung, Reichweite, Platzangebot und Technologie an Bord berücksichtigt, ist der Smart ein sehr gutes Angebot für den geforderten Preis. Dieses Urteil steht jedoch noch unter dem Vorbehalt, dass im Serienmodell die Mängel nicht mehr auftreten, die der Vorserien-Smart noch aufwies.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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