Würdiger Nachfolger?

Über ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Nissan mit dem Leaf das erste massentaugliche Elektroauto auf den Markt gebracht hat. Der Ariya ist jetzt die Nummer zwei.

Mit dem Leaf wurde Nissan zum Pio­nier der Elektromobilität und hatte bereits 2010 ein komplett alltagstaugliches und bezahlbares Elektroauto im Angebot. Während Jahren belegte der Japaner die Position des meistverkauften E-Autos. Seit der Lancierung des Leaf sind aber inzwischen bald 13 Jahre vergangen, was in der automobilen Entwicklung einer halben Ewigkeit entspricht. Der Leaf wurde vom Tesla Model 3 von der Spitze verdrängt, der als erstes E-Auto überhaupt die Millionenmarke knackte. Bereits ist mehr als jeder zehnte weltweit verkaufte Neuwagen ein Elektroauto, Tendenz noch immer zunehmend. Jeder grosse Hersteller ist auf den Zug aufgesprungen oder kämpft sogar dafür, sich an dessen Spitze stellen zu können. Aber bei Nissan ging lange Zeit gar nichts mehr in diesem Bereich. Bis jetzt.

Mit dem Ariya melden sich die Japaner zurück. Und da sich auch das Kaufverhalten der Kunden in den vergangenen 13 Jahren verschoben hat, ist Nissans zweites EV keine Kompaktlimousine mehr, sondern ein SUV. Die Geschichte von Nissan ist nahezu identisch mit derjenigen von Renault. Der französische Hersteller hatte mit dem Zoe schon vor über einem Jahrzehnt ein erfolgreiches Elektroauto auf dem Markt und liess sich sehr viel Zeit, bis er mit dem Megane E-Tech letztes Jahr einen Nachfolger herausbrachte. Die Parallelen gehen noch weiter, denn der Nissan Ariya baut auf derselben Plattform auf wie der Megane, der CMF-EV. Da hören die Gemeinsamkeiten aber auf, denn anders als in anderen Konzernen gibt es bei der Allianz keine Gleichteilepolitik. Viel mehr nimmt man vom Partner, was man brauchen kann, und passt es auf die eigenen Bedürfnisse an. Beim Nissan Ariya heisst das: Grosse Batterie trifft auf simple Fahrwerkstechnik. In der kleinen Ausführung fasst der Akku 63 kWh, in der grossen sind es 87 kWh. Unser Testwagen ist mit der 87-kWh-Batterie und einem einzelnen Elektromotor an der Vorderachse ausgestattet. Dieser leistet 178 kW (242 PS) und liefert ein Drehmoment von maximal 300 Nm.

Lieber weit als schnell 

Die Auslegung ist damit klar: Es soll nicht primär schnell gehen, sondern vor allem weit. Der Sprint aus dem Stand auf 100 km/h dauert so auch 7.6 Sekunden, die Reichweite gibt Nissan mit bis zu 533 Kilometern an. Ja, vor der Zeit der Elektroautos waren 7.6 Sekunden bis Tempo 100 schon ganz ordentlich, heute sind sie eher Mittelmass, sogar im Segment der Kompakt-SUV. Zumal der Wert im Test auf feuchtem Asphalt in unerreichbarer Ferne lag, da die Vorderachse einfach keinen Grip aufzubauen vermochte. Aber die Beschleunigung allein macht ein Auto noch nicht sportlich. Mit seinen ausladenden Abmessungen und dem Leergewicht von rund 2.2 Tonnen ist das japanische SUV ein ganz schönes Trumm. In Kurven neigt es zu deutlichem Untersteuern. Die Dämpfer sind relativ straff abgestimmt, was einerseits hilft, Wankbewegungen der Karosserie in Kurven zu verhindern, andererseits aber etwas Fahrkomfort kostet. Das ist bei tiefen Geschwindigkeiten kein Problem, aber auf der Autobahn lassen sich Fahrbahnunebenheiten sehr deutlich spüren und bringen die Karosserie ins Schwingen. Ansonsten ist die Lärmdämmung aber einwandfrei, und Abrollgeräusche werden mehrheitlich gefiltert. Bei Autobahntempo sind es vor allem die Windgeräusche an den Aussenspiegeln, die sich bemerkbar machen.

Die Allradversion mit 225 kW (306 PS) und 600 Nm, die bereits in den nächsten Monaten auf den Markt kommen soll, löst übrigens das Problem des Untersteuerns so gut wie halt möglich. Da schickt die Elektronik bei Bedarf ordentlich Drehmoment an die Hinterachse und drückt das Heck um die Bögen. Aber eben, nicht jedes Auto muss sportlich sein, und der Ariya bringt andere Qualitäten mit.

Wie üblich bei Stromern und kalten Temperaturen ist die werkseitig angegebene Reichweite unmöglich zu schaffen, dennoch gibt sich der Ariya hier wenig Blösse. So kommt er mit einem Verbrauch von 21.1 kWh/100 km auf der AR-Normrunde auf eine durchaus alltagstaugliche Reichweite von rund 410 Kilometern. Die maximale Ladeleistung von 130 kW klingt im ersten Moment nach wenig, allerdings kann der Ariya mit der 87-kWh-­Batterie diese über einen relativ langen Zeitraum halten, sodass die Ladedauer nicht spürbar länger wird als bei manchen Konkurrenten, die mit höheren Spitzen auftrumpfen. Eine automatische Konditionierung der Batterie gibt es nicht, wer einen Ladestopp plant, kann die Batterie aber über einen entsprechenden Menüpunkt auf die bevorstehende Schnellladung vorbereiten. Wenig hilfreich ist, dass diese Funktion tief in den Menüs des Infotainments versteckt ist und dem Durchschnittsfahrer wohl für immer verborgen bleibt.

In einer Zeit, in der Autos Unmengen an Funktionen erhalten, die verstanden und genutzt sein wollen, ist eine übersichtliche Gestaltung des User-­Interfaces eine Schlüsselkomponente. Hier hat Nissan noch Nachholbedarf. Die Menüstruktur ist verschachtelt, nicht immer ist klar, was über das Infotainment und was über das Lenkrad und Kombiinstrument bedient werden muss oder kann. Zudem sind die deutschen Übersetzungen der Texte nicht selten bis zu Unverständlichkeit abgekürzt und entstellt. Auch die rustikale Grafik will nicht so ganz zum Rest des Ariya passen, denn der ist äusserst hübsch, hochwertig und futuristisch ausgeführt. Die Knöpfe am Armaturenbrett und auf der Mittelkonsole sind als hinterleuchtete Elemente direkt in die Holzflächen integriert und reagieren auf Druck mit einer leichten Vibration. Das wirkt edel, hat aber gegenüber echten Tasten den Nachteil, dass zu deren Betätigung der Blick trotzdem von der Strasse genommen werden muss. Die Mittelkonsole lässt sich elektrisch in der Länge verstellen, und auch das Handschuhfach öffnet und schliesst auf Knopfdruck. 

Allradantrieb zum guten Preis

Mit einer Länge von 4.6 Metern ist der Ariya nicht so gross, wie er auf den ersten Blick aussieht. Und trotzdem ist er geräumig, vorne wie hinten. Auf den Vordersitzen sorgt der Verzicht auf eine durchgehende Mittelkonsole für ein gutes Raumgefühl, allerdings ist die Sitzposition vor allem für grosse Menschen nicht ideal. Schon ab einer Grösse von 1.80 Metern berührt man mit dem Kopf fast den Dachhimmel, und für den linken Arm fehlt eine geeignete Auflage in der Türverkleidung. In der zweiten Reihe sind Knie- und Kopffreiheit trotz der elegant abfallenden Dachlinie gut. Der Kofferraum fasst eher knappe 478 Liter unter der Laderaumabdeckung, bei umgeklappter Sitzbank sind es bis zu 1775 Liter. Eine Durchreiche in der Rückbank gibt es nicht, dafür einen zweiten Ladeboden. 

13 Jahre nach dem Leaf ist der Ariya nicht mehr der Pionier, der sein Vorgänger einst war. Der Ariya reiht sich ein in ein inzwischen breites Angebot aus Elektro-SUV. Das tut er aber ganz gut, wie auch die Wahl zum Finalisten von The Car of the Year 2023 beweist. Dafür sorgten auch der attraktive Preis sowie die simple und vor allem moderate Aufpreispolitik. So kostet die Basisvariante mit Frontantrieb, 160 kW (218 PS) und 63-kWh-Batterie 53 990 Franken. Für unseren Testwagen werden mindestens 63 990 Franken fällig, als Optionen gibt es ausschliesslich die 20-Zoll-Felgen, das Nappaleder und die Metalliclackierung. Richtig spannend wird es dann aber darüber: Für den Ariya E-4orce mit 225 kW (306 PS), Allradantrieb und 600 Nm Drehmoment steigt der Preis um bloss 4000 Franken. Es ist ein moderater Aufpreis für eine deutlich bessere Fahrdynamik in allen Situationen. 

Testergebnis

Gesamtnote 71/100

Antrieb

Der Nissan Ariya schafft auch im Winter Reichweiten von über 400 Kilometern, die Ladegeschwindigkeit ist aber begrenzt. Leistung und Drehmoment sind ausreichend.

Fahrwerk

Das Fahrwerk des 2.2 Tonnen schweren SUV ist eher auf der straffen Seite und gibt Unebenheiten der Fahrbahn an die Insassen weiter.

Innenraum

Das Ambiente mit Leder und Holzimitat ist einladend, die durchscheinenden Knöpfe sind eine Neuheit. Die Bedienung ist teilweise störend.

Sicherheit

Keine Kritikpunkte bei der Sicherheit: Alle Assistenzsysteme sind serienmässig mit dabei und die Bremsen kräftig.

Budget

Der Basispreis des Nissan Ariya ist guter Durchschnitt, spannend ist vor allem der Aufpreis von bloss 4000 Franken für den Allradantrieb (und damit 300 Nm mehr Drehmoment).

Fazit 

Dass man den Nissan Ariya immer am Pionierstatus des Leaf misst, dem er nicht gerecht werden kann, ist vielleicht nicht ganz korrekt, denn auch Nissans zweites E-Auto macht nichts wirklich falsch – von einigen ergonomischen Patzern einmal abgesehen.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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