Fahrlässige Fahrerflucht ist ein Tatbestand!

KEINE AUSREDE Das Bundesgericht bestätigt in seinem jüngsten Urteil, dass ein Automobilist auch wegen fahrlässiger Fahrerflucht verurteilt werden kann.

In einem richtungsweisenden Urteil bestätigt das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung: Danach kann derjenige Automobilist, der seine Fahrt fortsetzt, nachdem er einen Verkehrsunfall verursacht hat und ihn nicht bemerkt haben will, wegen fahrlässiger Fahrerflucht, oder juristisch korrekt: Führerflucht, verurteilt werden. Im vorliegenden Fall hatte Autolenker X im Juli 2017 zum Überholen eines Motorrades und ­eines Autos mit Wohnanhänger angesetzt. Kurz bevor er die Höhe des Motorradlenkers erreicht hatte, setzte dieser ebenfalls zum Überholen an, worauf es zu einer seitlichen Kollision kam. Der Motorradfahrer und seine Mitfahrerin wurden verletzt, der Motorradfahrer zog sich einen Schlüsselbeinbruch zu und seine Beifahrerin eine Ellbogenfraktur. Der Autolenker setzte seine Fahrt fort, ohne für Hilfe zu sorgen oder die Polizei zu benachrichtigen. Er erklärte sein Verhalten damit, dass er die seitliche Kollision weder gesehen noch gehört habe und auch den Sturz des Motorradfahrers nicht. Dafür wurde X schuldig gesprochen. Mit dem Schuldspruch wollte sich X nicht abfinden und zog bis vor Bundesgericht.

Pflichten des Autofahrers
Nachdem das Bundesgericht an die Pflichten bei einem Unfall erinnert hatte, befasste es sich mit der Frage, ob der Vorwurf der Fahrerflucht gegenüber X erhoben werden kann, nachdem dieser den Unfall nicht bemerkt haben will. Grundsätzlich sieht das Gesetz vor, dass alle am Unfall Beteiligten verpflichtet sind, sofort anzuhalten und in zumutbarem Rahmen für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen (Art. 51 des Strassenverkehrsgesetzes SVG).

Ist nur Sachschaden entstanden, darf man auf den Beizug der Polizei verzichten und ein Unfallprotokoll aufnehmen und unterzeichnen. Hat es keine Verletzten gegeben, ist ein Automobilist an einer derartigen Lösung interessiert, um eine Busse oder einen Führerausweisentzug zu vermeiden.

Aber Achtung: Oft ist der Beizug der Polizei notwendig, auch wenn keine Verletzten zu beklagen sind. Das ist dann der Fall, wenn einer der beteiligten Fahrer dies wünscht. Das gilt auch bei Schäden (Zaun, Auto) eines unbeteiligten Dritten, der nicht erreicht werden kann.

Eine Frage der Fahrlässigkeit
Entgegen einer landläufigen Meinung reicht es nicht, die Visitenkarte unter die Scheibenwischer eines Fahrzeugs zu klemmen, das auf einem Parkplatz oder in einem Parkhaus ärgerlicherweise beschädigt worden ist. Ist der Eigentümer abwesend, ist die Polizei zu informieren. Ausserdem müssen bei Verletzungen, auch bei geringfügigen, alle beteiligten Personen, ob schuldig oder nicht, Hilfe leisten, die Polizei verständigen und am Unfallort bleiben, um bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Es sei denn, sie seien so schwer verletzt, dass sie selbst Hilfe benötigen.

Die Nichtbeachtung einer dieser Pflichten ist ein Gesetzesverstoss, der strafrechtlich geahndet wird. Die Strafe reicht von einer Busse, etwa bei Sachschaden, bis zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bei Fahrerflucht, wenn es Opfer gibt (Art. 92 Abs. 2 SVG). Im vorliegenden Fall befasste sich das Bundesgericht mit der schwerwiegendsten Form dieser Verstösse, nämlich dem Nichtanhalten, der Nichtbenachrichtigung der Polizei, der unterlassenen Hilfeleistung gegenüber den Verletzten bei einem Unfall, in den man involviert ist, also der Fahrerflucht mit Opfer. Die Bundesrichter hatten zu entscheiden über den fahrlässigen
Charakter der Fahrerflucht, nachdem X behauptet hatte, den Unfall weder gesehen noch gehört zu haben.

Das Bundesgericht erinnerte in seiner Begründung daran, dass auch die fahrlässige Handlung strafbar ist, wenn es das SVG nicht ausdrücklich anders bestimmt (Art. 100 Ziff. 1 SVG). Dann führten die Richter weiter aus, Fahrlässigkeit liege immer dann vor, wenn eine Kollision objektiv ganz klar wahrnehmbar gewesen sei. Nicht ausschlaggebend ist dabei, inwiefern X die Kollision hören konnte. Im vorliegenden Fall ist wesentlich, ob der Zusammenstoss aufgrund der Intensität und der Position der Fahrzeuge wahrnehmbar war. Die Vorinstanz hatte diese Fragen willkürfrei bejaht.

Autofahren verlangt Aufmerksamkeit
Das Bundesgericht hielt abschliessend fest, dass gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VRV (Verkehrsregelnverordnung) der Fahrzeugführer seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden muss. Es folgert daraus, dass derjenige Automobilist, der nicht bemerkt, dass sich ein Unfall ereignet hat, es im Prinzip an der notwendigen Aufmerksamkeit fehlen lässt, die man von ihm erwarten muss.

Das oberste Gericht hat damit einen Grundsatz aufgestellt, der erneut nur wenig Handlungsspielraum lässt. Eine Fahrerflucht oder eine andere unbeabsichtigte Pflichtverletzung ist bei einem Unfall – von ganz aussergewöhnlichen Umständen einmal abgesehen – zwangsläufig fahrlässig und damit strafbar (Urteil 6B_1452/2019 vom 22. Oktober 2020 und BGE 93 IV 43). Entsprechend wies das Bundesgericht die Beschwerde von X ab und auferlegte ihm die Kosten.

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