Sanftes Wesen

Viel Zurückhaltung statt ­Extrovertiertheit. Taugt der GV70 von Genesis auch als gediegener, emissionsfreier Flüsterer?

Die sprühenden Funken rasender Elektronen umwehen ab sofort auch den GV70 von Genesis. Doch bei aller epischer Wort-Schaumschlägerei – sind wir von der an eine Damenpflegelinie erinnernden Farbe dazu inspiriert worden? – hat das SUV mit E-Antrieb Handfestes zu bieten. Zunächst gilt es aber festzuhalten, dass der Electrified genau dies ist: Ein für Verbrennungsmotoren konzipiertes Auto, das nun einen Elektroantrieb erhalten hat. Da könnte man sich zunächst darüber ereifern, dass hier der Kompromiss gewiss stets mitfahre. Und tatsächlich muss sich solch ein Auto natürlich den direkten Vergleich mit seinen Internal-Combus­tion-Engine-Geschwistern gefallen lassen. Da haben es die als reine E-Fahrzeuge konzipierten Neukonstruktionen etwas einfacher. 

Die Dinge tun

Ein anderer Hersteller hätte sich womöglich dazu genötigt gefühlt, mit einem Elektro-SUV, also in jener Kategorie, von der man sich die grössten Erfolge erhofft, ein optisches Leitobjekt von besonderem Stellenwert zu erschaffen. Es wäre womöglich ein hypermoderner Knaller geworden, massgebend für alle darunter liegenden Modelllinien. Das ist der Electrified GV70 womöglich sogar, aber er verzichtet darauf, mit Vordergründigkeiten schnelle Aufmerksamkeit zu generieren. Was Genesis aussen mit «athletic elegance» bezeichnet, auf Deutsch schlicht «sportlich-elegant», soll gemäss eigener Zielgruppendefinition urbanen, progressiven Paaren gefallen. Das erklärt in gewissem Sinn die beim Testwagen in sehr hellen Tönen gehaltene Innenausstattung. Einen Familienwagen würde man wohl anders konfigurieren. Hat man aber darin Platz genommen, gefällt einem das Innere des GV70 genauso wie sein Äusseres. Genesis nennt es die Schönheit des weissen Raums und sieht diesen als Attribut für Freiheit und Anti-­Stress-Element – was zu funktionieren scheint.

Die Entscheidung von Genesis, in dieser Klasse ­eine Multi-Motorenplattform zu verwenden, ist nur oberflächlich betrachtet mutlos, es gibt ja auch einen 2.5-Liter-Benzinmotor. Die Antriebstechnologie aber steht an vorderster Front der aktuellen E-Auto-Entwicklung. Der Electrified GV70 vertraut auf die angesagte 800-Volt-Technologie, effektiv beträgt die Betriebsspannung 697 Volt. Möglich sind damit ultrakurze Ladezeiten bei entsprechend leistungsfähigen Schnellladern. Bei maximal 350 kW (!) beträgt die Ladezeit von 10 bis 80 Prozent gerade einmal 18 Minuten. In der Praxis ist dies wirklich nur dann nötig, wenn es gilt, lange Strecken am Stück zu bewältigen. In unserem Test reichte die Leistung einer Wallbox mit elf Kilowatt für die meisten Bedürfnisse. Zwar nimmt diese Art des Ladens bereits stattliche sieben Stunden in Anspruch, wer aber jede sich bietende Lademöglichkeit nutzt, kommt wegen der Reichweite nie in Verlegenheit. Es genügt bereits, den Wochenendeinkauf so zu gestalten, dass das Auto die Stunde im Parkhaus des Grossverteilers an der Gratis-Ladesäule parkiert bleibt. Wer nur zur Arbeit pendelt, lädt sein Auto nachts an der Staubsaugersteckdose in der Garage. Dennoch aber dürfte die Batteriekapazität des Elektro-Genesis GV70 mehr bieten als die 77.4 kWh brutto. Diese reichen für real rund 350 bis 380 Kilometer mit Reserve. Aber eben, die Schnelllademöglichkeit kompensiert dies zu weiten Teilen.

Getrieben oder gediegen

Je ein Motor pro Achse treibt das leer über 2.3 Tonnen schwere Auto an. Für die geradezu brachiale Beschleunigungszeit von unter fünf Sekunden von null bis hundert ist weniger die Gesamtleitung von 490 PS als vielmehr das Drehmoment von je 350 Nm quasi ab Stillstand entscheidend, typisch E-Auto eben. Allerdings setzt Genesis noch ­einen oben drauf. Mittels Boost-Taste ist für zehn Sekunden noch mehr Leistung abrufbar. Eine Notwendigkeit ist diese gewiss nicht, aber als Argument für Freunde und Familie, um die Durchzugskraft des Stromers zu unterstreichen, taugt es eindrücklich. Während es also einen starken Nacken braucht, um die kurzen Beschleunigungsmomente ohne heftiges Kopfnicken auszuhalten, punktet der GV70 wiederum mit seinem sanften Wesen, wenn kein Hooligan am Steuer sitzt. Elektronisch sich selbst den Gegebenheiten anpassende Dämpfer verhelfen zu einem hervorragenden Fahrkomfort. Dazu werden die Passagiere von perfekt geschnittenen Sitzen vorne und hinten eingelullt. Dabei sitzt es sich hinten nicht ganz so grosszügig wie in einer Direktionslimousine. Aber wie war das mit der Zielgruppe? Progressive Paare? Dafür reicht es mehr als aus.

Unterwegs liegt der Electrified satt auf der Strasse, die Lenkung dürfte aber etwas mehr Rückmeldung geben. Toll ist es, sich nur mit dem Gaspedal durch die Landschaft zu schwingen. Das Bremsmoment beim Rekuperieren fühlt sich an wie die Fahrt mit einem hochverdichteten Motorrad, bei dem man bei moderater Fahrweise vor einer Kurve mit blossem Gashahn-Zudrehen ordentlich Geschwindigkeit abbauen kann. Einzig wenn er frisch geladen ist sollte man sich bewusst sein, dass dies bei voller Batterie nicht funktioniert und keine Bremswirkung generiert wird. Dann ist etwas  Vorsicht geboten.

Zur Sicherheit trägt die gut gelöste Rundumsicht im Head-up-Display bei. Eine Grafik verrät, aus welcher Richtung sich dem Auto etwas nähert. Das funktioniert sowohl mit dem Totwinkelwarner wie auch beim Ausparkieren oder beim Ein- respektive Abbiegen. Weniger freundlich wirken die zahlreichen Piep- und Warntöne, die der Genesis  unterwegs von sich gibt. Die Fülle der Sicherheitsfeatures ist aber kaum zu toppen, dazu gehört auch ein Airbag zwischen den Passagieren, der verhindern soll, dass sich beim Seitenaufprall die vorderen Passagiere gegenseitig die Köpfe stossen. Aber keine Sorge, wir haben das Auto intakt zurückgegeben. Wirkliche Schwächen im täglichen Umgang gibt es wenige. Vielleicht fühlen sich Grossgewachsene auf den relativ hohen Sitzen, als sässen sie auf einem Küchenstuhl, aber der Sitzkomfort macht dies, wie beschrieben, mehr als wett.

Mit einer realistischen Reichweitenangabe vor dem Start fährt es sich weitgehend stressfrei im Genesis Electrified GV70. Dabei wirkt der Wagen sehr routiniert konzipiert und gebaut. Er ist wohl ein Angebot für Kenner, dennoch braucht man kein ausgesuchter Experte dafür zu sein. Im Gegenteil, neben dem konkurrenzfähigen Preis winkt dem Genesis-Käufer ein Rundum-sorglos-Paket bis hin zum Bring- und Holservice, wenn der Wagen zum Service muss. Ansonsten gilt: Reinsitzen und losfahren. 

Testergebnis

Gesamtnote 82/100

Antrieb

Kraftvoll und typisch geräuscharm glänzt der Antrieb mit einer Vehemenz, die einem im Boost-Modus im wahrsten Sinn den Atem verschlägt.

Fahrwerk

Von sportlich-straff bis komfortabel-sanft reicht das Spektrum. Die ­Lenkung ist etwas gefühllos. Der Gesamtcharakter passt bestens zum Auto.

Innenraum

Hübsch in den Details, hochwertig in den Materialien. Das Aluminium ist echt, der Genesis GV70 gut verarbeitet. Es fehlt an nichts.

Sicherheit

Die Sicherheitsfeatures sind dermassen vollständig, dass eigenlich nur noch eines nicht in der Ausstattungsliste vermerkt ist: der Schutz engel.

Budget

Nicht mit dem Preis allein will Genesis als junge Marke in der Schweiz punkten, sondern mit Services. Das Gesamtpaket ist attraktiv.

Fazit 

Wer nicht aller Welt sofort kundtun möchte, dass er elektrisch fährt, sich ein Auto der gehobenen Klasse leisten kann und generell nicht allzu extrovertiert unterwegs ist, der – oder die! – ist mit dem Genesis Electrified GV70 bestens bedient. Als wirklich einziger Kritikpunkt scheint die Batterie mit ihren 77.4 kWh etwas knapp bemessen. Aber sonst gibt sich der Koreaner wenig Blösse. Und Farben – wie bei unserem Testwagen – sind bekanntlich Geschmackssache.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

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