Ein skurriles Juwel

1994 erprobte ­Ferrari eine ungewöhnliche Anordnung von zwölf Zylindern, indem man zwei V6-Motoren diamantförmig übereinander platzierte. Es blieb beim Prototyp.

Kein flacher Sechszylinder! Die grossen Zylinderköpfe können irreführend sein. Hinter ihnen verbergen sich gemeinsame Brennräume für je zwei Zylinder.

Zwischen Ferrari und Zwölfzylinder-Motoren besteht eine innige Beziehung. Von Beginn an und bis heute bilden edle V12-­Motoren das Herzstück der Marke. Sie sind für Ferrari das, was für Chanel die Num-
mer 5 ist: ein Muss, ein Identitätsmerkmal, dessen Wurzeln zu den Ursprüngen der Marke zurückreichen. Dabei wurden die Zylinder in Maranello nicht immer in der traditionellen V-Form angeordnet. Mehrmals wich Ferrari vom ursprünglichen Konzept, das von Gioachino Colombo stammte, ab. Im Jahr 1971 zum Beispiel ordnete man in Maranello die zwölf Zylinder im 365 GT4 BB flach an. Über 20 Jahre lang, bis zum 512 TR von 1991, wurden die Limousinen von Ferrari von einem Boxer im Heck angetrieben. Dann dauerte es nochmal einige Jahre, bis im Jahr 1994 die Ferrari-Ingenieure eine noch exotischere Anordnung der zwölf Zylinder ausprobierten: die Diamantform.

Sie werden sich fragen, was damit gemeint ist, denn die Bezeichnung diamantförmig findet sich in keinem Lehrbuch des Motorbaus. Dennoch beschreibt sie wohl am besten die revolutionäre Anordnung der Zylinder, die Ferrari testete: Dabei sind zwei V6-Motoren quasi übereinandergestapelt, wobei der obere umgedreht wird, sodass die Kurbelwelle oben liegt. Beide V6 haben einen gemeinsamen Zylinderkopf, und der Motor besitzt nur sechs Brennkammern – eine für jeweils zwei Zylinder. Wenn man sich die sechs Einspritzdüsen (drei pro Seite) und die Breite des Motors ansieht, könnte man meinen, es handle sich um einen Sechs­zylin­der-­Boxer. Auch wir wären fast darauf hereingefallen und glaubten, Ferrari habe im Land von Porsche gewildert. Doch der angebliche Scoop war keiner, schon die Aufschrift «DiV6» auf dem Zylinderkopf hätte uns eines Besseren belehren müssen. Damit begann eine aufwändige Recherche, im Netz findet man ausser einiger alter und vager Forenbeiträge nicht viel über diesen Antrieb, der alles auf den Kopf stellt.

Ein kreativitätsförderndes Umfeld

Da es an zuverlässigen Informationen mangelt, suchen wir an der Quelle: Die Ingenieure Alessandro Marchetti und Roberto Roncaglia, die unter der Leitung von Ennio Ascari am geheimnisvollen Prototyp gearbeitet haben, erzählen uns mehr über den Motor. Die Idee zum 4.6-Liter-Doppel-V6 entstand bei Ferrari Engineering, einer eigenständigen Firma unter dem Logo des steigenden Pferdes, die zwischen 1988 und 1995 bestand. Die dort beschäftigten Ingenieure tüftelten logischerweise vor allem für Ferrari. Sie arbeiteten jedoch auch im Dienst externer Unternehmen, und zwar in den unterschiedlichsten Bereichen. So beispielsweise für den berühmten Fahrradhersteller Colnago, für die ­Nasa, Riva Motoscafi (Motorboote) und Cagiva. «Die Atmosphäre war sehr förderlich für die Entwicklung von Ideen wie der des DiV6-Motors», sagt Alessandro Marchetti, «denn die Arbeitsweise war sehr zweckorientiert.» Die Männer präsentierten den Fortschritt ihrer Arbeit einem gewissen Paolo Martinelli, der von 1994 bis 2006 die Motorenabteilung der Scuderia Ferrari leitete. Er war der Mann, der die ruhmreichen Jahre von Maranello in der Formel 1 einläutete, als seine V10-Motoren sechs Konstrukteurs- und fünf Fahrertitel (zwischen 1999 und 2004) errangen. Martinelli fiel also die Aufgabe zu, Ennio Ascari, dem erfindungsreichen Geist hinter dem DiV6, über die Schulter zu schauen. «Da ein neuer Ferrari immer schneller sein musste als der vorherige, hatten wir dieses Projekt gestartet, um die Längsausdehnung des Motors zu verringern und mehr Platz unter der Motorhaube zu gewinnen», sagt Roberto Roncaglia. Ferrari Engineering arbeitete also an ­einer alternativen Lösung zum V12 F116B, der unter der Motorhaube des 456 GT pulsierte.

Doch die Ingenieure stiessen schon bald auf Hindernisse. Mitte der 1990er-Jahre wurden die Katalysatoren eingeführt, und da der DiV6 an sich bereits sehr hoch baute, führte das zu Problemen. Die Motorhaube hätte zur Unterbringung der Katalysatoren angehoben werden müssen – bis in die Mitte der Windschutzscheibe. Das Projekt wurde verworfen, noch bevor sich die Ingenieure mit den Auspuffkrümmern oder den Ansaugrohren beschäftigen konnten, da der F135A noch mit weit grösseren Problemen zu kämpfen hatte. «Die stark vergrösserte Form der Brennkammer bedeutete, dass die Zündkerzen nicht optimal platziert werden konnten, um das Benzin-Luft-Gemisch zu entzünden», sagt Roberto Roncaglia. «Wir stellten auch fest, dass der jeweils von einem Zylinder ausgeübte Schub asymmetrisch war.» So hätte Ferrari mindestens auf eine Doppelzündung zurückgreifen müssen, eine Lösung, auf die auch Alfa Romeo bei seinen Twinspark-Modellen setzte, um das Problem zu beheben.

Fatales Problem mit der Abdichtung

Nebst der ungleichmässigen Verbrennung gab es ein noch grösseres Problem, das die Entwicklung des F135 DiV6 im Keim erstickte: der Blow-by. Dieser Begriff meint eine unzureichende Abdichtung der Kolben, wobei Verbrennungsrückstände am Kolben vorbeiströmen und ins Kurbelgehäuse dringen. Bei einem herkömmlichen Motor wird dies durch die Kolbenringe verhindert. Doch der DiV6 war eben kein herkömmlicher Motor, die bauchige Form des Brennraums erforderte eine dreieckige Kolbenform. Die Ringe mussten weiter unten platziert werden, unterhalb des Kolbenbolzens und somit offenbar zu tief. Rückstände von unverbranntem Benzin und Abgasen konnten entlang der Pleuelstange nach unten dringen (oder nach oben, wenn man vom oberen V6 spricht) und landeten schliesslich im Kurbelgehäuse. «Dieses Problem blockierte die weitere Entwicklung, denn der Motor konnte wegen des hohen Drucks nicht laufen», erklärt Alessandro Marchetti, der sich noch an die ersten Versuche, den DiV6 auf dem Prüfstand zum Leben zu erwecken, erinnert. «Es wurden neue Teile mit Dichtungen am Kolbenbolzen entworfen, um den Blow-by zu verringern», sagt Marchetti. «Leider kamen sie nie zum Einsatz.»

Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen wogen die Probleme des DiV6 und seine Komplexität deutlich schwerer als die Vorteile seiner Kompaktheit. Hinzu kam, dass er zumindest in den frühen Phasen der Entwicklung nicht mehr Leistung entfaltete als der V12 des Ferrari 456, der als Referenz diente. Der Doppel-V6 hatte 415 PS, während der F116B eine Leistung von 442 PS erreichte. Allerdings gab es einen wichtigen Unterschied, der dem DiV6 zur Ehre gereicht: Die spezifische Leistung – ein Wert, der für Ferrari von grösster Bedeutung ist – war mit 90 PS pro Liter höher als die 80 PS/l des 5.5-Liter-Motors aus dem 456. Es sollte noch acht Jahre dauern, bis Ferrari mit dem F133E-Motor im 575M Maranello (2002) einen V12 mit einer ähnlichen Literleistung wie der des DiV6 bauen sollte. Ein Beleg dafür, dass der Erfindungsreichtum der Ingenieure keineswegs Spielerei war, sondern durchaus Anerkennung bei dem beharrlichen Streben nach Leistung verdient. So gewagt der DiV6 auch sein mochte.

1 Kommentar

  1. Dass Kolbenbolzen weniger gut dichten als Kolbenringe mag vorerst erstaunen.
    In diesem Zusammenhang kommt mir ein alter Professorenwitz in den Sinn, der überhaupt kein Witz ist.
    Professor: „was dichtet den Kolben im Zylinder?“
    Student: „Die Kolbenringe“.
    Professor: „falsch, es ist das Oel zwischen den Kolbenringen und einer Seitenwand der Nut bzw. zwischen den Kolbenringen und dem Zylinder“.
    Beim Kolbenbolzen funktioniert dies offensichtlich nicht.

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